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Echoes Of Life
Echoes Of Life ist mein zehntes Album bei der Deutschen Grammophon und reflektiert Gedanken und persönliche Erlebnisse, die mein Leben beeinflusst haben.
13 Jahre ist es her, seit ich zum Yellow Label kam. Auch wenn ich die Angewohnheit habe, mir meine eigenen Aufnahmen, nachdem das Mastertape einmal freigegeben ist, nicht mehr anzuhören – wenn ich mir alle meine bisherigen Alben vor Augen halte, erkenne ich einerseits die frühen Abdrücke meiner musikalischen Erziehung und andererseits auch meine Entwicklung zur Person und Künstlerin, als welche ich mich heute sehe.
Aufgewachsen bin ich mit einer musikalischen Ausbildung, in der das Erlernen des schier unendlichen Repertoires der klassischen Musik und die Aufrechterhaltung der traditionellen Aufführungspraxis im absoluten Vordergrund standen. Und während ich in vieler Hinsicht den strengen Perspektiven meiner Lehrer dankbar bin und auch selbst diese Werte über Jahre hinweg gehegt und gepflegt habe, so ist es auch eine Tatsache, dass nicht viel Raum für eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und den Bedürfnissen unserer gegenwärtigen Zeit geboten wurde.
Für mich ist Musik eine der intimsten, ehrlichsten und kraftvollsten Ausdrucksformen, die uns Menschen miteinander verbinden kann. Und auch wenn ich das Erbe und die Vielfältigkeit der klassischen Musik mein Leben lang wertschätzen und mit Leidenschaft weitervermitteln werde, so habe ich über ein Jahrzehnt hinweg auch miterlebt, wie die künstliche Exklusivität und die selbstverständlich gewordene Erwartungshaltung an Bildung und Etikette in der klassischen Musikszene die Spaltung zwischen Alters- und Gesellschaftsgruppen verstärkt.
Was ist also meine Rolle und Verantwortung als klassische Musikerin in der heutigen Zeit? Ein großer Teil der Werke, die ich spiele, wurde vor mehreren Jahrzehnten und Jahrhunderten komponiert, und auch wenn ich den Urtext dieser Musik nicht verändere, so habe ich die einzigartige Möglichkeit, sie in Zusammenhang mit dem Hier und Jetzt zu setzen.
Die Komponisten, deren Werke wir so verehren, haben zu ihren Lebzeiten die Musik und das System um sie herum stets hinterfragt, neu beleuchtet und ihre Grenzen verschoben. Ist es somit nicht auch unsere Aufgabe, die Musik und den Geist dieser Komponisten am Leben zu erhalten, indem wir genau dasselbe tun, anstatt darauf zu bestehen, längst vergangene Traditionen und Einschränkungen zu reproduzieren?
Wir können die Vergangenheit reflektieren – wir tragen sie sogar mit und in uns – aber wir können sie nicht wiederherstellen. Unsere Fähigkeit zu sehen, zu denken und zu empfinden ist an die Gegenwart gebunden. Aufgrund der Geschwindigkeit der Kommunikation und des Konsums leben wir in einem Zeitalter, in dem sich unsere gesellschaftlichen Werte, Wahrnehmungen und Erwartungen immer wieder verändern und neu definieren. Als Konsequenz sind wir ständig der Gefahr der Zersplitterung und Isolation ausgesetzt. Musik stärkt unseren Zusammenhalt, fördert unser gesellschaftliches Bewusstsein und sie kann nur in Gemeinschaft existieren. Wir dürfen uns selbst keine Grenzen setzen in der Art, in der wir uns mit ihr identifizieren und durch sie kommunizieren wollen.
Während bis zum 19. Jahrhundert das Prélude als Vorspiel und Einleitung zu einem Hauptwerk galt, schuf Frédéric Chopin mit seinen Préludes op. 28 individuelle Charakterstücke. Eine Sammlung von 24 Stücken, die verschiedener und extremer kaum sein könnten, jedoch zusammen ein komplexes Gesamtwerk bilden. Für mich sind sie eine Widerspiegelung unseres Lebens. Besteht nicht auch unser Leben aus lauter Préludes, aus vielen verschiedenen Momenten, die alle miteinander verbunden sind? Solange wir leben, führt ein Schritt zum nächsten. Manchmal gehen wir schneller, manchmal langsamer, mal laufen wir im Kreis und ein anderes Mal landen wir in einer Sackgasse und müssen umkehren. Das Ende eines Kapitels ist immer der Anfang des nächsten. Und wie das Leben so ist, stoßen wir auf unserem Weg auf unerwartete Momente, kommen mal ins Stolpern und manchmal finden wir uns auf einem anderen Pfad wieder.
Für dieses Album habe ich sieben zeitgenössische Kompositionen ausgewählt, die ich hier mit den Préludes in Zusammenhang setze. Sie verkörpern Erlebnisse und Gedanken, welche mich auf meinem bisherigen Weg geprägt und verändert haben. Als ich anfing mit dieser Idee zu experimentieren, ahnte ich noch nicht, was dieses Projekt für mich emotional darstellen und musikalisch offenbaren würde. Ich erinnere mich daran, wie ich mir zum ersten Mal alles hintereinander anhörte und mir bewusst wurde, wie die zeitgenössischen Kompositionen bestätigen, dass Chopin mit seinen Préludes ein Werk geschaffen hatte, das modern, provokativ und zeitlos war.
Wir verändern uns mit der Zeit und mit den wandelnden Herausforderungen unserer Gesellschaft und Umwelt. Und mit uns verändern sich unsere Gedanken und Erinnerungen. Diese Verschiebungen unserer Wahrnehmung begleiten uns von der Vergangenheit in die Gegenwart und von der Gegenwart in die Zukunft – neue Formen und Bedeutungen klingen in uns weiter – als wären sie Echos unseres Lebens.
Alice Sara Ott
Echoes Of Life
Echoes Of Life is my tenth album with Deutsche Grammophon and it reflects on the thoughts and personal moments that continue to influence my life.
It has been 13 years since I joined the Yellow Label and although I don’t listen to my own recordings once the master is finalized, when I look at my previous albums I see not only the early fingerprints of my musical upbringing, but also the journey and transformation I took to become the person and artist I see myself as today.
I grew up with a music education in which the highest priority was given to the studying of the vast heritage of classical music and the upholding of traditional performance practices. And, while being grateful in many ways for the strict discipline my teachers gave me, and despite treasuring the same values for many years, I notice that there was little space or encouragement for exploring classical music in the context of our time.
To me, music is one of the most intimate, honest and powerful forms of expression that can be shared between human beings. And, while I will always appreciate and have passion for the legacy and richness of classical music, I have witnessed how the expectation for a certain education and decorum creates artificial exclusivity and exclusion and separates us according to age and class.
So what is my role and responsibility as a classical musician today? A major part of the repertoire I play was written many decades and centuries ago, and, although I do not change the original score, I interpret it and have the unique opportunity to contextualize this music in the here and now.
When I reflect upon the composers whose music we value so highly, they have always challenged, redefined and pushed the boundaries of music itself and everything that surrounds it. Why shouldn’t we do the same thing? Why not carry their music and their spirit forward instead of insisting upon, or reproducing, bygone traditions and limitations?
We can reflect on the past – we even carry it with us – but we cannot recreate it, because our ability to see, think and experience is also tied to the present. Due to the speed with which we communicate and consume, we now live in an age in which we find ourselves redefining our social values, perceptions and demands all of the time. As a consequence, we are exposed to the constant danger of fragmentation and isolation. Music strengthens our solidarity and encourages social consciousness and inclusivity, and it can only exist in community. We must not limit ourselves in how we choose to identify and connect with it.
While until the nineteenth century a Prélude represented a prologue or introduction preceding the main work, Frederic Chopin established with his Préludes op. 28 a collection of 24 individual character pieces. They are very different from each other and yet together they form a complex oeuvre. To me, they reflect life, which feels built on a series of preludes: a collection of moments, all connected in some way. One step leads to the next – at times we walk faster, sometimes slower, other times in a circle and there are times we face a dead end and have to turn around. The end of one chapter is always the beginning of another. And, as life sometimes is, we come across unforeseen obstacles, we stumble and we may find ourselves on a new, unknown path.
For this album, I selected seven contemporary compositions, and in combination with Chopin’s Préludes they embody personal experiences and thoughts that have guided and shaped my life thus far. When I first experimented with this idea, I didn‘t anticipate what this would come to mean to me emotionally, and reveal to me musically. I recall the moment when I heard the entire compilation for the first time and realized that the contemporary works confirm how Chopin’s Préludes are modern, provocative and timeless.
We change over time and with the constant challenges we face with our society and environment. Our ways of thinking and our memories change, too. These shifts in perception accompany us from the past to the present and from the present to the future – new shapes and meanings continue to resonate within us – as if they were echoes of our lives.
Alice Sara Ott