In Kummer und Sorgen hatte Richard Strauss während des Ersten Weltkriegs sein musiktheatralisches “Schmerzenskind”, das Märchen-Mysterium Die Frau ohne Schatten, vollendet. Teilweise noch zeitgleich mit dieser Oper war die in ihrer Orchesterbesetzung geradezu hypertrophe Alpensinfonie entstanden. Zwar hatte der Alleskönner Richard Strauss die endgültige Reinschrift 1915 in 100 Tagen abgeschlossen. Die ersten Skizzen freilich gehen bis ins Jahr 1911 zurück.
In seiner Bergsinfonie Ce qu’on entend sur la montagne, der ersten seiner sinfonischen Dichtungen, hatte Mitte des 19. Jahrhunderts Franz Liszt den Dualismus Mensch und Natur thematisiert. Im Walten der Natumächte erkennt der sich verloren dünkende Mensch Gott. Eine Andante religioso-Melodie zieht sich durch die Partitur, die weitgehend auf vordergründig-illustrative Momente verzichtet. Demgegenüber bleibt in Richard Strauss’ klingendem Alpenpanorama kein Raum für Metaphysisches. “Ein Tag im Hochgebirge” wäre nach Fritz Gysi, dem Autor eines 1934 erschienenen Richard Strauss-Buches, der ange-messenere Titel für dieses Werk gewesen, das in einem musikalischen Experiment
des Münchener Gymnasiasten einen bemerkenswerten Vorläufer hatte.
Richard Strauss war gerade 14 Jahre alt, als er eines Nachts vom oberbayerischen Murnau zu einer Bergtour aufbrach, sich nach einem fünfstündigen Aufstieg heillos verirrte, von einem Gewitter überrascht wurde und schließlich in einem Berghof Zuflucht fand. Bereits am Tag darauf soll er am Klavier seine Erlebnisse “nacherzählt” haben — 37 Jahre vor Vollendung der Alpensinfonie.
Exakte Fingerzeige zur “Deutung” der musikalischen Bilderfolge geben die Überschriften, mit denen Richard Strauss die einzelnen Abschnitte seiner Tondichtung versah. Aus der Schwärze der “Nacht”, einem diatonischen Cluster, löst sich zunächst das von Posaunen und Basstuba intonierte Bergmotiv. In strahlendem A-Dur erglänzt das Sonnenthema. Nach dem “Sonnenaufgang” beginnt nun der “Anstieg”; das bisher nur vage angedeutete, jetzt “sehr lebhaft und energisch” ausschreitende Wanderthema durchzieht als motivische Klammer das gesamte Werk. Ein scharf rhythmisiertes Blechbläsermotiv dürfte auf die Gefahren anspielen, die bei einer Bergtour drohen. Von fern schmettern Jagdhörner. Dann begleitet ein feierlicher Hymnus der Hörner und Posaunen den “Eintritt in den Wald”. Auch das beim “Anstieg” mit seiner Umkehrung enggeführte Wanderthema wird in die feierlich-andächtige Stimmung einbezogen. Nach der “Wanderung neben dem Bache” ist der “Wasserfall” das nächste Ziel. Springbogenfiguren und Glissandi der Streicher, Holzbläserläufe, Harfen, Triangel und Glockenspiel werden raffiniert eingesetzt. Gerade auch in dieser Episode erweist sich Richard Strauss, der nach eigener Aussage bei der Arbeit an der Alpensinfonie erst richtig instrumentieren gelernt hatte, als wahrer Klangzauberer. Eine “Erscheinung”, ein Trugbild der Sinne, taucht — von der Oboe intoniert — hinter sprühenden Wasserschleiern auf. Dann führt die Wanderung über “blumige Wiesen” auf die “Alm” und weiter “durch Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen” (kontrapunktisch verschlungene, chromatische Tonfolgen) auf den “Gletscher”. Streichertremoli mit messerscharfen Sekundreibungen lassen keinen Zweifel, dass noch “gefahrvolle Augenblicke” zu überwinden sind. Bald jedoch ist der “Gipfel” erreicht. Eine kleine, stockende Oboenmelodie ist die erste Reaktion des sich seiner Kleinheit bewusst werdenden Menschen auf die Majestät der Bergwelt. Erst dann breitet sich in C-Dur-Seligkeit ein musikalisches Tableau aus. Unter dem Brausen der Orgel “tönt” die Sonne; in Trompeten, Posaunen und Tuben türmt sich das Bergmotiv auf. Dann suggerieren aufsteigende Triolen des Heckelphons und Sextolen der gedämpften Streicher eine geradezu unheimliche Stimmung. “Nebel steigen auf”, notiert an dieser Stelle der Komponist. “Die Sonne verdüstert sich allmählich”: Schon das von der Altoboe intonierte, jetzt seiner Leuchtkraft beraubte Sonnenthema verrät etwas von der elegischen Stimmung, die den Wanderer überfällt. Nach Augenblicken geheimnisvoller “Stille vor dem Sturm” (mit ängstlichen Warnrufen eines Murmeltiers in der Oboe) brechen “Gewitter und Sturm” los. Auch eine Wind- und Donnermaschine bietet Richard Strauss auf, um das Wüten der entfesselten Naturgewalten noch drastischer illustrieren zu können. Richard Strauss’ Alpensinfonie weist eine spiegel-symmetrische Anlage auf; in umgekehrter Reihenfolge — zum Teil auch in Umkehrung der Bewegungsrichtung — werden beim “Abstieg” vom “Anstieg” her bekannte musikalische Gedanken wieder aufgegriffen. Auch “Am Wasserfall” führt bei dieser hochartifiziellen Musikreportage erneut der Weg vorbei. Und am Ende schließt sich der Kreis, wenn nach dem “Sonnenuntergang” das Wanderthema nur noch schemenhaft in den Vierteltriolen der Violinen auftaucht und in einem b-Moll-Satz die Nacht die Natur in ihren schwarzen Mantel hüllt.
Richard Strauss hatte die in seinem Garmischer Haus im Angesicht der Berge komponierte Alpensinfonie — sein letztes programmgebundenes Orchesterwerk übrigens — dem Grafen Nicolaus Seebach und der Dresdner Hofkapelle “in Dankbarkeit gewidmet”. Bei der Urauf-führung in der Berliner Philharmonie dirigierte er am 28. Oktober 1915 das traditionsreiche Dresdner Orchester, während er noch im selben Jahr bei Aufführungen in Dresden (mit der Hofkapelle) und in Wien (mit den dortigen Philharmonikern) am Dirigentenpult stand. Schon einige Wochen danach nahmen sich auch Arthur Nikisch und Willem Mengelberg des neuen Werks an; in der New Yorker Carnegie Hall dirigierte Josef Stránský im Oktober 1916 die amerikanische Erstaufführung.
Eine vereinfachte Fassung der Riesenpartitur (ohne Orgel) legte Richard Strauss 1934 vor. Die Originalfassung erfordert eine Mindestbesetzung von 125 Musikern. Nur mit einem Aufwand exzessiver Klangmittel glaubte der Komponist — nur einige Jahre nach Mahlers “Symphonie der Tausend”, Schönbergs Gurreliedern oder Skrjabins Prométhée — der Größe des Vorwurfs gerecht werden zu können.
Hans Christoph Worbs
1/2014