Strauss aus Leipzig und Boston
»Die Partnerschaft zwischen dem Boston Symphony Orchestra und dem Gewandhausorchester ist mir ein Herzensanliegen. Ich bin außerordentlich dankbar dafür, dass sich beide Orchester mit ihrer jeweils einzigartigen Tradition und Klangkultur so engagiert auf einen gegenseitigen Austausch einlassen. Diese Verbindung, die man inzwischen als Freundschaft bezeichnen kann, ist in der Musikwelt singulär. Mit der komplementären Einspielung und Aufführung der Orchesterwerke von Richard Strauss erfüllt sich für mich ein Traum.«
Andris Nelsons
Tatsächlich ist die von Andris Nelsons initiierte Allianz, die seine Klangkörper in Boston und Leipzig seit 2018 eng miteinander verbindet, in der internationalen Orchesterlandschaft ohne Vorbild. Sie reicht vom regelmäßigen, mehrmonatigen Musikeraustausch über gemeinsame Kompositionsaufträge und eine aufeinander abgestimmte Programmgestaltung – etwa eine alljährliche Leipzig Week in Boston und eine Boston-Woche in Leipzig – hin zu gegenseitigen bzw. zusammen geplanten Gastkonzerten und Tourneeprojekten. Grundlage für den transatlantischen Austausch ist eine erstaunlich beziehungsreiche Vergangenheit, die vor allem die ersten Jahrzehnte des 1881 gegründeten Boston Symphony Orchestra (BSO) prägte. So stand das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Zweite Gewandhaus Pate für den Bau der Bostoner Symphony Hall mit ihrer phänomenalen Akustik. Etliche Musikdirektoren des BSO studierten am Leipziger Konservatorium, waren Mitglieder des Gewandhausorchesters oder standen – wie Arthur Nikisch und heute Andris Nelsons – beiden Orchestern als Chefs vor. Die Partnerschaft führt diese Verbindungslinien im 21. Jahrhundert wieder zusammen: als innovative Wiederbelebung gemeinsamer Vergangenheit.
Ein Meilenstein für die Allianz ist die Erarbeitung und Einspielung der Orchesterwerke von Richard Strauss – eine gemeinschaftlich konzipierte Werkschau, die neben den Tondichtungen auch konzertante Werke und orchestrale Opernausschnitte umfasst. »Die Musik von Strauss bietet eine Fülle an Stimmungen und Klangfarben, ist voller Emotionalität, orchestraler Brillanz und oft auch humorvoll«, meint Andris Nelsons. »Beide Orchester können hier ihre ganz eigenen Qualitäten einbringen, denn sie verfügen über eine jeweils einzigartige Tradition und fantastische Klangkultur. Ihre besonderen Qualitäten wurzeln im unterschiedlichen Verlauf ihrer langen und reichen Geschichte. Die Transparenz des Gewandhausorchesters lässt sich beispielsweise auf Bach und Mendelssohn zurückführen, während sie beim BSO stark aus französischen Einflüssen resultiert.« Den Auftakt zu dieser universalen Strauss-Unternehmung, die den Komponisten aus zwei historisch gewachsenen Perspektiven beleuchtet, machte ein Gastspiel des Gewandhausorchesters in Boston im November 2019, bei dem beide Orchester in einem vereinten Klangapparat das Festliche Präludium aufführten. Diese einzige gemeinsame Aufnahme des Zyklus (mit dem Organisten Olivier Latry) bildet das Herzstück des außergewöhnlichen Projektes.
Richard Strauss, nicht nur ein führender Komponist, sondern auch Dirigent seiner Epoche, unterhielt zu beiden Orchestern persönliche Kontakte. Zwar stand seine Musik in der historischen Entwicklung der Klangkörper nicht im Zentrum – dennoch haben die Orchester in Boston und Leipzig mit Strauss-Aufführungen und -Einspielungen in der Vergangenheit immer wieder Maßstäbe gesetzt.
Am Pult des Bostoner Orchesters, das im 20. Jahrhundert eine französisch-russische Prägung erhielt und das Orchesterrepertoire durch zahlreiche Uraufführungen der Klassischen Moderne bereicherte, stand Strauss nur ein einziges Mal: in einem Pension Fund Concert am 19. April 1904, das im Rahmen seiner ersten ausgedehnten Nordamerika-Tournee stattfand. Neben Werken von Beethoven und Wagner dirigierte er in Boston auch eigene Kompositionen: Don Juan, Don Quixote und die orchestrale »Liebesszene« aus der Oper Feuersnot. Begeistert berichtete er in die Heimat: »Das Boston-Orchester ist wundervoll, Klang, Technik von einer Vollendung, wie ich’s kaum je getroffen.« Bereits 1888 hatte Wilhelm Gericke, der zweite Music Director des BSO, mit Aus Italien erstmals ein Werk von Strauss in Boston vorgestellt. Später waren es Pierre Monteux und schließlich vor allem Erich Leinsdorf und Seiji Ozawa, die dem Strauss’schen OEuvre in ihren Bostoner Programmen besonderen Stellenwert einräumten und hierbei auch die Opern – auszugsweise oder komplett – mit einbezogen. In der langen Amtszeit von Seiji Ozawa (1973–2002) entstanden auf diese Weise berühmte Aufnahmen einzelner Tondichtungen (Also sprach Zarathustra, Ein Heldenleben) wie auch eine Gesamteinspielung der Oper Elektra (alle für Philips Classics).
Etwas schwieriger gestaltete sich für Strauss der Weg ans Pult des 1781 gegründeten Gewandhausorchesters, das mit seinen Hausgöttern Mendelssohn, Schumann, Brahms und Bruckner bereits eine singuläre Konzerttradition besaß. So arbeitete Strauss in Leipzig zunächst vorrangig mit Konkurrenzorchestern, bevor sich ihm die Pforten des Gewandhauses öffneten. Gleichwohl ist auch die Strauss-Historie des Gewandhausorchesters beachtlich: 1887 debütierte der 23-Jährige mit seiner f-Moll-Symphonie am Gewandhauspult, wenig später fand er in Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch einen glühenden Fürsprecher, der seine Werke regelmäßig aufs Programm setzte, Strauss 1907 zum ersten regulären Gastdirigenten des Orchesters berief und in seiner vorletzten Saison 1920/21 alle neun Tondichtungen von Strauss zyklisch aufführte. Im Leipziger Neuen Theater spielte das Gewandhausorchester häufig unmittelbar nach den Dresdner Uraufführungen viele der Strauss’schen Opernpartituren, ab 1915 leitete Strauss hier persönlich Aufführungen von Salome, Elektra oder – bei seinem letzten Leipzig-Besuch 1934 – Arabella. Auch eine Strauss-Uraufführung findet sich in den Annalen der Gewandhaus-Geschichte: 1932 hob Gewandhauskapellmeister Bruno Walter die Orchestersuite aus dem Ballett Schlagobers im Zweiten Gewandhaus aus der Taufe. Ein Jahr später musste er Leipzig aufgrund seiner jüdischen Herkunft verlassen, noch im gleichen Jahr wurde Strauss Präsident der NS-Reichsmusikkammer – ein Schritt, der seiner Biografie bis heute als Makel anhaftet.
Insgesamt stand Strauss bei fünf Konzerten und acht Opernaufführungen am Pult des Gewandhausorchesters. An die zyklische Aufführung der Strauss-Orchesterwerke durch Arthur Nikisch (der in Boston nur erstaunlich wenige Werke des Komponisten ansetzte) knüpften später die Gewandhauskapellmeister Kurt Masur und Riccardo Chailly mit vergleichbaren Werkschauen an. Vor allem Masur realisierte in seiner bedeutenden und politisch bewegten Amtszeit (1970–1996) einige Strauss-Referenzaufnahmen, allen voran die Vier letzten Lieder und eine Gesamtaufnahme der Ariadne auf Naxos, beide mit Jessye Norman (Philips Classics).
Diese historischen Bezüge spielten auch bei der Verteilung des Repertoires auf die beiden Orchester eine Rolle. Andris Nelsons: »Die Aufnahme des Don Quixote mit den Bostoner Musikern und dem unvergleichlichen Yo-Yo Ma ist eine Reverenz an Strauss’ eigene Aufführung des Werkes in Boston, ebenso wie die ›Liebesszene‹ aus der Oper Feuersnot. Die Symphonia Domestica wiederum hat Strauss 1904 im Rahmen seiner USA-Tournee in New York zur Uraufführung gebracht. Bei den Leipziger Aufnahmen beziehen sich ›Salomes Tanz‹ und die Rosenkavalier-Suite auf die Operntradition des Gewandhausorchesters, die Burleske, für die Yuja Wang eine Idealbesetzung darstellt, auf den jugendlichen Überschwang des jungen Strauss, der in Leipzig erst noch Fuß fassen musste, und der Schlagoberswalzer auf die Leipziger Uraufführung der Orchestersuite.« Auch die späten Metamorphosen wurden mit den Streichern des Gewandhausorchesters eingespielt – die darin ausgedrückte Trauer über den Untergang einer ganzen Kulturepoche, die sich für Strauss am Ende des Zweiten Weltkrieges in der Zerstörung vieler bedeutender Kulturstätten offenbarte, schloss auch den zweiten Gewandhaus-Bau ein. Hier hatte noch 1940 eine frühe Aufnahme des Gewandhausorchesters stattgefunden, die des Festlichen Präludiums unter der Leitung von Gewandhauskapellmeister Hermann Abendroth – und damit jenes Werkes, mit dem rund achtzig Jahre später und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Boston und Leipzig zwischenzeitlich unerreichbar voneinander trennte, der Startschuss für dieses einzigartige Allianzprojekt fiel.
Tobias Niederschlag
Strauss from Leipzig and Boston
“The alliance between the Boston Symphony and the Gewandhausorchester is a matter very dear to my heart. I am immensely grateful to both institutions, each embodying its own unique tradition and sound world, for their passionate commitment to this exchange. This partnership and friendship is a singular occurrence in the world of music, and the recording and performance of orchestral works by Richard Strauss represent a dream come true for me.”
Andris Nelsons
The alliance initiated by Andris Nelsons in 2018 with the aim of forging a closer bond between his two orchestras in Boston and Leipzig is indeed unprecedented on the international orchestral scene. It extends from a regular exchange of musicians to joint commissions and coordinated programming, notably in the form of an annual Leipzig Week in Boston and a Boston Week in Leipzig, as well as guest concerts and touring projects, which are planned in consultation with each other. This transatlantic exchange has its roots in their remarkable pasts, during which time the relations between the two orchestras have been intimately interwoven, more especially during the early decades of the Boston Symphony Orchestra following its foundation in 1881. To take only two examples among many: the second Gewandhaus, which was destroyed in the Second World War, was the inspiration behind Boston’s Symphony Hall and its phenomenal acoustics, while a number of the Boston Symphony Orchestra’s music directors either studied at the Leipzig Conservatory, were members of the Gewandhausorchester or, like Arthur Nikisch in the past and Andris Nelsons today, were principal conductors of both orchestras. Andris Nelsons’s alliance project re-establishes these links in the 21st century, reviving a shared past in innovative and exciting ways.
A milestone in the history of this alliance is the performance and recording of orchestral music by Richard Strauss, a survey of his works conceived as a joint project and encompassing the tone poems as well as concertante pieces and orchestral selections from his operas. “Strauss’s music is a kaleidoscope of moods and tone colours filled with emotionality, with orchestral brilliance, and oftentimes with humour,” notes Nelsons. “Both orchestras possess a unique and beautiful sound tradition that they bring to this repertoire. Their distinct qualities are rooted in their individual long and rich histories. The transparency of the Gewandhausorchester, for example, can be traced to the influence of Bach and Mendelssohn, whereas the Boston Symphony Orchestra’s stems from its strong French influences.” This transatlantic venture throws light on Strauss from two historical perspectives and began with the Gewandhausorchester’s guest appearances in Boston in November 2019, when both orchestras joined forces to perform the Festliches Präludium. The only joint recording in this cycle, it was made with the organist Olivier Latry and forms the centrepiece of this altogether exceptional project.
Strauss was not only a leading composer, he was also one of the foremost conductors of his day and maintained personal contacts with both orchestras. True, his music was never a part of their core repertory during their historical development, and yet they both repeatedly set new standards with Strauss performances and recordings in both Boston and Leipzig.
In the 20th century the Boston Symphony Orchestra was marked by Franco-Russian influence, while at the same time enriching the orchestral repertory with numerous world premieres of works from the early part of the century. Strauss conducted the orchestra only once, when he appeared at a Pension Fund Concert on 19 April 1904 that was part of his first extended tour of North America. His Boston programme featured works by Beethoven and Wagner as well as three of his own compositions: Don Juan, Don Quixote and the Love Scene from his opera Feuersnot. He wrote home enthusiastically: “The Boston orchestra is wonderful, its sound and its technique attesting to a perfection that I’ve rarely encountered.” The Boston Symphony Orchestra’s second music director, Wilhelm Gericke, was the first to conduct one of Strauss’s works in the city, when he led a performance of Aus Italien in 1888. Later it was Pierre Monteux and above all Erich Leinsdorf and Seiji Ozawa who privileged Strauss’s works in their Boston programmes and who even conducted his operas, either in part or in their entirety. Seiji Ozawa’s lengthy tenure from 1973 to 2002 produced notable recordings of Also sprach Zarathustra and Ein Heldenleben and a complete recording of Elektra, all of which were released on the Philips Classics label.
Strauss’s route to the podium of the Gewandhausorchester proved rather more tortuous. The orchestra had been founded in 1781 and among its household gods were Mendelssohn, Schumann, Brahms and Bruckner in particular, resulting in a unique concert tradition. In turn this meant that during his early career Strauss worked mainly with rival orchestras in Leipzig before the doors of the Gewandhaus were opened to him in 1887, when the then twenty-three-year-old composer made his Gewandhaus debut with his F minor Symphony, ushering in a remarkable period in the orchestra’s history and in its cultivation of his music. Shortly afterwards Arthur Nikisch emerged as one of Strauss’s most ardent champions, regularly programming his works, appointing Strauss the orchestra’s first regular guest conductor in 1907 and organizing a cycle of all nine of Strauss’s tone poems during his penultimate season in 1920/21. At the Leipzig Neues Theater, meanwhile, the Gewandhausorchester performed many of Strauss’s operas, often immediately after their Dresden premieres. Starting in 1915, Strauss himself conducted performances of Salome, Elektra and – during his final visit to Leipzig in 1934 – Arabella. The annals of the Gewandhausorchester also feature a world premiere – in 1932 the orchestra’s principal conductor Bruno Walter conducted the first performance of the orchestral suite from Strauss’s ballet Schlagobers in the second of the Gewandhaus concert halls. The following year Walter was driven from Leipzig on account of his Jewish heritage, while Strauss accepted the presidency of the National Socialists’ Reichsmusikkammer, a step that continues to constitute a blot on his life.
In total Strauss conducted five concerts and eight opera performances with the Gewandhausorchester. Apart from Nikisch, who conducted surprisingly few of Strauss’s works in Boston, two later Gewandhauskapellmeister have programmed comparable surveys of Strauss’s output: Kurt Masur and Riccardo Chailly. Masur in particular made a number of benchmark Strauss recordings during his long and politically turbulent tenure from 1970 to 1996: among them, pride of place goes to the Four Last Songs and a complete recording of Ariadne auf Naxos, both with Jessye Norman and both released by Philips Classics.
These historical facts also played a role when the present repertory was divided up between the two orchestras. As Andris Nelsons has observed, “The recordings of Don Quixote with the Boston musicians and the incomparable Yo-Yo Ma and of the Love Scene from Feuersnot pay homage to Strauss’s own performances of the pieces in Boston. Symphonia Domestica was premiered by Strauss in New York during his tour of the United States in 1904. The Gewandhausorchester’s recordings of Salome’s Dance of the Seven Veils and the Rosenkavalier Suite celebrate the orchestra’s opera tradition; Burleske, brilliantly performed by Yuja Wang, expresses the youthful exuberance of a young Strauss, who was still to establish himself in Leipzig’s music scene; while the Schlagobers orchestral suite, including the Schlagoberswalzer, was given its premiere performance in Leipzig.” The late Metamorphosen was recorded with the Gewandhaus strings: this is a piece that expresses a sense of grief at the disappearance of an entire culture, which for Strauss was manifest in the destruction of many important places of cultural interest at the end of the Second World War. Among these places was the second Gewandhaus, where in 1940 the Gewandhausorchester made an early recording of the Festliches Präludium under its principal conductor Hermann Abendroth – the very work with which the present unique alliance project was launched some eighty years later. The intervening years had famously seen the fall of the Berlin Wall, a wall that for a time had kept Boston and Leipzig apart and inaccessible to each other.
Tobias Niederschlag