EIN ETWAS ANDERES KONZERT
Ihre Karriere begann am 11. Dezember 1976. An diesem Tag präsentierte sich die 13-jährige Nachwuchsgeigerin Anne-Sophie Mutter aus Wehr im Schwarzwald dem großen Herbert von Karajan mit der berühmten Chaconne von Johann Sebastian Bach. Normalerweise unterbrach der Maestro die Nachwuchskünstler, die ihm vorspielten, nach wenigen Minuten, doch bei Anne-Sophie machte er eine Ausnahme und hörte sich das Stück bis zum Ende an. Anschließend spielte sie noch zwei Sätze aus Violinkonzerten von Mozart. Jetzt war Karajan restlos begeistert: »Ich habe da gerade eine junge Geigerin entdeckt, die für uns alle ein Wunder ist.«
Der Rest ist Geschichte. Karajan lädt sie direkt fürs Folgejahr zu den Salzburger Festspielen ein, wo sie mit ihrer ebenso berührenden wie technisch brillanten Interpretation von Mozarts G-Dur-Konzert das eigentlich eher distinguierte Salzburger Publikum zum Toben bringt. Fortan reißen sich die Toporchester um das hochbegabte Mädchen aus dem Schwarzwald, und in den nächsten vier Jahrzehnten reist Anne-Sophie Mutter rund um den Erdball, im Gepäck die großen Violinkonzerte von Beethoven, Brahms und Co., daneben zeitgenössische Kompositionen und ausgewählte Kammermusikwerke.
Das Vorspiel bei Herbert von Karajan ist mittlerweile 47 Jahre her, im Juni 2023 feierte Anne-Sophie Mutter ihren 60. Geburtstag. Viele Künstler ihres Ranges würden aus diesem Anlass vielleicht ein Album mit großem Orchester aufnehmen und eines der berühmten romantischen Violinkonzerte aufs Programm setzen. Anne-Sophie Mutter hat sich anders entschieden: Sie gab mit ihrem eigenen Ensemble, Mutter’s Virtuosi, ein Konzert im traditionsreichen Saal des Wiener Musikvereins, und der Mitschnitt dieses Abends bildete die Basis für das vorliegende Album.
Die Virtuosi sind ein Streichorchester aus hochtalentierten Nachwuchsmusikern, die sich überwiegend aus ehemaligen und aktuellen Stipendiaten der Anne-Sophie Mutter Stiftung rekrutieren. Die Förderung des musikalischen Nachwuchses liegt Anne-Sophie Mutter sehr am Herzen, sie weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, dass Spitzentalente Unterstützung erfahren. Deshalb gründete sie 1997 den »Freundeskreis der Anne-Sophie Mutter Stiftung e.V.«, dem 2008 die »Anne-Sophie Mutter Stiftung« zur Seite gestellt wurde. Diese kümmert sich um die Bereitstellung von Instrumenten, verschafft Kontakte zu Solisten und deren Meisterkursen, vermittelt Vorspieltermine bei Dirigenten und vergibt Kompositionsaufträge für neue Werke.
Mutter’s Virtuosi sind somit de facto das Orchester der Stiftung, das naturgemäß sehr international und divers zusammengesetzt ist und sich regelmäßig runderneuert. Seit seiner Gründung 2011 hat es etliche erfolgreiche Tourneen im In- und Ausland absolviert, und sein kammermusikalischer Zuschnitt eignet sich besonders für Stücke aus dem Barock und der Wiener Klassik. Auf dem Programm des Konzerts in Wien standen denn auch Vivaldis Konzert für drei Violinen in F-Dur sowie Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 3. Für sich selbst als Solistin wählte Anne-Sophie Mutter Bachs a-Moll-Konzert sowie als Überraschung ein hochvirtuoses Violinkonzert des Mozart-Zeitgenossen Joseph Bologne. »Ich finde ihn als Komponisten wahnsinnig interessant und vielschichtig«, erzählt Anne-Sophie Mutter, »das erfährt man auch aus den wenigen Biografien, die es über ihn gibt.« Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, war der Sohn einer karibischen Sklavin und eines französischen Aristokraten. Er wuchs in Adelskreisen in Paris auf und wurde als Geiger, Dirigent und Komponist ausgebildet, später bewarb er sich um die Leitung der Pariser Oper, wurde aber seiner Hautfarbe wegen abgelehnt. »Bolognes Violinkonzerte sind innovativ und sehr virtuos. Sie verlangen dem Solisten einiges ab«, erzählt Anne-Sophie Mutter. »Sein OEuvre und seine Lebensgeschichte sollten uns doppelt dazu motivieren, diesen wunderbaren Komponisten sehr viel mehr in den Mittelpunkt der Programme zu rücken.«
Neben all den Violinkonzerten aus dem 18. Jahrhundert sollte das Programm auch ein weiteres Anliegen von Anne-Sophie Mutter abbilden: das Repertoire für Geige und Streicher kontinuierlich zu erweitern. Dafür steht das von ihr für die Virtuosi in Auftrag gegebene Nonett von André Previn, das zwei Streichquartette mit dem Kontrabass in der Mitte vereint. »Dieser Surroundsound, der durch die Gegenüberstellung der beiden Streichquartette mit dem Bass als Soloinstrument erzielt wird, ist wirklich sagenhaft«, schwärmt die Geigerin. »Den Anstoß dazu gab der große Kontrabassist Roman Patkoló«, erklärt sie. »André war von seinem Spiel so fasziniert, dass er für ihn diese tolle Kadenz schrieb; insofern hat Roman die Entstehung des Werks entscheidend beeinflusst.«
Über André Previn kam Anne-Sophie Mutter auch in Kontakt mit dem berühmten Filmkomponisten John Williams. »Ich war schon immer ein großer Bewunderer seiner Musik und habe ihn vor etwa zehn Jahren in Tanglewood kennengelernt«, erzählt sie. Bei dieser Begegnung fragte sie bei ihm an, ob er ein Stück für sie schreiben könnte, doch Williams war zu beschäftigt. Erst als die Geigerin ihm zu Weihnachten Lebkuchen schickte, wurde der Komponist aktiv und widmete ihr Markings, das Mutter 2017 in den USA zur Uraufführung brachte. Williams schrieb auch einige seiner schönsten Filmmelodien für Mutter um, die sie gemeinsam in Los Angeles aufgenommen und später mit den Wiener Philharmonikern auch live gespielt haben. 2021 folgte das Anne-Sophie Mutter gewidmete Zweite Violinkonzert, und beim Konzert der Virtuosi erklangen als Zugaben auch neue, eigens für die Virtuosi umgearbeitete Arrangements von Themen aus Cinderella Liberty und Schindler’s List, zwei berührende Stücke voller Wärme und Melancholie.
Als weitere Zugabe spielten die Stargeigerin und ihr junges Orchester für das begeisterte Publikum in Wien den virtuosen Presto-Satz des »Sommers« aus Vivaldis Vier Jahreszeiten, der auf geniale Weise die Urgewalt eines Gewitters musikalisch nachzeichnet. Und somit erweist sich Anne-Sophie Mutter auch auf diesem Album als eine der vielseitigsten Künstlerinnen der internationalen Klassikszene. Souverän bewegt sie sich zwischen Barock, Filmmusik und zeitgenössischen Werken und kümmert sich zusätzlich mit Hingabe um Nachwuchsmusiker, die mehr zu bieten haben als sportliche Perfektion. Denn eines ist für sie klar: »Musik berührt nur, wenn sie eine Geschichte erzählt. Und den heranwachsenden Geschichtenerzählern bin ich auf der Spur.«
Mario-Felix Vogt
A DIFFERENT KIND OF CONCERT
Her career began on 11 December 1976. This was the day on which the then thirteen-year-old violinist from Wehr in the Black Forest auditioned for the great Herbert von Karajan, performing Bach’s famous Ciaconna. Normally it took only a few minutes for the maestro to interrupt the young artists who were auditioning for him, but in Anne-Sophie Mutter’s case he made an exception and listened to the piece from start to finish. She then played two movements from Mozart’s violin concertos. By now Karajan’s enthusiasm was unbounded: “I’ve just discovered a young violinist whom we all regard as a miracle.”
The rest is history. Karajan invited her to perform at the following year’s Salzburg Festival, where her emotionally moving and technically brilliant performance of Mozart’s G major Violin Concerto unleashed a torrent of frenzied acclaim rarely encountered with the Festival’s generally genteel audience. From then on the world’s leading orchestras fought over the highly gifted young woman from the Black Forest. Over the next four decades, she would go on to travel the world, taking with her the great violin concertos of Beethoven, Brahms and others, while also performing contemporary music and appearing as a recitalist in a number of selected chamber works.
It is now forty-seven years since Anne-Sophie Mutter auditioned for Karajan, and in June 2023 the violinist celebrated her sixtieth birthday. Many artists of her standing might have used such an occasion to record an album with a full orchestra featuring one of the famous Romantic violin concertos. Anne-Sophie Mutter has chosen a different approach. Together with her own ensemble, Mutter’s Virtuosi, she gave a concert in the venerable Golden Hall of the Vienna Musikverein, and the present release is based on a live recording of that event.
The Virtuosi are a string orchestra whose members are all extremely talented young musicians, most of them former and present bursary-holders of the Anne-Sophie Mutter Foundation. The violinist has long been keen to promote the careers of a new generation of artists, since she knows from her own experience how important it is for the most gifted musicians to receive support, which is why she founded her Friends of the Anne-Sophie Mutter Foundation in 1997, before establishing her Anne- Sophie Mutter Foundation eleven years later. The latter organization makes instruments available for its members, creates contacts with soloists and masterclasses, organizes auditions with conductors and additionally commissions new works.
Mutter’s Virtuosi are thus the Foundation’s orchestra, a body of players that is both international in its membership and diverse in character. Its members are constantly changing. Since it was formed in 2011, it has successfully undertaken a number of national and international tours, while its chamber-like qualities make it especially well suited to Baroque and Viennese Classical works, so the programme of the Vienna concert included Vivaldi’s Concerto in F major for three violins and Bach’s Third Brandenburg Concerto. Anne-Sophie Mutter also appeared as a soloist in Bach’s A minor Concerto and also, by way of a surprise, in a strikingly virtuosic violin concerto by one of Mozart’s contemporaries, Joseph Bologne. “I find him incredibly interesting as a composer, he is so multifaceted,” says Anne-Sophie Mutter. “This is also true of the few biographies that exist about him.” Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, was the son of a Caribbean slave and a French aristocrat. He grew up in aristocratic circles in Paris and trained as a violinist, conductor and composer, later applying for the job of running the Paris Opéra but having his application turned down on account of the colour of his skin. “Bologne’s violin concertos are innovative and extremely virtuosic. They place considerable demands on their soloist,” says Anne- Sophie Mutter. “His works and his life are two reasons why we should place this wonderful composer at the very heart of our concert programmes.”
In addition to these eighteenth-century concertos, Anne-Sophie Mutter’s programme was also designed to reflect another of her interests, which is to continue to expand the repertory for violin and strings. This aspect of her work finds expression in the inclusion in her programme of the Nonet by André Previn that she commissioned for her Virtuosi and which is scored for two string quartets centred on a double bass. “The surround sound that is achieved by treating the two string quartets as opposing groups, with the double bass as the solo instrument in the middle, is really fantastic,” the violinist observes with palpable enthusiasm. “It was the great double bass player Roman Patkoló who provided the incentive,” she explains. “André was so fascinated by his playing that he wrote this fantastic cadenza for him. To that extent Roman had a decisive impact on the genesis of this piece.”
It was André Previn who put Anne- Sophie Mutter in touch with the famous film composer John Williams. “I’d always been a great admirer of his music and got to know him about ten years ago in Tanglewood,” she recalls. It was on this occasion that she asked Williams if he would write a piece for her, but he was too busy. Only when she sent him some Lebkuchen for Christmas was she able to activate him. He dedicated Markings to her and she gave the work’s world premiere in Tanglewood in 2017. Williams also adapted some of his finest film tunes for Mutter and they recorded them together in Los Angeles and also performed them live with the Vienna Philharmonic. Williams’s Second Violin Concerto was written for, and dedicated to, Anne-Sophie Mutter in 2021, while the concert given by the Virtuosi also featured two encores in the form of new arrangements, specially adapted for the ensemble, of themes from Cinderella Liberty and Schindler’s List, two moving scores that are filled with warmth and melancholy.
For their third encore the internationally acclaimed violinist and her young orchestra delighted their Viennese audience with a performance of the virtuoso Presto movement from “Summer” from Vivaldi’s The Four Seasons, a movement that brilliantly describes the elemental force of a storm. Here, too, Anne-Sophie Mutter proves herself to be one of the most versatile artists on today’s international classical circuit, moving with sovereign ease between the Age of Baroque, the world of film music and the contemporary musical scene and at the same time taking an active and committed interest in the next generation of young musicians, musicians who have more to offer than merely the perfection of sportsmen and women. One thing is certain in her mind: “Music moves us only when it tells a story. And I’m on the trail of the next generations of storytellers.”
Mario-Felix Vogt