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KLAVIERMINIATUREN MIT TIEFGANG
Eine ganze Bonbonniere voller Lieblingsstücke ist es, die Daniel Barenboim mit diesem Album öffnet: Klavierminiaturen, von denen einige, wie Robert Schumanns Träumerei oder Claude Debussys Clair de lune, zu den beliebtesten Klavierstücken überhaupt zählen. Die Aufnahmen entstanden parallel zu Barenboims jüngster Gesamteinspielung sämtlicher Beethovensonaten und der Diabelli-Variationen während des Corona-Lockdowns und erfordern eine völlig andere künstlerische Stimmung als das Durchdringen des gewaltigen Beethoven-Kosmos. Sie fangen auf hochkonzentrierte, kunstvollste Weise einen flüchtigen Eindruck ein und folgen den Resonanzen bis in die Tiefen der Seele. Klein sind diese zauberhaften Stücke, darauf hinzuweisen ist Barenboim sehr wichtig, nur in Umfang und Dauer – nicht etwa in ihrer Bedeutung. Als beliebte »Encores« spiegeln sie in jedem Takt zugleich auch die besondere Atmosphäre und die gelöst-entspannte Haltung, die im Konzertsaal herrscht, wenn am Ende eines Recitals mit einer Reihe von Zugaben der inoffiziellere Teil des Abends eröffnet wird. Er spüre in diesem Moment eine besondere Nähe zum Publikum, erzählt Daniel Barenboim. Der Künstler freut sich über die Lust des Publikums, noch mehr zu hören, das Publikum über die musikalischen Überraschungsgeschenke, die ihm gemacht werden. Ein Hauch Salonatmosphäre weht herein.
Als Franz Schubert in seinen letzten Lebensjahren 1827 und 1828 seine Sammlungen von Impromptus und Moments musicaux komponierte, ahnte er nicht, dass die neuartige Weise, mit der er den lyrisch-liedhaften Ausdruck in einen reinen Klaviersatz übersetzte, eine neue Gattung begründen würde. Bald darauf genoss sie unter Namen wie »Lied ohne Worte«, »Fantasiestück«, »Albumblatt« oder »Intermezzo« größte Popularität: die Klavierminiatur. Schuberts Stücke stehen mit ihren einfachen Lied-, Variationen- oder Tanzformen noch an der Schwelle zwischen Wiener Klassik und Romantik, künden aber längst von jenem geheimnisvollen Reich des »Unaussprechlichen«, das E. T. A. Hoffmann in seiner Rezension der 5. Symphonie von Beethoven als den Sehnsuchtsort des neu ausgerufenen Lebensgefühls der Romantik beschrieb. »Er hat Töne für die feinsten Empfindungen, Gedanken, ja Begebenheiten und Lebenszustände«, schrieb Robert Schumann über Schubert.
Von E. T. A. Hoffmanns Sammlung Fantasiestücke in Callots Manier inspirieren ließ sich Schumann zum Titel seiner Fantasiestücke op. 12, mit denen er 1837 in kurzer Zeit ein Kaleidoskop hoch verdichteter Stimmungsbilder entwarf. Die Stücke stecken voller motivischer und rhythmischer Finessen und generieren ihre untypisierten Formen ganz aus dem künstlerischen Ausdrucksimpuls heraus. Die synkopischen Melodielinien des eröffnenden Stückes Des Abends beginnen im transparenten Klaviersatz zu schweben. Aufschwung folgt einer erratisch-leidenschaftlichen Aufbruchsgeste. Und im dritten Stück, Warum?, gelingt das Kunststück, eine musikalische Frage in den Raum zu stellen, als ob die Musik ohne Anfang und Ende, wie aus einem stetigen Gedankenstrom heraus entstehe. Das sprudelnd übermütige siebte Stück, Traumes Wirren, schlägt mit seiner virtuosen Sechzehntelfigur zunehmend exzentrischere Kapriolen.
Schumann widmete seine Fantasiestücke Frédéric Chopin. Barenboim erzählt, dass er bei den hier eingespielten Stücken aus den Etüden op. 10 und op. 25 und der Fis-Dur-Nocturne op. 15/2 an Arthur Rubinstein denken musste, in dessen Konzerten die Zugaben beinahe den Raum eines zusätzlichen Programms eingenommen hätten. Chopin zu spielen erfordert in besonderem Maße die Fähigkeit, die Musik zugleich voller Spontaneität und hoch strukturiert entstehen zu lassen. Wie der Schriftsteller André Gide schrieb, machte Chopin selbst am Klavier immer den Eindruck des Improvisierens, als ob er seine musikalischen Gedanken im Moment des Spielens unaufhörlich neu erfinden und entdecken würde. Chopins »Rubato«, die Kunst einer reizvollen Verzögerung, kippe ins Manieristische, wenn »uns ein Stück nicht mehr im allmählichen Entstehen dargeboten wird, sondern wie ein schon vollendetes, genau umrissenes Ganzes. […] Es ist ein Spaziergang voller Entdeckungen, und der Ausführende darf keineswegs zu sehr den Eindruck machen, dass er schon von vornherein weiß, was er sagen wird.«
Zu der besonders vielfältigen Klangfarbenpalette, mit der Barenboim jedem der eingespielten Stücke seinen spezifischen Ton und Charakter verleiht, trägt neben seiner pianistischen Anschlagskultur auch eine Besonderheit seines Flügels bei. Das Instrument ist eine Spezialanfertigung des belgischen Klavierbauers Chris Maene, der zuvor auf den Nachbau historischer Instrumente spezialisiert war. Bei einem Besuch in der Accademia Chigiana in Siena hatte Barenboim 2011 Gelegenheit, den 1860 gebauten Bechsteinflügel von Franz Liszt zu spielen. Die klanglichen Register des Instruments begeisterten ihn. Maene und Steinway ermöglichten in einer einzigartigen Zusammenarbeit jene Symbiose der bautechnischen Besonderheiten des alten Instruments mit den Vorteilen der modernen Steinways, die Barenboim vorschwebte. In den höheren Registern erlaubt das Instrument, wie Barenboim schwärmt, »puren Gesang«. Auch die Terzen in Liszts Consolation Nr. 3 und in Debussys Clair de lune leuchten auf ihm in einer selten gehörten, auratischen Süße.
Julia Spinola
PIANO MINIATURES WITH DEPTH
With the present album Daniel Barenboim is offering his listeners an entire bonbonnière filled to the brim with bonnes bouches: among the miniatures featured here are several, such as Schumann’s Träumerei and Debussy’s Clair de lune, that are among the most popular of all piano pieces. They were recorded during the coronavirus lockdown in parallel with Barenboim’s most recent account of all of Beethoven’s piano sonatas and the Diabelli Variations and demand a completely different artistic approach from the challenges involved in exploring Beethoven’s mighty world. In their highly concentrated and ingenious way they capture a fleeting impression and pursue the resonances of that impression right down into the depths of the soul. Barenboim is keen to point out that these magical miniatures are small only in terms of their length and duration but not with regard to their significance. Each bar of these favourite encores also reflects the special atmosphere and delightfully relaxed mood in the concert hall when at the end of a recital the unofficial part of the evening begins with a series of encores. Barenboim explains that this is the point in the evening when he feels especially close to his audience. He is delighted that they want to hear more, while the audience is no less delighted at the musical surprises that the pianist has to offer. A breath of the salon wafts into the hall.
When Schubert wrote his Impromptus and Moments musicaux during the last two years of his life in 1827–28, he had no idea that his novel way of transferring the expressive language of his songs to the realm of pure piano writing would help to create a new genre, a genre which soon afterwards would acquire tremendous popularity in the guise of “songs without words”, “fantasy pieces”, “album leaves” and “intermezzos”, all of them examples of the piano miniature. Encapsulating the simplest of forms – songs, variations and dances – Schubert’s pieces are still on the cusp of Viennese Classicism and Romanticism, while at the same time heralding that mysterious realm of the “ineffable” that E. T. A. Hoffmann described in his review of Beethoven’s Fifth Symphony, defining it as a place of longing for the Romantics’ newly proclaimed love of life. In turn Schumann observed that Schubert “has notes for the subtlest emotions and thoughts and even for the events and circumstances of our lives”.
The title of Schumann’s Fantasiestücke op. 12 was inspired by Hoffmann’s Fantasiestücke in Callots Manier. Completed within a short space of time in 1837, Schumann’s work is a kaleidoscopic collection of highly concentrated atmospheric portraits. All of these pieces teem with motivic and rhythmic subtleties and generate their atypical forms on the basis of an underlying expressive impulse. The syncopated melodic lines in the opening piece, Des Abends, begin to soar and float within the transparent textures of the keyboard writing. Aufschwung adopts the trajectory suggested by an erratically impassioned opening gesture. And in the third piece, Warum?, Schumann achieves the feat of proposing a musical question as if the music has neither a beginning nor an end but emerges from a constant stream of ideas. The ebulliently high-spirited seventh piece, Traumes Wirren, cuts increasingly eccentric capers with its virtuoso semiquaver figure.
Schumann dedicated his Fantasiestücke to Chopin. Barenboim explains that while recording the excerpts from the op. 10 and op. 25 Studies and the F sharp major Nocturne op. 15 no. 2, he involuntarily thought of Arthur Rubinstein, whose encores took up almost as much space as an extra programme at his recitals. To play Chopin requires the exceptional ability to allow the music to unfold with a mixture of complete spontaneity and extreme precision in terms of its structure. As the writer André Gide noted, Chopin himself always gave the impression of improvising at the piano, leading listeners to believe that he was constantly inventing and discovering new ideas at the very moment of their performance. As for Chopin’s use of rubato – the art of “stolen time”, with the subtle shifts between holding back and pressing forward – there was the danger that it would sound mannered “if the piece is no longer presented to us as gradually coming into existence but as an already perfectly formed entity with clearly contoured outlines. […] It is a promenade filled with discoveries, and the performer should avoid giving the impression that he knows in advance what he is going to say.”
Each of the pieces recorded here has its own specific tone and character as a result of the unusually varied palette of tone colours that Barenboim brings to bear on them. He owes this quality not only to his touch as a pianist but also to a particular feature of his instrument, which was specially built for him by the Belgian piano manufacturer Chris Maene, who had previously specialized in replicas of historical instruments. While visiting the Accademia Chigiana in Siena in 2011 Barenboim had the opportunity to play on the Bechstein grand piano built for Franz Liszt in 1860 and was enthusiastic about its tonal registers. In an unique collaborative venture Maene and Steinway have between them created a symbiosis between the technical features of the older instrument and the advantages of a modern Steinway, a symbiosis that Barenboim had long had in mind. As he observes enthusiastically, the instrument’s upper registers create the impression of “pure singing”. And the thirds in Liszt’s Consolation No. 3 and Debussy’s Clair de lune acquire a radiant, auratic sweetness that has rarely been heard before.
Julia Spinola