Daniil Trifonov | News | Booklettext: Matthias Goerne, Daniil Trifonov: Lieder - 10.6.2022 (VÖ) (DE/EN)

Daniil Trifonov
Daniil Trifonov

Booklettext: Matthias Goerne, Daniil Trifonov: Lieder – 10.6.2022 (VÖ) (DE/EN)

29.04.2022
Please scroll down for English version
 
DIE STIMME DER PROPHETEN
Das vorliegende Album ist Matthias Goernes drittes Lied-Programm für Deutsche Grammophon: Das erste, mit Jan Lisiecki am Klavier, war Beethovens Liedern und damit den Anfängen der großen Geschichte des Kunstlieds gewidmet; danach erkundete er mit Seong-Jin Cho das flammende, von Tristan-Harmonien durchglühte Abendrot der Gattung. Jetzt, mit Daniil Trifonov am Klavier, betrachtet er das Lied eher aus einem metaphysischen als historischen Blickwinkel. 135 Jahre trennen Schumanns Dichterliebe (1840) und Schostakowitschs Michelangelo-Suite (1975) voneinander; die Zyklen von Brahms (1896), Wolf (1897) und Berg (1910) liegen zeitlich etwa in der Mitte. Alle diese Komponisten haben viele großartige Vokalwerke geschrieben, doch alle wuchsen durch die Begegnung mit außergewöhnlichen Dichtern über sich selbst hinaus: Schumann mit Heine, Brahms mit Luther, Wolf und Schostakowitsch mit Michelangelo. Wie Dante und Vergil in der Göttlichen Komödie dringen Musiker und Dichter gemeinsam zu den Abgründen der menschlichen Existenz vor und erkunden die großen Geheimnisse von Schicksal und Tod. Ahnherr dieser Abenteurer war Franz Schubert: Er zeigte ihnen den Weg und eröffnete diesen unendlich weiten Raum. Man denke nur an zwei Bilder: das Ende der Winterreise, wo sich Wanderer und Leiermann zusammentun, um das Unsagbare zu erzählen. Und Totengräbers Heimweh, wenn der Arbeiter immer tiefer gräbt, bis plötzlich das ewige Licht ganz unten im Grab aufleuchtet.
Als Tor zu dieser größeren Welt haben Goerne und Trifonov Alban Bergs Opus 2 gewählt – vier Lieder über den Schlaf, die einen zweifachen Weg gehen: vom Wachen zum Schlafen, aber auch von der Tonalität zur Atonalität, vom Bekannten zum Unbekannten. Das erste Lied wurzelt noch tief in der Spätromantik, während das letzte wie eine rätselhafte, seltsam fremde Vision erscheint, die uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint.
Schumanns Dichterliebe, ein Zyklus über die Unmöglichkeit der Liebe und die Unerträglichkeit des Seins, ist einer der Höhepunkte der Romantik: eine atemberaubende Folge von 16 Liedern, die wie ein ununterbrochener, von starken Gegensätzen geprägter Monolog wirken. Mit unerbittlicher Klarheit richtet Heine den Blick auf die Seelenzustände des Erzählers, und gemeinsam mit dem Dichter jagt Schumann ihrer Unbeständigkeit und Unordnung nach: Mal ist er lyrisch, mal sarkastisch oder finster, vor allem aber vergrößert er ständig den Abstand zwischen äußerer und innerer Welt. Der Zyklus beeindruckt mit außerordentlicher musikalischer Pracht, und es ist kein Zufall, dass Schumann ihn Wilhelmine Schröder-Devrient widmete, einer der großen Opernsängerinnen ihrer Zeit und unvergessen als Leonore und Senta. Das Klavier fungiert dabei nie als reines Begleitinstrument, sondern entwirft ständig wechselnde, teils gespenstische, teils klagende oder auch brutale Klanglandschaften. Natürlich ist der Tod der einzig mögliche Ausweg aus diesem Chaos, und es ist auch der Tod, der den Dichter, seine Liebe und seinen Schmerz auf den Meeresgrund führt. 1840 komponiert, also im Jahr der Heirat von Schumann und Clara Wieck, ist der Zyklus ein vergiftetes Hochzeitsgeschenk, eine Vorahnung der Demenzerkrankung, die den Komponisten schließlich dahinraffen sollte.
Ende des 19. Jahrhunderts lebten Brahms und Wolf beide in Wien – Brahms als einer der berühmtesten Musiker seiner Zeit, Wolf als ein von Existenzsorgen und mangelndem Erfolg Geplagter. Mit wenigen Monaten Abstand verfassten beide ihr musikalisches Testament. Als Textgrundlage wählte Brahms die Lutherbibel, Wolf dagegen Texte des Dichters, Bildhauers und Architekten Michelangelo, der als Inbegriff des genialen Menschen gelten darf. Doch wie durch ein Wunder waren beide durch Gedanken des Predigers Salomo verbunden: Es ist alles eitel, vanitas vanitatum et omnia vanitas. Wie bei früheren Werken plante Wolf vermutlich, eine größere Auswahl von Gedichten zu vertonen. Er vollendete jedoch lediglich drei Lieder, kurz bevor er dem Wahnsinn verfiel. Und die Tatsache, dass Wolf einen so willensstarken Dichter wie Michelangelo wählte, bezeugt vermutlich auch seine eigene Entschlossenheit, nicht unterzugehen. Zwei Lieder, in denen sich der Dichter der Welt stellt, umrahmen einen ergreifenden Moment, in dem die Toten sprechen und die Lebenden bedauern. Langsam erstarrt die Musik, verliert sich in der Stille und verwandelt sich in Marmor. In den letzten Monaten seines Lebens wandte sich auch Schostakowitsch Michelangelos Gedichten zu und zog daraus eine strenge, erschütternde Suite, das letzte Manifest eines Schöpfers im Angesicht der feindlichen Macht.
Die Vier ernsten Gesänge beschließen Brahms’ OEuvre, und man könnte sich kein kraftvolleres, erhabeneres Testament vorstellen. 30 Jahre nach dem Deutschen Requiem kehrte der Komponist zur Lutherbibel zurück, deren begeisterter Leser er war. Der ganze Zyklus ist erfüllt von Todesahnungen – am 20. Mai 1896 starb Clara Schumann, kaum ein Jahr später Brahms selbst. Der eisige, aber ewige Marmor Michelangelos ist hier ebenfalls präsent, denn Brahms widmete den Zyklus seinem Freund, dem Bildhauer Max Klinger. Das Lied »O Tod«, für Schönberg der absolute Höhepunkt in der Geschichte der Gattung, begrüßt den Tod mit außerordentlicher Sanftheit. Goerne und Trifonov haben hier eine Sammlung visionärer Werke zusammengestellt, in denen an den Pforten des Todes die furchterregende, aber tröstliche Stimme der Propheten erschallt.
Christophe Ghristi  
 
 
THE VOICE OF THE PROPHETS
This is Matthias Goerne’s third Lieder album for Deutsche Grammophon. His first, recorded with Jan Lisiecki, was devoted to Beethoven and the early days of the genre’s distinguished history. Together with Seong-Jin Cho, Goerne then focused on the final flames of its twilight years, coloured by the harmonies of Tristan und Isolde. This third recording, on which he is joined by Daniil Trifonov, considers the Lied from a metaphysical rather than historical perspective. A period of 135 years separates Schumann’s Dichterliebe (1840) from Shostakovich’s Suite on Verses of Michelangelo Buonarroti (1975), and the other song cycles presented here – works by Brahms (1896), Wolf (1897) and Berg (1910) – date from around halfway between the two. All five of these major composers wrote extensively and magnificently for the voice, but exceptional poetry inspired them to particularly great heights: for Schumann it was the words of Heine, for Brahms those of Luther, for Wolf and Shostakovich those of Michelangelo. So, like Dante and Virgil in The Divine Comedy, composer and poet journey together into the heart of the human condition and muse on the great mysteries of destiny and death. These adventurers had an illustrious forebear, Franz Schubert, who showed them the way and opened up this infinite space. Two images spring to mind: that conjured in the final song of his Winterreise, as the Wanderer and the Organ-Grinder come together to express the ineffable; and that of the gravedigger (in Totengräbers Heimweh) who digs deeper and deeper and, at the bottom of the grave, suddenly finds eternal light.
Goerne and Trifonov have chosen Alban Berg’s op. 2 songs, four evocations of sleep, as their gateway into this expanded dimension of the world. Berg here follows a dual path, one that leads from wakefulness to sleep, but also from tonality to atonality, the known to the unknown. While the first song is s till rooted in post-Romanticism, the last is an enigmatic and disturbingly strange vision, in which the ground seems to give way beneath us.
Schumann’s Dichterliebe, a tale of the impossibility of requited love and the near-impossibility of life, is one of the pinnacles of Romanticism: a dizzying succession of sixteen Lieder, unfolding like an uninterrupted soliloquy, but s hot through with violent contrasts. Heine chronicles his narrator’s different states of mind with cruel lucidity, and Schumann joins him in pinning down their fitfulness and disorder – alternating between lyricism, sarcasm and depression and, above all, creating an ever wider gap between the real and the inner world. The cycle’s musical splendours are dazzling, and it is no coincidence that it was dedicated to one of the greatest opera singers of the day, Wilhelmine Schröder-Devrient, especially acclaimed for her portrayals of Leonore and Senta. The piano never gives the impression of accompanying the text but instead conjures a constantly changing mental landscape around it which is by turns spectral, plaintive or brutal. Of course, the only escape from this chaos is death, and it is death that carries the poet, his love and his suffering to the bottom of the sea. Composed in 1840, the year of Schumann’s marriage to Clara Wieck, Dichterliebe was a poisoned wedding present, a premonition of the dementia that would ultimately kill him.
At the end of the nineteenth century, both Brahms and Wolf were living in Vienna. The former was one of the most successful composers of his time; the latter was struggling with life and success. Within the space of a few months, each of them wrote his musical last will and testament. Brahms took his texts from the Luther Bible. Wolf, meanwhile, opted for the supreme human genius – the poet, artist and architect Michelangelo. By some miracle, however, both chose words that reflect the theme of the opening chapter of Ecclesiastes: vanity of vanities, all is vanity, vanitas vanitatum et omnia vanitas. Wolf had probably planned to set a wider selection of Michelangelo’s poems, as he had done with other poets in the past, but only three songs survive, composed shortly before insanity took hold of the composer’s mind. The choice of such a voluntarist poet probably also testifies to his own desire not to founder. Two Lieder in which the poet confronts the world frame a striking setting in which the dead speak, warning the living of their fate. The music gradually freezes and, bordering on silence, turns to marble. Shostakovich too was drawn by the poems of Michelangelo in the final months of his life, producing an austere and moving suite, the creator’s last manifesto in the face of the adversity of power.
The Vier ernste Gesänge stand as Brahms’s final published work, and as a legacy of the utmost nobility and potency. Thirty years after the Deutsches Requiem, he had returned to Luther’s translation of the Bible, a text close to his heart. The cycle is haunted throughout by the spirit of impending death – that of Clara Schumann (20 May 1896) and Brahms’s own, less than a year later. There is an evocation here too of icy but eternal marble, as the cycle is dedicated to the composer’s sculptor friend Max Klinger. “O Tod”, which Schoenberg considered to be one of the very finest Lieder ever written, welcomes death with extraordinary gentleness. In bringing together this collection of visionary works dealing with the contemplation of death, Goerne and Trifonov allow us to hear the awe-inspiring yet consoling voice of the prophets.
Christophe Ghristi

Weitere Musik von Daniil Trifonov

Mehr von Daniil Trifonov