Evgeny Kissin | News | Booklettext: Evgeny Kissin "The Salzburg Recital" - 2.9.2022 (VÖ) (DE/EN)

Evgeny Kissin
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Booklettext: Evgeny Kissin “The Salzburg Recital” – 2.9.2022 (VÖ) (DE/EN)

01.07.2022
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»VOR PUBLIKUM BIN ICH EINFACH INSPIRIERTER«
Als Glenn Gould 1964 sein letztes Konzert gab, um fortan nur noch Platten einzuspielen, begründete er das mit der »Blutgier« des Publikums. Der Konzertbesucher, in Goulds Wahrnehmung offenbar ein ziemlich sadistischer Zeitgenosse, warte doch nur auf die Fehler des Solisten. Überhaupt werde in hundert Jahren das Live-Konzert überflüssig sein, weil die Leute dann perfekte Aufnahmen aus Lautsprechern vorziehen würden. Noch ist es zu früh für ein endgültiges Urteil über diese Vorhersage, doch nach etwas mehr als der Hälfte des prognostizierten Restlebens für die Institution des öffentlichen Konzerts steht es nicht besonders gut um Goulds Prophezeiung. Im Gegenteil: Nicht das Studio verdrängt den Konzertsaal, viel eher ist es umgekehrt, und Live-Mitschnitte vor Publikum werden immer mehr zum Goldstandard aufgenommener Musik.
Für Evgeny Kissin jedenfalls ist die Bühne kein Ort zum Fürchten: »Bei Live-Aufnahmen bin ich immer besser, als wenn ich im Studio spiele. Vor Publikum bin ich einfach inspirierter.« Kissin erlebt die Aufmerksamkeit des Publikums völlig konträr zu Gould: nicht als sadistisch und destruktiv, sondern als eine beglückende Quelle von Ideen. So stark inspiriert das zuhörende Gegenüber Kissins Interpretation, dass es manchmal schon reicht, wenn ein Publikum nur imaginär anwesend ist: »Wenn ich ein neues Stück in einem leeren Konzertsaal spiele, verändert allein die Atmosphäre des Saals mein Spiel.«
Umso wichtiger war es, und dies natürlich nicht nur für Kissin, dass die Salzburger Festspiele auch während der Pandemie 2020 und 2021 das Live-Erlebnis mit ebenso großer Umsicht wie Konsequenz lebendig hielten: Der unmittelbare Austausch zwischen Spielenden und Hörenden ist durch nichts zu ersetzen. Am 14. August 2021 war das Große Festspielhaus nicht nur ausverkauft, sondern auch voll besetzt – in Pandemiezeiten ja keineswegs selbstverständlich. Hungrig war dieses durch Lockdowns dem Konzertsaal entwöhnte Publikum ganz sicher nicht nach Fehlern, wie Gould wähnte, sondern nach lebendiger Musik in gemeinsam erlebter Echtzeit: die ideale Inspirationsquelle für Evgeny Kissin.
Mit seinem eigenwilligen Programm verblüffte Kissin nicht wenige Kritiker, wie die Presseresonanz zeigte. Die erste Konzerthälfte kombiniert drei Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts aus ganz unterschiedlichen Musiktraditionen: Österreich, Russland und den USA. Alban Bergs Opus 1, seine einzige Klaviersonate, ist einsätzig. Berg hatte zunächst mehrere Sätze geplant, doch nach dem ersten Satz wollte ihm nichts Rechtes mehr einfallen. Sein Lehrer Arnold Schönberg ermutigte ihn, aus der Not eine Tugend zu machen: »Nun, so haben Sie eben alles gesagt, was zu sagen war.« Für Schönberg kam Kunst »nicht von Können, sondern von Müssen«. Berg war der gleichen Überzeugung: Der Rede wert ist nur, was einem unstillbaren Ausdrucksbedürfnis entspringt. Und davon zeugt dieses meisterhafte Opus 1 in jedem Takt. Die Atmosphäre ist erotisch aufgeladen und pendelt zwischen Sehnsucht und leidenschaftlicher Erregung. Das Treibhaus-Klima von Wagners Tristan prägt diese Musik. Doch bei aller Expressivität ist sie strukturell unglaublich dicht gefügt. Kissin spielt sie in einem eher ruhigen Tempo, was sowohl den Ausdruck intensiviert als auch die Struktur klarer macht: Das Ohr kann so den kunstvoll ineinander verwobenen Motiven leichter folgen, die Kissin minuziös herausarbeitet.
Tichon Chrennikov ist im Westen vor allem bekannt für seine Tätigkeit als Generalsekretär des mächtigen sowjetischen Komponistenverbandes, dem er eine gefühlte Ewigkeit lang, von 1948 bis 1992, vorstand. In dieser Funktion hielt er mehrfach Reden, in denen er gegen »Modernismus«, »Formalismus« und »volksfremde Dekadenz« wetterte. Dabei hatte er zu Beginn seiner Karriere selbst dem später verfemten »Modernismus« gehuldigt. Die von Evgeny Kissin sorgfältig ausgewählten Werke komponierte Chrennikow Mitte der 1930er-Jahre mit Anfang 20 und sie zeigen ihn, kraftvoll dissonant und im sicheren Besitz der kompositorischen Mittel der Moderne, auf den Spuren von Sergei Prokofjew.
Als »dekadent« wurde unter Stalin nicht nur die Avantgarde gebrandmarkt, sondern auch der Jazz. Und doch teilen die Musik von Tichon Chrennikow und George Gershwin zumindest ein Merkmal: die rhythmische Vitalität. Gershwins drei Preludes for Piano entstanden 1926 und greifen typische Rhythmen der damaligen Unterhaltungsmusik auf: Charleston, Blues und Foxtrott. Ein ausgesprochener Gershwin-Fan war Alban Berg; u.a. ließ er sich eine Aufnahme der Rhapsody in Blue, weil sie in Wien noch nicht verfügbar war, in einem sündhaft teuren Ferngespräch aus New York vorspielen. Und so erweist sich Kissins ungewöhnliche Programmzusammenstellung als überraschend stimmig.
Den Auftakt zur zweiten Konzerthälfte, die ganz der Musik Frédéric Chopins gewidmet ist, macht das grüblerische H-Dur-Nocturne op. 62/1. Kissin spielt diese hochemotionale, radikal subjektive Musik frei von aller Larmoyanz. So wird aus dem sonst oft wohlig dahinplätschernden Nocturne eine nächtlich-nachdenkliche Meditation. Danach folgen die drei Impromptus. Ein improvisatorischer Zug gehört generell zur Musik Chopins. In den Impromptus (wörtlich: »aus dem Stegreif «) wird dieses Moment zum Thema gemacht: Die Musik klingt gewissermaßen, als würde sie spontan unter den Fingern hervorquellen.
Auch Chopin war inspiriert von der Popularmusik seiner Zeit, etwa der Polonaise, die allerdings im historischen Kontext auch als politisches Statement verstanden werden darf: Die polnische Nation kämpfte gegen die Unterdrückung durch den russischen Zaren. Deutlich früher als die Polonaise héroique (1843) entstand das Scherzo Nr. 1 op. 20. Die Weihnachtstage des Jahres 1830 verbrachte Chopin erstmals fern der Heimat, in der gerade der Aufstand gegen die russische Fremdherrschaft auf einen blutigen Höhepunkt zustrebte. »Wenn ich könnte, würde ich alle Töne in Bewegung setzen, die mir vom blinden, wütenden, entfesselten Gefühl eingegeben werden«, schrieb Chopin. Kompromisslos bricht der 20-Jährige mit allen Konventionen des gefälligen style brillant. Die Virtuosität dient nur dem Ausdruck, und der kündet von Schmerz und Zorn.
Womöglich noch bizarrer ist das zerklüftete Scherzo Nr. 2 op. 31, geprägt vom plötzlichen Wechsel zwischen düsterer Dramatik und euphorischen Energieschüben. Ein so herausforderndes Werk hört man auch nicht alle Tage als Zugabe. Doch der Clou im umfangreichen Zugabenblock ist ein eigenes Werk des komponierenden Virtuosen Evgeny Kissin: Sein »Zwölfton-Tango« lässt lustvoll ausgekostete Dissonanzen ganz unmittelbar in sinnliches Vergnügen umschlagen. Der Jubel, mit dem das Festspielpublikum darauf antwortet, beweist aufs Schönste, dass sich das kommunikative Potenzial der Musik nur in der Live- Situation wirklich entfalten kann.
Bernhard Neuhoff 
IN MEMORIAM ANNA PAVLOVNA KANTOR
Meine Lehrerin Anna Pavlovna Kantor hat diese Welt am 27. Juli 2021 verlassen; sie war 98 Jahre alt. Schon bald, nachdem ich mein Studium bei ihr begonnen hatte, war Anna Pavlovna für mich viel mehr als eine Lehrerin: Sie war in all den Jahren eine echte Freundin, eigentlich ein Familienmitglied. Sie war unserer Familie sehr nahe — und vor 30 Jahren ist sie schließlich zu uns gezogen. Sie war meine einzige Klavierlehrerin. Und alles, was ich auf dem Klavier zu tun vermag, verdanke ich ihr. Sie war wirklich eine bemerkenswerte Frau, ein Mensch von seltener Integrität und Feinheit. Ich widme diese Aufnahme dem Andenken an Anna Pavlovna.
Evgeny Kissin
 
 
“I’M SIMPLY MORE INSPIRED IN FRONT OF AN AUDIENCE”
In 1964 Glenn Gould gave his final concert, thereafter to devote himself entirely to the recording studio. The reason, he said, was the “blood lust” of the audience; to his eyes, concertgoers were evidently a fairly sadistic lot who only waited for the pianist to make mistakes. Indeed, he continued, in a hundred years’ time live concerts will be superfluous because listeners will prefer to hear perfect recordings from loudspeakers. It’s still too early to issue a final verdict on his prediction. But today, now that the institution of the public concert has passed more than half of the predicted remainder of its life, things do not look particularly good for Gould’s prophecy. On the contrary, not only has the studio failed to suppress the concert hall, but the opposite is the case: live recordings before an audience are increasingly becoming the gold standard in recorded music.
In any event, the concert stage holds no terrors for Evgeny Kissin. “I’m always better on live recordings than when I play in a studio”, he says; “I’m simply more inspired in front of an audience.” His view of the audience’s attention is the exact opposite of Gould’s: rather than being sadistic and destructive, it is an exhilarating font of ideas. His performances are so inspired by the listening vis-à-vis that it sometimes suffices when the audience exists only in his imagination: “When I play a new piece in an empty concert hall, the very atmosphere of the hall changes my playing.”
It was thus all the more important – not only for Kissin, of course – that the Salzburg Festival kept the “live experience” alive, with care and circumspection, during the covid pandemic of 2020–21. Nothing can replace the direct interchange between performers and listeners. On 14 August 2021, the Great Festival Hall was not only sold out, but every seat was occupied – nothing to be taken for granted during a pandemic. The audience, weaned off the concert hall by the lockdown, was certainly not hungry for mistakes, as Gould surmised, but for living music experienced together in real time – Evgeny Kissin’s ideal source of inspiration.
The idiosyncratic programme puzzled not a small number of critics, as the media response showed. The first half of the recital united three early 20th-century composers from wholly contrary musical traditions: Austria, Russia and the United States. Alban Berg’s Opus 1, his only piano sonata, is cast in a single movement. Initially he planned to write several movements, but nothing usable occurred to him after the first. His teacher, Arnold Schoenberg, encouraged him to make a virtue of necessity: “Well, you’ve simply said all there was to say.” To Schoenberg, art arises “not from ability, but from compulsion”. Berg was of the same mind: the only things worth talking about were those that emerged from an insatiable urge towards expression. And every bar of Berg’s masterly opus bears witness to this belief. The atmosphere is erotically charged, vacillating between longing and perfervid passion. The music exudes the hothouse atmosphere of Wagner’s Tristan. But for all its expressivity, it is incredibly tight-knit in its construction. Kissin plays it at a somewhat calm tempo, which both intensifies the expression and clarifies the structure: the ear can more easily follow the artfully interwoven motifs that he so fastidiously highlights.
In the West, Tikhon Khrennikov is primarily known as the secretary-general of the powerful Union of Soviet Composers, over which he presided from 1948 to 1992, seemingly an eternity. In this capacity, he held various speeches to denounce “modernism”, “formalism” or “alien decadence”. But in his early years, Khrennikov himself paid homage to the same “modernism” he later castigated. Evgeny Kissin has carefully selected pieces from the mid- 1930s that Krennikov composed while still in his early 20s. Powerfully dissonant and in full command of the compositional resources of modernism, they show him following in the footsteps of Sergei Prokofiev.
Under Stalin, not only was the avant-garde tarred as “decadent”, so was jazz. Yet the music of Tikhon Khrennikov and George Gershwin have at least one feature in common: rhythmic vitality. Gershwin’s Three Preludes for Piano, written in 1926, take up rhythms typical of the light music of their day: Charleston, blues and foxtrot. Alban Berg was an avid fan of Gershwin: he even had a recording of Rhapsody in Blue, then unavailable in Vienna, played to him from New York via a forbiddingly expensive telephone call. In this sense, Kissin’s unusual programme proves to be surprisingly apt.
The second half of the recital is devoted entirely to the music of Frédéric Chopin. It opens with the brooding Nocturne in B major op. 62/1, an emotion-laden, radically subjective piece that Kissin plays without a hint of mawkishness. The Nocturne, so often played with a lazy undulating flow, is thereby transformed into a pensive night-time meditation. It is followed by three Impromptus. In general, Chopin’s music harbours a touch of the improvised. In the Impromptus (literally “off the cuff”), this element is made the underlying theme: the music sounds as if emerging spontaneously beneath the fingers.
Chopin, too, was inspired by the popular music of his day. One example is the polonaise, which, in the context of his era, might also be viewed as a political statement. The Polish nation was locked in a struggle against Tsarist suppression. Dating much earlier than the Polonaise héroique of 1843 is the Scherzo No. 1 (op. 20). In 1830 Chopin, for the first time, spent the Christmas season far from home, where the rebellion against Russian rule was about to reach a gory climax. “If I could”, he wrote, “I would set in motion every note inspired in me by blind, raging, unchained emotion.” The 20-yearold composer severed any and all ties with the conventions of the ingratiating style brilliant. From then on, virtuosity was wholly subservient to expression, and the expression tells of sorrow and wrath.
Perhaps even more bizarre is the jagged Scherzo No. 2 (op. 31), marked by sudden switches from bleak drama to euphoric outbursts of energy. It is not every day that we hear such a challenging work as an encore. But the pièce de resistance among the encore items is a work from the very own pen of piano virtuoso Evgeny Kissin: his Dodecaphonic Tango lets deliciously savoured dissonance turn all of a sudden into sensual delight. The rousing cheers from the audience are proof positive that music’s communicative potential can reach full fruition only in the surroundings of a live performance.
Bernhard Neuhoff
IN MEMORIAM ANNA PAVLOVNA KANTOR
My old teacher Anna Pavlovna Kantor left this world on 27 July 2021. She was 98 years old. Soon after I began my studies with her, Anna Pavlovna became for me much more than a teacher: during all these years, she has been a real friend, like a family member. She became very close to our whole family, and 30 years ago she moved to live with us. She was my only piano teacher, and everything I am able to do on the piano I owe to her. She was a truly remarkable woman, a person of rare integrity and purity. I am dedicating this recording to Anna Pavlovna’s memory.
Evgeny Kissin  

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