Mit der Französischen Revolution änderte sich nicht nur die politische Ordnung Europas. Der philosophische Keim der Aufklärung, die davon ausging, dass der Einzelne den „Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Immanuel Kant) finden könne, pflanzte dem Menschen insgesamt ein neues Selbstbewusstsein ein, sich gegen Konventionen zu wenden. Eine bislang undenkbare Vorstellung von der Wahrhaftigkeit des Gefühls wurde populär, brachte die Dichter des Sturm und Drangs dazu, empfindsame Jugendhelden wie den „Werther“ zu erfinden, und sorgte auch dafür, dass sich das Frauenbild veränderte. Aus dem erduldenden Weibe wurde die liebende, aber auch fordernde Frau, die in verschiedenen Abstufungen ihren literarischen Niederschlag bei Autorinnen und Autoren wie Jane Austen oder Gustave Flaubert fand. Die neu produzierte Hörbuch-Serie „Aufruhr der Liebe“ wendet sich exemplarisch fünf solch wegweisender Werke zu, die die neue Weiblichkeit des bürgerlichen Zeitalters fokussieren.
Zum Beispiel Jane Austen. Als siebtes von acht Kindern und Tochter eines Landgeistlichen in Steventon im britischen Hampshire hatte sie das Glück, an einen Vater zu geraten, der den Wissensdurst des Mädchens gewähren ließ. Bereits als Zwölfjährige versuchte sie sich an ersten Erzählungen und erwies sich als sprachlich einfallsreich und souverän. Viele ihrer frühen Romane schrieb Austen in jungen Jahren, auch wenn sie erst mit einigem zeitlichen Abstand veröffentlicht wurden. „Stolz und Vorurteil“ (1813) beispielsweise ging ein Briefroman voraus, den sie um 1796/97 unter dem Titel „First Impressions“ skizziert hatte. Im Kern handelt es sich um die Schilderung des Schicksals eines jungen Mädchens auf dem verschlungenen Weg zu ihrer Hochzeit. Allerdings wird dieses Ereignis nicht als übliches Ende einer glücklichen Handlung dargestellt, sondern von vielen Facetten aus betrachtet. Bis die Protagonistin Elizabeth Bennet schließlich bei dem reichen Gutsbesitzer Mr. Darcy landet, müssen erst Stolz und Vorurteile überwunden werden. Erst dann ist den Menschen ihr persönliches Glück hold – allein diese Wendung zur beidseitigen Bewusstwerdung der individuellen Qualitäten, erzählt aus der Perspektive der Frau, stellte für die Literaturgeschichte ein Novum dar.
Zweites Beispiel: „Jane Eyre“. Der Roman wurde 1847 von Charlotte Brontë unter dem Pseudonym Currer Bell veröffentlicht. Er trug den irreführenden Untertitel „An Autobiography“, war aber eine rundum fiktionale Geschichte über ein Mädchen aus armen Verhältnissen, das sich über viele Umwege zu einer liebenden Frau entwickelt. Bis dahin geschehen einige ans Märchenhafte bis Gruselige grenzende Entwicklungen, die die Grundkonstellation der epochentypischen Geschlechterrollen umkehren. „Jane Eyre“ wurde ein Erfolg und überstrahlte lange Zeit sogar das literarisch deutlich reizvollere „Wuthering Heights“, das Charlottes Schwester Emily Brontë im selben Jahr veröffentlicht hatte. Dies lag vor allem an der eindrucksvoll gestalteten Protagonistin, deren Kampf zwischen Liebe und Integrität, Leidenschaft und Selbstachtung weit über die üblichen romantischen Romancharaktere hinausreichte. Dazu kamen effektvolle Anlehnungen etwa an den Schauerroman, aber auch an die Tagebuchliteratur, den Entwicklungsroman und den in England populären protestantischen Rigorismus, der die persönlichen Seelenkrisen in den Mittelpunkt stellte. Und natürlich die Umkehrung der Kräfteverhältnisse von Mann und Frau, denn am Schluss ist es Jane, die als Stärkere ihren gescheiterten Mann betreut, im festen Bewusstsein, sich ihre Aufrichtigkeit erhalten zu haben.
Die Rollen hatten sich verändert, auch bei den männlichen Kollegen im 19. Jahrhundert. In Leo Tolstois drittem großen Roman „Anna Karenina“ (1875–77) ringen die Figuren mit ihren Träumen von der Unmittelbarkeit des menschlichen Empfindens. Das machte den Unterschied zu vielen anderen Liebesromanen aus, die das bürgerliche 19. Jahrhundert mit Idyllen und Klischees versorgten. Wenn in dieser Geschichte überhaupt jemand einen Frieden mit sich selbst macht, dann ist es der Landadelige Levin, der fernab von den Irrungen und Wirrungen der Großstadt im bewussten Kontrast zu den Entfremdungen der Moderne seine naturnahe, persönliche Aufklärung pflegt. Doch auch er wird von Tolstoi nicht als Lösung präsentiert, im Gegenteil. Als er endlich Zufriedenheit in der von Fruchtbarkeit verwöhnten Familie findet, die er mit seiner Kitty gegründet hat, wendet sich sein rastloser, bislang atheistischer Geist schon neuen Dingen zu und meint, nach einer Begegnung mit einem Bauern die „einfache Wahrheit“ in einer übergreifenden Form der Nächstenliebe zu entdecken. Und wieder verliert sich das Glück des Augenblicks in der Utopie.
Überall „Aufruhr der Liebe“, auch bei den weiteren beiden Klassikern der Weltliteratur, die in diese exquisite Reihe szenischer Hörbücher aufgenommen wurden. Gustave Flaubert erzählte in „Madame Bovary“ von den Verlockungen ehelicher Untreue und näherte sich dem Phänomen nicht etwa aus der Perspektive des Mannes, was im bigotten Denken der Bürgerlichkeit womöglich noch als lasterhafte Verfehlung verziehen worden wäre, sondern ergriff Partei für die Frau, so zumindest schien es seinen Zeitgenossen auf den ersten Blick. Als sie aber versuchten, ihm den Prozess wegen „Verstoß gegen die öffentliche Moral, die guten Sitten und die Religion“ zu machen, mussten sie feststellen, dass der Autor schlauer war als die Zensoren. Denn „Madame Bovary“ ist nicht nur ein fesselnder, frecher Roman, sondern auch eines der ersten Beispiele für eine Erzählweise, die die Dinge durch die Augen der Romanfigur und nicht die des kommentierenden Schriftstellers sieht.
Emile Zolá schließlich ging noch einen Schritt weiter. „Nana“ (1879) war die Geschichte der Tochter einer Wäscherin und eines Trinkers, die die sexuellen Qualitäten ihres Körpers dafür einsetzte, um aus den ärmlichen Verhältnissen ihres Milieus auszubrechen. Sie drang auf der Suche nach Akzeptanz in die höchsten Gesellschaftskreise vor, um dann aber festzustellen, dass diese Kreise weder willens noch fähig waren, in ihr mehr als eine Kurtisane zu sehen. Nana ist eine „Femme Fatale“ wie aus dem Skizzenbuch literarischer Archetypen, die als Vamp und emotionsgesteuerte Hedonistin Zerstörung um sich herum verbreitet. Zola gestaltete dabei seine Studien aus dem Dirnen- und Zuhältermilieu Montmartres, aus den Gesellschaftskreisen der Hautevolee und aus dem Umfeld der einfachen Leute mit einer reportagenhaften Genauigkeit, die vielen Lesern nahe legte, es handele sich bei „Nana“ um eine wahre Geschichte. Zola schaffte es, die Intensität des Geschehens und Empfindens der literarischen Figur wie echt wirken zu lassen, mit einer sprachlichen Brillanz, die in ihrer mal analysierenden, mal moralisierenden, mal realsatirischen Pointiertheit verblüfft. Das macht bis heute den besonderen Reiz von „Nana“ aus, mit der die Reihe „Aufruhr der Liebe“ den Bogen von der frühen Emanzipation à la Austen und Brontë zu den Salomes und Lulus des Fin de Siècle spannt, die der Männlichkeit schließlich existentiell das Fürchten lehrten.