Craig Taborn | Musik | Prezens

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Prezens
24. April 2007
Craig Taborn

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Produktinformation

Auf seinem neuen Album “Prezens” läßt David Torn das Organische mit dem Synthetischen und das Technologische mit dem Körperlichen kollidieren. Für sein erstes ECM-Album zwanzig Jahre nach “Cloud About Mercury” hat der Gitarrist, Produzent und Filmmusikkomponist drei der riskiofreudig- sten New Yorker Improvisationsmusiker, die miteinander schon so einige Klanggipfel gestürmt haben, um sich geschart: den Altsaxophonisten Time Berne, den Keyboarder Craig Taborn und den Schlagzeuger Tom Rainey. Im Frühjahr 2005 trafen sich diese vier Musiker in einem Studio im Hudson-River-Tal, um Stunden über Stunden kollektiver Improvisationen aufzunehmen. Dabei konnten sich auf die Erfahrungen verlassen, die sie in Jahren zuvor bei Live-Auftritten in Clubs in Manhattan und Brooklyn sowie bei Festivals in Kanada und Europa gesammelt hatten. Doch “Prezens” ist keine Dokumentarplatte geworden, der Torn im Nachhinein seinen bekannten  “magick touch” verlieh – um durch Remixen, Umformen, Rekomponieren der Musik nach der Einspielung abwechselnd ambientmusikalische und ätherisch-flüchtige diskrete Collagen von Kraft und Schönheit zu schaffen. So wie ein fiktionales Werk manchmal mehr über ein Ereignis aussagen kann als eine journalistische Reportage, so bietet “Prezens” einfach einen anderen Blickwinkel auf die Aktionen der Band im Studio.

“Die Tracks der ganzen Band bieten das, was wir wirklich zusammen eingespielt haben; selbst als ich das Material neu formte, respektierte ich dabei die Eigenart der Band, die Art, wie sie funktioniert und klingt. Aber das Ergebnis ist trotzdem nicht identisch mit dem, was wir direkt beim Playback hörten. Es reflektiert die verzerrte Version, die ich hörte, als wir die Sachen aufnahmen. Auch ein paar alternative Wege, die wir hätten einschlagen können, wenn wir etwas länger oder kürzer gespielt hätten oder an einer anderen Ecke abgebogen wären. Das erste Stück, ‘ak’, ist dafür ein Beispiel – wir spielten den Heavy-Metal-Part, den man hört, aber wir spielten ihn nicht lang genug. Also bastelte ich einen Loop daraus, machte ein paar Overdubs, und dann führt der Loop zur Original-Performance zurück. An anderen Stellen – an denen ein Instrument High-Fidelity-Qualität hat, aber alles andere nach Lo-Fi klingt – habe ich den Mix frisiert, um das Stück asymmetrischer zu machen. Dann gibt es auch noch ein Stück wie ‘them buried standing’, bei dem ich Toms Schlagzeug total ausblendete und dann etwas völlig Neues um es herum gebaut habe.”
 
Der Opener scheint dem typischen amerikanischen Groove-Genpool entnommen zu sein: Der Geist von Booker T & the MGs erhebt sich einen Augenblick lang aus dem bluesig-schwelenden Rhythmus, bevor die Band einen Freak-Metal-Schnellgang einlegt. Jazz-Rock-Bands wie Lifetime, das erste Mahavishnu Orchestra und die Miles Davis Groups der “Bitches Brew”- und “Agartha”-Äras waren Torns frühe Inspirationsquellen – “aber wenn wenn ich darüber nachdenke, welchen Sound ich mit der Band haben möchte, dann denke ich nicht an andere Bands, sondern nur noch an Sounds”, stellt Torn klar.
 
Das Quartett von “Prezens” ist für seine hochentflammbaren Live-Auftritte in der Szene berühmt-berüchtigt. “Diese Band erfüllte den Traum, den ich als Jugendlicher von der idealen Band hatte – eine Gruppe von selbstsicheren Individualisten, die aber aufeinander eingespielt sind”, schwärmt der Gitarrist. “Anstatt also einfach wie eine Jamband zu agieren – das habe ich schon oft genug gemacht und manchmal hatte ich dabei auch wirklich Spaß -, treten wir vor das Publikum oder die Mikrophone mit Musik, die komponiert klingt – obwohl sie es ganz und gar nicht ist. Wir hatten keine fertigen Stücke, sondern nur eine Art flexibles Vokabular, mit dem wir untereinander kommunizierten. Wir spielen nicht nur ohne Netz, was übrigens jeder, der uns hört, mitbekommen dürfte. Das ist, was ich an dieser Gruppe so liebe – ihre Arbeitsweise unterscheidet sich komplett von der, die ich ansonsten gewohnt bin. Ein Großteil meiner täglichen Arbeit ist von A bis Z durchorganisiert. Etwa wenn ich die Aufnahmen von jemand anderes abmische oder wenn ich an einer Pop-Aufnahmesession teilnehme oder wenn ich sehr symmetrisches, melodisches Material für Filme komponiere. Mit diesen Jungs brauche ich keine am Reißbrett entworfenen Pläne, und ich muß meine harmonische oder rhythmische Persönlichkeit nicht zügeln.”
 
“Ich hätte kaum passendere Mitspieler finden können”, fährt Torn fort. “'Prezens' ist zu einem nicht unerheblichen Teil meiner Freundschaft mit Tim zu verdanken – er haute mich immer wieder an: ‘Was machst du? Hör auf mit all diesen Filmmusiken! Kram deine Gitarre raus und spiel wieder vor Leuten!’ Tim ist einer der großen Ikonoklasten der Gegenwart, er geht wirklich seinen eigenen Weg, als Mensch und als Musiker. Craig ist ein Musiker, der wirklich mit Mühelosigkeit und Persönlichkeit zu improvisieren versteht. Aber er ist auch eines jener Geschöpfe, die sich mit elektronischen Merkwürdigkeiten und Ambient-Texturen auskennen. Und wer spielt so wie Tom Rainey? Er spielt jedesmal anders und immer der Situation angemessen.”
 
Die Texturen von “Prezens” wechseln von einem unruhigem Ambiente zu verstörender Heftigkeit, unterbrochen durch Intervalle von schwebender Ruhe. Da gibt es das industrielle-krachige, stampfende “bulbs” und das schmerzverzerrte Post-Miles-Gebräu von “neck-deep in the harrow…” sowie den schrägen Tollhaus-Funk von “sink”. Dann ist da noch der mutierte Elektro-Blues von “ever more other” und die außerweltlichen Abstraktionen von “miss place, the mist..”. Die Stimmungsschwankungen sind ein Beleg für Torns eigendiagnostizierte musikalische “Schizophrenie”. In seiner Karriere hat Torn mit Innovatoren des Jazz (Jan Garbarek), der Filmmusik (Ryuichi Sakamoto) und des Pop/Rock (David Sylvian, David Bowie, Jeff Beck) gearbeitet.
 
Obwohl Torn weit und breit für seine verwirbelten Soundscapes bekannt ist, versteht er es auch, eine fetzige Lead-Gitarre zu spielen. Die schneidenden Soli in “sink” oder die Intro von “transmit regardless” beweisen es. Torns Spielweise läßt sich keinem Genre zuordnen; er ist ein eklektischer Sensualist, der die unterschiedlichsten Einflüsse aufgesaugt hat. In seinem Spiel kann man etwas von Wes Montgomery, Jimi Hendrix und John McLaughlin entdecken, von Allan Holdsworth, Fred Frith, dem frühen Bill Frisell, Jeff Beck und dem Adrian Belew der Talking-Heads-Ära, ja sogar von nervösen Bands wie Bad Brains, My Bloody Valentine, Helmet und Soundgarden. Die kontraintuitive Virtuosität des französischen Gitarristen Marc Ducret, mit dem er in Tim Bernes Band Science Friction zusammengespielt hat, ist eine weitere, jüngere Inspirationsquelle. Und dann wäre da natürlich noch der ECM-Künstler Terje Rypdal zu nennen, der “eine Strat wie Hendrix spielen mag, aber dieser reiche, persönliche Ton klingt nach niemand anderem als ihm selbst. Und Terjes Fähigkeit Noten zu plazieren läßt ihn die Linie vom Gitarristen zum Komponisten überschreiten. Genau dort fühle ich mich auch am wohlsten.”
 
In den zwei Jahrzehnten seit “Cloud About Mercury” hat sich Torn als Gitarrist subtil verändert. Sein Ton – im einem Moment noch abgesägt klingend, im nächsten schon dröhnend – ist immer noch so einzigartig wie ein Fingerabdruck. “Ich klinge immer noch nach mir selbst, aber ich zerbreche mir heute sehr viel weniger den Kopf darüber, ein Gitarrist zu sein. Das mag sich seltsam anhören, aber dadurch, daß ich nicht mehr mit aller Macht versuche ein großartiger Gitarrist zu sein, beherrsche ich die Bandbreite meines Instruments jetzt sehr viel besser. Und dieses Instrument ist genauso sehr meine Phantasie wie meine Gitarre.”
 
Neben dem Album “Cloud About Mercury” – auf dem Torn 1987 mit dem Trompeter Mark Isham, Bassist Tony Levin und Schlagzeuger Bill Bruford (dem Rhythmusgespann der wiedervereinten legendären Rockband King-Crimson) spielte – umfaßt die ECM-Diskographie des Gitarristen noch “Best Laid Plans” (1984), ein Duo-Album mit dem Schlagzeuger Geoffrey Gordon, und zwei Alben mit der Everyman Band (“Everyman Band”/1982 und “Without Warning”/1985), die zeitweise Lou Reed und Don Cherry auf Tourneen begleitete. Auch auf Jan Garbareks 1984er Album “It’s OK To Listen To The Gray Voice” hinterließ er seine gitarristische Handschrift.
 
Weitere wichtige Soloalben von David Torn waren “Tripping Over God” (CMP, 1995) und “What Means Solid, Traveller?” (CMP, 1996). Auf “Polytown” (CMP, 1994) bildete Torn mit Bassist Mick Karn (Ex-Japan) und Schlagzeuger Terry Bozzio (Ex-Zappa) ein aufregendes Avantgarde-Rock-Trio. 1998 nahm er mit Elliott Sharp und Vernon Reid, zwei ähnlich experimentellen Gitarristen, das Album “Gtr Oblique” (Knitting Factory) auf. Und unter dem Namen Splattercell veröffentlichte er 2000 mit Bassist Fima Ephron sowie den Schlagzeugern Zachory Alford, Matt Chamberlain, Abe Laboriel Jr. und Dean Sharp das abenteuerliche Electronica-Album “OAH”. Für die begleitende Remix-CD “REMiKSiS: AH” bearbeiteten u.a. Ryuichi Sakamoto, Carter Burwell und Dan The Automator einige der Splattercell-Songs.
 
Ausgezeichnet hat sich Torn auch im Bereich der Filmmusik. In den letzten Jahren steuerte unter anderem Musik zu Filmen wie Brian Helgelands “The Order” (2003), Peter Bergs “Friday Night Lights” (2004) und Robert Collectors “Believe In Me” (2006) bei. Als Gitarrist ist er zudem oft in Filmmusiken von Ryuichi Sakamoto, Carter Burwell und Mark Isham zu hören. Kenner dürften Torns einigartige Gitarrenklänge auch in “Traffic” (2000) und dem mit vier Oscars ausgezeichneten fantastischen Martin-Scorsese-Film “The Departed” (2006) entdeckt haben.
 
Umtriebig war David Torn auch schon immer im Bereich der Pop- und Rockmusik. Mit dem Ex-Japan-Sänger David Sylvian nahm er zum Beispiel “Secrets Of The Beehive” (1987), “Everything And Nothing” (2000) und “Camphor” (2002) auf. Darüberhinaus stand er als Musiker bei Platteneinspielungen schon David Bowie, k.d. lang, Manhattan Transfer, John Legend, Tori Amos und Me’Shell NdegéOcello zur Seite.
 
Eine solche Vielseitigkeit oder, wie Torn selbst es nennen würde, “musikalische Schizophrenie” offenbaren nur wenige Musiker. “Ich strebe danach, total offen zu sein. Dabei ist es mir gleich, ob ich gerade eine Filmmusik schreibe oder mit einer Band frei improvisiere. Ich versuche stets, in jedem Augenblick hellwach und kreativ zu sein, und ich glaube, bei ‘Prezens’ ist dies uns allen gelungen.”
Veröffentlichung
24.4.2007
Format
CD
Label
ECM Records
Bestellnummer
00602517098756

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