Diese Rezitalaufnahme wurde von einem Brief des berühmten Pianisten und Komponisten Ferruccio Busoni an seinen Schüler Egon Petri im Jahre 1909 inspiriert, in welchem er Petri als Thema für seinen Konzertvortrag ein “Tanzprogramm” vorschlug, das Originalkompositionen und Bearbeitungen enthielt. Benjamin Grosvenor erweiterte dieses Konzept für seinen Debütvortrag in der Queen Elizabeth Hall 2012, indem er eine historisch und stilistisch vielseitige Auswahl an Werken darbot, deren tragende Säule das Thema der “Tänze” war. Dieser Leitgedanke wird nun auch für diese Einzelvortrags-CD verwendet. Mit Bach als Ausgangspunkt bietet dieses Programm sowohl bekannte als auch eher im Verborgenen liegende Glanzstücke aus dem Klavierrepertoire, und obwohl die vorliegende Sammlung zwischen Bach und Chopin eine Epoche überspringt ‒ ein derart weitgefasstes Thema erfordert große Selektivität ‒ so bringt sie doch ein breites Spektrum an musikalischen Kostbarkeiten zur Geltung.
Jede von Bachs sechs Partiten ist eine Sammlung von französischen Tänzen des 17. Jahrhunderts ‒ sechs oder sieben pro Suite ‒, die vorrangig als Fingerübungen gedacht waren und zeigen, dass Genie nicht von pragmatischen Zwecken eingeschränkt werden muss. Sie wurden zwischen 1726 und 1731 geschrieben und 1731 im ersten Band von Bachs Clavierübung veröffentlicht. Die Partita Nr. 4 in D-Dur, BWV 828 stammt aus dem Jahre 1728 und besteht aus sieben Sätzen (Ouverture, Allemande, Courante, Aria, Sarabande, Menuet und Gigue). Ihre edlen, würdevollen Eröffnungstakte ebnen unzähligen Tanzformen unterschiedlicher Tempi und Taktarten den Weg. Obwohl es ursprünglich für Cembalo kom-
poniert wurde, bietet sich das Werk für Klavier geradezu an. Dessen größere dynamische und klangliche Möglichkeiten tragen (vor allem unter fähigen Händen) dazu bei, Bachs meisterhafte kontrapunktische Komposition zu betonen.
Vielleicht wurde kein Komponist so dafür gefeiert, Tanzmusik auf das Klavier zu übertragen wie Frédéric Chopin. Zusätzlich zu dem international beliebten Walzer verwendete er auch die traditionellen Tanzarten der Polonaise und der Mazurka aus seinem Heimatland Polen. Von den sieben Polonaisen, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden, befinden sich zwei auf dieser CD: das prickelnde, fröhliche Andante spianato et Grande Polonaise brillante in Es-Dur, op. 22 und die dramatische, “tragische” Polonaise in fis-Moll, op. 44. Beide enthalten eine Mazurka (im zweiten Teil des Andante spianato und im Mittelteil der Polonaise, op. 44) und zeichnen sich durch rhythmischen Schwung und die für Chopins Kompositionen typische Eleganz aus. Davon abgesehen könnten die beiden Werke unterschiedlicher kaum sein. Ersteres dient als liebevolles Lebewohl an Chopins früheren blumigen Stil, letzteres ist brütend, kühn und gewissermaßen ein Tongedicht von anhaltender Intensität, das der Komponist selbst 1841 in einem Brief als “eine Art Fantasie in Form einer Polonaise” beschrieb.
Die nächste Gruppe von Kompositionen fällt in die Kategorie “vergessene Schätze”. Alexander Skrjabins frühe Sammlung von Zehn Mazurkas, op. 3, die er noch als Student des Moskauer Konservatoriums schrieb, offenbart deutlich Chopins Einfluss; dennoch mangelt es zu keiner Zeit am eigenen, unverwechselbaren Charakter des Komponisten. Ebenso wie in Chopins Werk erfordert der emotionale Gehalt einen gewissen Grad an Freiheit beim rhythmischen Grundschlag durch den klugen Einsatz von Rubato. Die drei Mazurkas, die hier präsentiert werden, enthalten eine Fülle an Anmut, Charme, Witz und Sinnlichkeit. Zu der Zeit, als Skrjabin seinen Walzer in As-Dur, op. 38 schrieb, hatte er seine Ausdrucksform verfeinert und eine tiefere Neigung zum Mystizismus entwickelt, so dass er einen sinnlichen Walzer erschuf, der von Anfang an einen warmen Schimmer ausstrahlt, welcher sich zu einem ekstatischen Höhepunkt steigert — zu einer Art “Himmelswalzer”.
Granados’ Valses poéticos meiden eine derart berauschende Sinnlichkeit zugunsten sparsamerer Strukturen, die manchmal eine beinahe Schumann’sche Formgebung der Melodie untermauern. Diese Walzersammlung, ein frühes Werk, ist abwechselnd elegant, lebhaft, angenehm und kapriziös, wobei der sechste Walzer mit der Bezeichnung “Quasi ad libitum (Sentimental)” als emotionaler Schwerpunkt dient. Der spritzige, achte Presto-Walzer leitet zu einer ergreifenden Wiederkehr des ersten über. Dieser Kontrast betont seine zarte Vornehmheit.
Das nächste Werk zählt zu den berühmtesten seiner Gattung, sowohl die Originalmusik als auch das Arrangement betreffend: Der legendäre Donauwalzer von Johann Strauss ‒ der eigentlich aus einer Reihe von Walzern besteht ‒ nahm in der herrlichen Klaviertranskription eines gewissen Adolf Schulz-Evler, einem Virtuosen des 19. Jahrhunderts, eine neue Gestalt an und wurde eindrucksvoll mit Arabesken über “An der schönen blauen Donau” von Johann Strauss betitelt. Das Werk, welches ebenso blumig-dekorativ ist wie sein Titel, ist sowohl höllisch kompliziert als auch hervorragend einfallsreich und verlangt dem Pianisten immenses technisches Können sowie einen Sinn dafür ab, die überwältigenden Ausschmückungen und die üppige Bearbeitung der berühmten Melodien in Einklang zu bringen. Diese Fassung, die eine beliebte Zugabe bedeutender Pianisten der Romantik darstellte, reflektiert gleichzeitig die Wiener Eleganz des späten 19. Jahrhunderts und dessen pianistische Meisterschaft.
Zwei Zugabenstücke führen entschieden ins 20. Jahrhundert. Zwar komponierte Isaac Albéniz seinen berühmten Tango 1890, doch Leopold Godowskys typisch hedonistische Bearbeitung entstand drei Jahrzehnte später in Chicago, wo das Stück in den anspruchsvollsten Salons neu erstrahlte.
Das abschließende Werk steht ganz im Zeichen der Neuen Welt: Morton Goulds Boogie-Woogie Etude, die 1943 für Klavier und Orchester geschrieben wurde. Vom Komponisten mit “schnelles, treibendes Tempo — durchgängig stählern und hart” bezeichnet, stellt das Stück eine schrille und gleichzeitig spöttische Herangehensweise an den Boogie-Woogie dar: teils Perpetuum mobile, teils haarsträubende Studie… und ein spannender Abschluss dieses Tanzprogrammes.