Alisa Weilerstein hörte in ihren frühen Jugendjahren zum ersten Mal, wie ein anderer Schüler Kodálys Sonate für Cello solo spielte. “Ich dachte: Ich muss mich sofort an dieses Stück machen — was für eine Herausforderung! Es gibt einfach nichts Vergleichbares. Es zerriss jede Schranke und veränderte die Möglichkeiten des Instruments.“ Die junge Amerikanerin gehört zu den wenigen Virtuosen, die in allem schwelgen können, ganz gleich, was ein Komponist ihnen hinwirft — wie in dieser lebendigen, pulsierenden Darbietung zu hören ist. Es ist ihre erste Soloaufnahme und sie hat sich für ein originelles, typisch zukunftsweisendes Programm entschieden, welches im frühen 20. Jahrhundert beginnt und die Zuhörer mit Bright Shengs Seven Tunes Heard in China (“Sieben chinesische Weisen”) zum Vorabend des 21. Jahrhunderts geleitet.
“Bach hat mit seinen Suiten für Violoncello solo den Fehdehandschuh geworfen, und dann gab es eine merkwürdige, 200-jährige Lücke, in der nur wenige Cellisten sie aufnahmen”, erklärt Weilerstein. “Wir Cellisten hatten zu dieser Zeit keinen Paganini, der die technischen Grenzen des Instruments dehnte. Aber dann tauchte zur Jahrhundertwende Pablo Casals und — unabhängig davon — Zoltán Kodály mit seiner Sonate für Cello solo und dem Duo für Violine und Cello auf. Und da beginnt die außerordentliche Blütezeit des 20. Jahrhunderts — eine wahrhaft überreiche Auswahl.”
Weilersteins Programm zeichnet sich durch kompromisslose Stringenz aus. Es beginnt mit Kodálys Solosonate, dem Olymp für Cellisten, und fährt mit Osvaldo Golijovs lyrischem Omaramor fort, bei dem, ebenso wie in Kodálys Stück, die tiefste Saite des Cellos zu H gestimmt wird, um zusätzliche Tiefe und Resonanz zu erhalten. Als Nächstes wartet Weilerstein mit Gaspar Cassadós spanisch geprägter Suite für Cello solo auf, welches Kodálys Sonate zitiert und von ihr inspiriert ist. Von Volkstänzen aus Spanien geht die Reise über China, die Mongolei und Tibet und endet mit Bright Shengs glitzernder Abfolge wohlklingender Miniaturen, Seven Tunes Heard in China.
Der Motor des ganzen Projektes ist Weilersteins Leidenschaft für diese Werke, und ihre Freude ist greifbar: “Ich wollte ein paar meiner Lieblingsstücke aufnehmen, und jedes einzelne hat ein volkstümliches, ein fantastisches und ein meditatives Element. Eine CD mit Solostücken aufzunehmen, war eine enorm befriedigende, wenngleich furchterregende Erfahrung. Ich merke, dass das Publikum bei diesem Repertoire sehr reaktiv ist, da es auch visuell, nicht nur auditiv, dramatisch zugeht, wenn ich jede verfügbare Spieltechnik einsetze, das Instrument voll ausnutze.”
Kodálys Sonate für Cello solo entstand während des Ersten Weltkriegs und atmet die Angst dieser Zeit. Die beiden tiefsten Cellosaiten werden jeweils um einen Halbton tiefer, zu H und Ges, gestimmt (scordatura), was eine ungewöhnliche Klangfülle erzeugt, sowie eine komplexe Kontrapunktierung und eine reiche Mehrstimmigkeit ermöglicht, wie in den majestätischen Eröffnungsakkorden zu hören ist. “Der erste Satz ist gebieterisch, pomphaft und heroisch. Im zweiten war Kodály extrem innovativ und hat Techniken aus der Zigeunermusik auf das Cello übertragen. An manchen Stellen halte ich einen Bordun aus und zupfe mit der linken Hand eine ‘Begleitung’. Ich stelle mir vor, wie jemand auf der Balalaika oder der Gitarre mit summt. Da ist die Musik dann nach innen gekehrt, improvisatorisch und hat einen wilden Con moto-Teil. Im Finale muss ich zu einem Ein-Mann-Orchester werden! Ich umspanne fünf Oktaven, ich muss so hoch spielen, dass sich das Cello wie eine Geige anhört und währenddessen klopfe und tanze und harmonisiere ich die Musik. Es kostet sehr viel Energie, das Ganze aufrechtzuerhalten, aber das Spielen macht großen Spaß.“
Osvaldo Golijov ist eine einzigartige Stimme in der zeitgenössischen Musik, der sich seines jüdischen und argentinischen Erbes bedient. Er beschreibt Omaramor als eine lange “Suche” für Cello solo, die von dem legendären argentinischen Tangosänger Carlos Gardel inspiriert wurde, der 1935 bei einem Flugzeugabsturz starb. Seine Lieder leben in den Herzen der Einwohner von Buenos Aires weiter, die erzählen, dass er “besser singt als gestern und morgen besser singen wird als heute“. Einer seiner Evergreens heißt “My Beloved Buenos Aires” — “Geliebtes Buenos 7Aires”. Der Cellist macht mittels der Harmoniefolge einen Spaziergang durch Erinnerungen, als wären die Akkorde die Straßen von Buenos Aires. Inmitten dieser Wanderung entspinnt sich die Melodie von Gardels Lied.
Der begabte Katalane Gaspar Cassadó war ein Schüler Casals, der mit der Zeit eine Menge guter Musikstücke schrieb. Der rhapsodische Eröffnungssatz seiner Suite für Cello solo ist deutlich Kodály geschuldet, wenngleich in den Zierelementen und dem inneren Wesen schon bald ein grundlegender iberischer Tonfall wahrzunehmen ist. Es folgt eine prächtig harmonisierte Sardana, ein katalanischer Kreistanz, für die das Cello ein Akkordeon imitiert, indem eine lebhafte Tanzweise mit Bordunen unterlegt wird. Ein seelenvolles Selbstgespräch (das Intermezzo) leitet einen Trippel/Stolpertanz ein, der mit gitarrengleichen Akkorden und ausdrucks-starken Wirbeln durchsetzt ist, bis die feurige Jota Schwung und Wirbel am Ende des Werkes versammelt.
Bright Sheng, Jahrgang 1955, wurde als Jugendlicher während der berüchtigten Kulturrevolution in eine Provinz an der tibetischen Grenze geschickt. Dort begann er eine lebenslange Erforschung heimischer Folkloremusik. Diese reiche Quelle hat die Musik des inzwischen angesehenen, in Amerika lebenden Komponisten und Dirigenten entscheidend geprägt. Seven Tunes Heard in China (1995) bedient sich einer großen Bandbreite traditioneller volkstümlicher Musik aus einem riesigen Gebiet: von Yunnan bis nach Tibet, von der Mongolei bis nach Taiwan. Das Stück wurde für Yo-Yo Ma geschrieben.
Seasons (“Jahreszeiten”) ist ein Frühlingslied aus der nordwestlichen Provinz Qinghai an der Grenze zu Tibet. Seine unvergleichliche Würze entspringt den pentatonischen wohlklingenden Schnörkeln voller subtiler, hängender Glissandi, die an die zweisaitige, mit einem Bogen gespielte Kniegeige Banhu erinnern.
Guessing Song (“Rätsellied”, aus Yunnan) ist ein verspieltes, erotisches Rätsellied. Das kräftige, raue Prasseln der Doppelgriffe löst sich zum Ende hin in hohe fragende Obertöne auf.
Das rührende Klagelied Little Cabbage (“Kleiner Kohl”, aus Hebei) wird mit Dämpfer sehr weit oben am Instrument gespielt, wobei der Interpret tastend seinen Weg entlang der zerbrechlichen Melodie suchen muss.
In dem komischen Stück The Drunken Fisherman (“Der betrunkene Fischer”), das auf einer klassischen Melodie basiert, die ursprünglich für Qin, eine siebensaitige Griffbrettzither geschrieben wurde und das den schwankenden Gang eines torkelnden Betrunkenen heraufbeschwört, muss der Cellist zum Zupfen der Saiten ein Gitarrenplektrum und den Daumen, dann schließlich, für einen zarteren Klang, den Fingernagel benutzen. Bemerkenswert ist die scharfe Attacke des Plektrums und das hängende Bending der Töne, welches der Qin nachempfunden ist.
Diu Diu Dong (Taiwan) ist eine einfallsreiche Nachschöpfung einer Zugfahrt, wobei gespenstische Obertöne durch einen Pizzicato-Rhythmus untermalt werden. Die kurze Weise gewinnt an Kraft, knarrt immer schneller an den Notenlinien entlang und endet schließlich in Wolken wogenden Dampfes, einem Pfiff und einem finalen Zischen des Interpreten.
Die warme, gefühlvolle Melodie der Pastoral Ballade (“Ländliche Ballade” aus der Mongolei) besitzt einen melancholischen Sog und durchläuft eine dunkle Mittelpartie mit etwas kantigerem Charakter, bevor sie zu ihrer anfänglichen Heiterkeit zurückfindet.
Im letzten Stück, dem Tibetan Dance (“Tibetanischer Tanz”, der auf einem populären Volkstanz aus Tibet basiert), klopft der Cellist auf die obere Cellodecke, um einen Trommelrhythmus zu erzeugen, was das derbe, ausgelassene Moto perpetuo des Tanzes unterstreicht.