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FERNAB DER KONVENTIONEN
»Anton Bruckner hat in seinen Symphonien immer wieder Grenzen überschritten – dies zeigt sich in Form, Harmonik und schließlich auch im spirituellen Gehalt seiner Werke. Die Erste und die Fünfte Symphonie sind in dieser Hinsicht jedoch außergewöhnlich: In ihnen setzte er sich über viele Konventionen hinweg und komponierte – aus jugendlichem Überschwang bzw. aus einer existenziellen Notsituation heraus – so kompromisslos und kühn wie in nur wenigen anderen Werken«, äußert Andris Nelsons über die beiden Symphonien dieser Veröffentlichung.
Die Entstehung der Fünften Symphonie fällt in eine Zeit größter finanzieller Not. Bruckner schrieb sie in den Jahren 1875/76, nahm bis 1878 noch Änderungen vor und klagte seinem Freund Moritz von Mayfeld gegenüber: »Alles ist zu spät. Fleißig Schulden machen und am Ende im Schuldenarreste die Früchte meines Fleißes genießen und die Torheit meines Übersiedelns nach Wien ebendort besingen, kann mein endliches Los werden.« Immerhin hatte er kurz zuvor eine (unbesoldete) Stelle als Lektor für Harmonielehre und Kontrapunkt an der Wiener Universität angetreten. Es mutet fast an, als habe er sich in der Symphonie, deren Komposition ihn höchste Kraftanstrengung kostete, des eigenen Könnens in diesen Disziplinen noch einmal vergewissern wollen. So lässt sich die starke Orientierung an historischen Vorbildern erklären, vor allem an Bach, Mozart und Beethoven. Die Technik des Kontrapunktes, die der erfahrene Organist Bruckner wie nur wenige Zeitgenossen beherrschte, trieb er in der Fünften auf die Spitze und nutzte sie, um scheinbar disparate Elemente in eine stringente symphonische Form zu bringen.
Entsprechend kühn und irritierend ist der Anfang des Werkes, für den Bruckner – einmalig in seinem symphonischen Schaffen – eine langsame Einleitung wählte. Größte Gegensätze prallen hier aufeinander: Auf einen trostlosen Streichergesang, der auf Bruckners biografische Situation verweisen mag, folgt ein Tuttiausbruch in völlig anderer Tonart, schließlich ein Choral, der noch weiter von der Grundtonart B-Dur wegführt. Erst danach beginnt der schnelle Hauptteil mit seinen drei verschiedenartigen Themenkomplexen. Die langsame Einleitung greift Bruckner zu Beginn des Finales wieder auf, nach Vorbild der Neunten Symphonie Beethovens werden hier zunächst noch einmal die vorangegangenen Sätze zitiert – eine Standortbestimmung, bevor auch dieser Satz in Gang kommt und sich Sonatensatz und eine komplexe Doppelfuge in höchster Kunstfertigkeit überlagern. Das Ganze mündet in eine alles überstrahlende Choralapotheose. Auch der zyklische Gedanke ist in der Symphonie von großer Bedeutung. So liegt den beiden Mittelsätzen – in unterschiedlicher Ausprägung – eine identische Tonfolge in d-Moll zugrunde, die auf den Beginn von Mozarts Requiem verweist. Das Überraschende, Kühne und auch Hypertrophe ist in dieser Symphonie Programm. Bruckner selbst sprach von seiner »phantastischen«, andere von der »katholischen« oder der »Choralsymphonie« – aber eigentlich verweigert sich das Werk jeder Klassifizierung.
Bruckners Schüler Franz Schalk ahnte die extremen Anforderungen, die das Werk an das zeitgenössische Publikum stellen würde. Deshalb bearbeitete er die Fünfte für die späte Uraufführung, die er 1894 in Graz dirigierte, bis zur Entstellung: Er glich die Instrumentation dem Wagner’schen Mischklang an, milderte dynamische Kontraste und kürzte allein den Finalsatz um 122 Takte! Den Schlusschoral verstärkte er um elf zusätzliche Blechbläser (die »elf Apostel«, ohne Judas) – und man kann von Glück reden, dass der bereits schwerkranke Komponist der gleichwohl erfolgreichen Aufführung nicht beiwohnen konnte.
Als »unaufführbar« galt lange auch Richard Wagners Musikdrama Tristan und Isolde. Nach Versuchen, das Werk in Rio de Janeiro und Karlsruhe herauszubringen, wurde auch die geplante Premiere in Wien nach 77 Proben abgesagt. Erst 1865 kam die »Handlung in drei Aufzügen«, die Wagner bereits 1859 abgeschlossen hatte, in München zur Uraufführung – auf Geheiß seines königlichen Gönners Ludwig II. von Bayern. Wagner überschritt mit diesem Werk nahezu alle Grenzen: In Anlehnung an die Versdichtung Tristan von Gottfried von Straßburg (13. Jahrhundert) schrieb er ein Drama über die grenzenlose Liebe zweier Menschen, ihr unendliches Sehnen und die Vereinigung im Tod. Äußerer Anlass war seine eigene nonkonforme Affäre mit der Kaufmannsgattin Mathilde Wesendonck, an die Wagner während der Entstehung schrieb: »Ich fürchte die Oper wird verboten – […] nur mittelmäßige Aufführungen können mich retten! Vollständig gute müssen die Leute verrückt machen.« Tatsächlich verlangt der Tristan allen Mitwirkenden das Äußerste ab, im Zentrum des erstaunlich handlungsarmen Werkes stehen innere Prozesse, extreme Gefühlsregungen, die auch musikalisch eine neuartige Sprache verlangten. Wagner fand diese im Einsatz einer ausgesprochen avancierten Harmonik. Sinnbildlich hierfür steht der »Tristan-Akkord«, in den der zögerliche Cello-Auftakt des Vorspiels zu Beginn mündet – eine Dissonanz, die sich nicht ohne Weiteres in eine Konsonanz auflösen lässt, damit die Grenze der Tonalität erreicht und weit in die Zukunft wirkte.
Das Vorspiel zum Ersten Aufzug und der das Werk beschließende »Liebestod« fassen das Drama quasi in nuce zusammen: Von der anfänglichen Sehnsucht über das Aufbrechen der Liebe bis hin zur höchsten Ekstase ist im Vorspiel bereits alles formuliert. Der Liebestod schließlich, in der Oper von der sterbenden Isolde bei Tristans Leichnam gesungen, bringt die Erlösung – wenn sich die ungeheure Anspannung über unzählige Modulationen und mit der Sinnlichkeit der Wagner’schen Mischklänge in der überirdischen Tonart H-Dur auflöst.
Bruckner besuchte im Juni 1865 eine der ersten Aufführungen des Tristan in München. Dabei begegnete er dem tief verehrten »Meister« erstmals persönlich und machte auch die Bekanntschaft des Dirigenten Hans von Bülow, der sich interessiert an den fertigen Sätzen seiner gerade im Entstehen begriffenen Ersten Symphonie zeigte. Mit der Komposition dieser ersten vollgültigen Symphonie hatte Bruckner lange gewartet: Als Linzer Domorganist war er längst etabliert, hatte etliche Chorwerke und eine Studiensymphonie in f-Moll geschrieben (die später »annullierte« d-Moll-Symphonie entstand erst nach der Ersten). Trotzdem nahm er weiteren Unterricht bei Simon Sechter (Kontrapunkt) und beim Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler, der ihn mit der Musik Wagners bekannt machte. All dies spielte in die Erste Symphonie hinein, deren Komposition der 40-Jährige im Januar 1865 selbstbewusst in Angriff nahm.
Die Aufbruchstimmung kennzeichnet bereits den Beginn: Die c-Moll-Symphonie hebt nicht mit dem später etablierten »Urnebel« an, sondern mit einem energischen Marschthema, das bereits auf Gustav Mahlers Sechste Symphonie vorausweist. Es folgt eine ganze Fülle weiterer Motive und Gedanken (fast zu viele für eine einzige Symphonie), wobei besonders das dritte Thema aufhorchen lässt: ein mächtiges Posaunenthema, das mit seiner Streicherumspielung direkt Bezug nimmt auf den »Pilgerchor« aus Wagners Tannhäuser. Das Adagio besticht durch schwankende Harmonik und hymnische Melodik, das Scherzo durch seinen entfesselten, Rossini-haften Drive. Bruckners damals schon ausgeprägte kontrapunktische Fähigkeiten charakterisieren das »feurige« Finale, in dem massive Blechbläser-Ballungen auf charmante Streicherpassagen treffen und sich die Harmonik letztlich nach C-Dur aufhellt.
Als »keckes Beserl« hat Bruckner seine Erste Anfang der 1890er Jahre rückblickend bezeichnet. Zu dieser Zeit arbeitete er an einer neuen Fassung der Symphonie, für die ihm Hans Richter eine Aufführung mit den Wiener Philharmonikern in Aussicht gestellt hatte. Bruckner tastete aber in dieser »Wiener Fassung« (im Gegensatz zur ursprünglichen »Linzer Fassung«) den Grundcharakter des Werkes nicht an, er änderte nur Details in Zeichnung und Klanggebung, bereitete Überleitungen schlüssiger vor und gab thematischen Entwicklungen mehr Raum. Die jugendliche Kühnheit und Keckheit scheint ihm, der hierfür die Arbeit an seiner bereits begonnenen Neunten Symphonie unterbrach, auch im hohen Alter noch imponiert zu haben.
Andris Nelsons hat sich bewusst für diese von Bruckner als letztgültig angesehene Fassung entschieden. »Das hat man ganz selten: eine Fassung, in der der altersweise Komponist auf den Beginn seines symphonischen Weges zurückblickt. Es ist faszinierend, fast schon rührend, wie Bruckner seinem symphonischen Erstling hier die Erfahrungen seines Spätwerkes zukommen lässt. Und es wundert mich, dass diese originelle Komposition, die offenbar bis zuletzt vor Bruckners selbstkritischem Auge Bestand hatte, bis heute nicht häufiger zu hören ist.«
Tobias Niederschlag
FAR REMOVED FROM CONVENTION
“Anton Bruckner continuously transcended boundaries of form, harmony and spiritual content within his works. His First and Fifth Symphonies, both reaching beyond existing conventions, are remarkable. Inspired both by youthful exuberance and by an existential plight, Bruckner composed these works as uncompromisingly and as boldly as only few other works.” So Andris Nelsons sums up the two symphonies featured in this release.
Bruckner wrote his Fifth Symphony at a time of extreme financial indigence. He wrote it in 1875–76 but continued to make changes to it between then and 1878 and in a letter to his friend Moritz von Mayfeld complained: “It’s all too late. Assiduously running up debts and ultimately enjoying the fruits of my labours in a debtor’s prison, where I can hymn the folly of my move to Vienna – this may yet be my ultimate fate.” Admittedly Bruckner had recently taken up an (unpaid) position as lecturer in harmony and counterpoint at the University of Vienna. One suspects that in writing this symphony, which cost him a great deal of effort, he was wanting to prove to himself that he still possessed the necessary abilities in these two disciplines. This would certainly explain why the work is powerfully influenced by historical models, more especially Bach, Mozart and Beethoven. As an experienced organist, Bruckner was well-nigh unique among his contemporaries in having an almost unparalleled command of contrapuntal techniques, and here we find him taking these techniques to their logical extreme and using them to accommodate apparently disparate elements within a rigorous symphonic form.
The symphony’s opening is correspondingly bold and bewildering. Uniquely in his symphonic output, Bruckner here opts for a slow introduction. It is impossible to imagine a greater clash between contrasting elements: a disconsolate string melody that may well reflect Bruckner’s own situation at this time is followed by a tutti outburst in a completely different key and finally by a chorale that is even further removed from the tonic, B flat major. Only then does the fast main section begin, bringing with it three very different thematic complexes. Bruckner harks back to this slow introduction at the start of the final movement, where he models himself on Beethoven’s Ninth by initially requoting passages from the earlier movements, laying out his stall before the finale, too, gets under way, with sonata form and a complex double fugue being overlaid with the greatest conceivable skill. The symphony as a whole culminates in the apotheosis of a radiant chorale. The cyclical idea is of great significance in the Fifth. The two middle movements are based on an identical sequence of notes in D minor which, although different in character, point to the opening of Mozart’s Requiem. An element of surprise is built into the symphony’s programme, as are the ideas of boldness and of the abnormally distended. Bruckner himself used the word “fantastical” to describe this symphony, while others have termed it his “Catholic” or his “chorale symphony”, although the truth of the matter is that it defies all attempts to classify it.
Bruckner’s pupil Franz Schalk suspected that the Fifth Symphony would prove unusually demanding for contemporary audiences, which explains why he reworked it for its first performance in Graz in 1894. But his revisions resulted in a travesty of Bruckner’s own intentions. To take only three examples, Schalk sought to realign the instrumentation with Wagner’s blended sonorities; he ironed out the dynamic contrasts; and he cut no fewer than 122 bars from the last movement. Finally he added eleven extra brass instruments to the concluding chorale (the “eleven apostles” without Judas). It was arguably a stroke of good fortune that Bruckner himself was too ill to attend the Graz performance, for all that it turned out to be a success.
For a long time Wagner’s music drama Tristan und Isolde was regarded as “unperformable”. The composer hoped that it would be premiered in Rio de Janeiro and then Karlsruhe, while a planned production in Vienna was abandoned after seventy-seven rehearsals. Not until 1865 was his “drama in three acts” finally staged in Munich, six years after Wagner had completed it. He owed its inaugural production to the intervention of his royal patron, Ludwig II of Bavaria. Here, too, Wagner explored new ground. Basing himself on the thirteenth-century verse epic by Gottfried von Strasburg, he created a drama about the boundless love between a man and a woman, about their infinite yearning and about their union in death. His most obvious reason for composing it was his own non-conformist affair with Mathilde Wesendonck, a silk merchant’s wife. While working on it, he wrote to her: “I’m afraid that the opera will be banned – […] only mediocre performances can save me! Truly good ones will drive people mad.” Tristan und Isolde does indeed place the most extreme demands on everyone involved in performing it. Central to a work in which almost nothing happens in terms of its plot are inner processes and extreme emotions that demanded a new musical language. Wagner discovered this language in his use of advanced harmonic writing that finds quintessential expression in the “Tristan” chord that comes at the end of the cellos’ hesitant opening melody at the very beginning of the Prelude. It is a dissonance that can only with difficulty be resolved as a consonance, in that way reaching the very bounds of tonality and influencing other composers far into the future.
The Prelude to Act One and the passage that ends the work – described by Wagner as “Isolde’s Transfiguration” but more popularly known as the Liebestod (Love-Death) – encapsulate the drama as a whole. The Prelude depicts the course of true love from an initial sense of longing to its impassioned outpouring, culminating in an expression of supreme ecstasy, while the Liebestod, originally sung by the dying Isolde over Tristan’s corpse, finally brings a sense of release and redemption. The tension builds inexorably through a series of modulations combined with the composer’s sensuous use of blended sonorities, culminating in an otherworldly B major.
Bruckner attended the third performance of Tristan und Isolde in Munich on 19 June 1865. The visit also provided him with an opportunity to meet not only Wagner, whom he revered above all others as the “Meister”, but also the conductor Hans von Bulow, who expressed an interest in seeing the completed movements of his First Symphony in C minor, on which he was currently working. Bruckner had waited for a long time to broach the symphony – the first to which he deigned to give a number. By the mid−1860s he was well established in his position as organist at Linz Cathedral and had already completed several choral works and a “Study Symphony” in F minor. (The D minor Symphony that later became known as his “Nullte” – No. 0 – postdates the First.) Despite this, Bruckner continued to have lessons in counterpoint with Simon Sechter and in orchestration with Otto Kitzler, the Kapellmeister at the theatre in Linz. It was Kitzler who introduced him to the music of Wagner. All of these influences found their way into Bruckner’s First Symphony, which the now forty-year-old composer began in January 1865 in a spirit of newfound confidence.
The sense of a new departure is already clear from the symphony’s opening bars, where we find not the “primeval mists” that were later to become a regular feature of Bruckner’s symphonies but a vigorous march theme that looks forward to Mahler’s Sixth. There follows a plethora of motifs and ideas – almost too many for a single symphony – but it is the third theme that proves the most arresting: a powerful trombone theme with a string accompaniment that recalls the Pilgrims’ Chorus from Wagner’s Tannhäuser. The Adagio impresses by dint of its shifting harmonies and hymn-like melodic writing, the Scherzo by virtue of its unbridled Rossinian drive. The “fiery” final movement is characterized by Bruckner’s already well-developed contrapuntal abilities. Here massive brass chords clash with delightful writing for the strings, while the harmonic argument leads ultimately to a bright C major.
Looking back on this symphony from the standpoint of the early 1890s, Bruckner described the work as a “keckes Beserl” (saucy little minx). He was currently revising the symphony in the light of Hans Richter’s promise to perform it with the Vienna Philharmonic. For this “Vienna version” Bruckner made no far-reaching changes to the work’s underlying character but merely altered a few details in terms of its draughtsmanship and tone colouring, while ensuring that the transitions were more coherent and allowing the themes more space to develop. Although he had already started work on his Ninth Symphony at this time, he interrupted this task to attend to his revisions to his First and even in old age appears to have continued to be impressed by the boldness and cheekiness of this early piece.
Andris Nelsons has chosen to record this revised version of the score, which Bruckner himself regarded as definitive. “An edition wherein the composer has examined the beginning of his symphonic journey with the wisdom of later years is very rare. The ways in which Bruckner bestowed his experiences gained from later works upon his first symphony is fascinating, even touching. It surprises me that this inventive composition, which evidently withstood the power of Bruckner’s self-critical gaze, is not performed more frequently.”
Tobias Niederschlag