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»EIN UNSTETER STERN, WECHSELND IMMERFORT«
Kastraten, Primadonnen und Arien »auf Wanderschaft«
Unter den Komponisten der »Neapolitanischen Schule« gilt Leonardo Vinci als einer der reinsten Vertreter des vorgalanten Stils, der sich um 1720 zu entwickeln begann und dessen Musiksprache auf eine neue Sängergeneration zielte, die sich dem canto fiorito, dem Koloraturgesang, verschrieben hatte. Anders als etwa Leonardo Leo, der eher eine Versöhnung zwischen dem spätbarocken kontrapunktischen Erbe und dem »modernen Stil« anstrebte, setzte Vinci ganz auf die charakteristischen Elemente der neuen Musiksprache: Vorrang der Melodie, langsame Harmoniewechsel, standardisierte Begleitfiguren und geschmackvolle Verzierungen. Diese Stilmittel verwendete er zunächst in den musikalischen Komödien, die er bis 1724 schrieb. Anschließend verlegte er sich auf ernste Opern, womit er Metastasios ersten Libretti zum Durchbruch verhalf: Vinci verfasste die zweite Vertonung von Didone abbandonata (die erste stammt von Domenico Sarro) sowie die jeweils erste von Siroe re di Persia, Catone in Utica, Semiramide riconosciuta, Alessandro nell’Indie und Artaserse.
Vincis sechste ernste Oper La Rosmira fedele (Venedig, Karneval 1725) basiert auf einem Libretto von Silvio Stampiglia aus dem Jahr 1699, das unter anderem bereits 1722 von Sarro vertont worden war. Vinci verwendete hier die Rezitative seines Kollegen wieder (normalerweise wurden sie von Grund auf neu gesetzt) und komponierte nur die Arien neu. Carlo Scalzi, der die Rolle des Arsace übernahm, arbeitete von 1725 bis 1730 regelmäßig mit Vinci zusammen und sang auch Turno in Il trionfo di Camilla (1725) sowie Vitige in L’Ernelinda (1726). »Barbara mi schernisci« gehört zu den insgesamt fünf Arien des primo uomo und ist eine Klage des Protagonisten über die abweisende Haltung der Prinzessin Rosmira: Das getragene, von punktierten Rhythmen geprägte Moll-Lamento erreicht seinen expressiven Höhepunkt im zweiten Teil mit einigen unerwarteten Modulationen. Noch im selben Jahr (1725) verwendete Händel diese Musik in London in seinem Pasticcio Elpidia wieder und übertrug sie dabei einem Sänger der vorangegangenen Generation: Francesco Bernardi, genannt »Senesino«.
Im Frühjahr 1725 wurde in Parma Vincis Il trionfo di Camilla aufgeführt; das ursprünglich von Stampiglia stammende Libretto hatte Carlo Innocenzo Frugoni, der damals im Dienst des Herzogs Francesco Farnese stand, für die Neufassung adaptiert. Der Herzog holte auch die Besetzung von Rosmira fedele nach Parma; in der Rolle von Camilla, Königin der Volsker, brillierte Faustina Bordoni, Hasses spätere Ehefrau und bevorzugte Interpretin. In der Arie »Sembro quell’usignolo« vergleicht sich die als Hirtin verkleidete Königin mit einer Nachtigall, die sich auf der Suche nach Freiheit einer bedrohlichen Gefahr gegenübersieht. Die Komposition verbindet die gewohnte Form der Dacapo-Arie mit einem Fugato. In der lieblichen Pastorale »Più non so finger sdegni« verkündet Camilla nach der Rückeroberung ihres Reiches, sie werde sich nicht an ihren Feinden rächen. Auch diese Nummer verwendete Händel in Elpidia wieder; die Solistin war Faustinas große Rivalin Francesca Cuzzoni.
In der venezianischen Karnevalssaison 1726 sang der Tenor Giovanni Paita die Rolle des Königs Cosroe in Siroe re di Persia. Johann Joachim Quantz hörte ihn bei dieser Gelegenheit und lobte ihn für die perfekte Verschmelzung von Kopf- und Brustregister, meisterhafte Ausführung der Adagios und Schlichtheit der Koloraturen. Paita war auf Herrscher- und Tyrannenrollen spezialisiert und trug in der von Kastraten dominierten Ära maßgeblich zur Profilierung der Tenorstimme bei. Im hier herangezogenen Manuskript ist die Arie »Gelido in ogni vena« in der Originaltonart, aber im Sopranschlüssel notiert; insofern kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie bei anderer Gelegenheit von einem Kastraten gesungen wurde. Der Abbé de Saint-Non nannte Arien wie diese arie d’ostinazione, bei denen eine durchgehende Begleitfigur für ein Naturphänomen steht; hier illustrieren Sechzehntel in den zweiten Geigen, wie dem entsetzten Cosroe das Blut in den Adern gefriert.
Die Arie »Sorge talora fosca l’aurora« aus L’Ernelinda (Neapel 1726) sang damals Carlo Scalzi; die Oper basiert auf Francesco Silvanis Libretto La fede tradita e vendicata (1704), das Carlo de Palma für Vinci adaptierte. In L’Ernelinda geht der Arie das Accompagnato »Ove corri? Ove vai?« voraus, in dem Vitige an dem Gedanken verzweifelt, seine Geliebte Ernelinda sei ihm feindlich gesinnt und sein Freund Ricimero sein Rivale; die Arie selbst, in der Vitige neue Hoffnung schöpft, hatte Vinci bereits ein Jahr zuvor in Il trionfo di Camilla Faustina Bordoni anvertraut. »Nube di denso orrore« hingegen, ursprünglich ebenfalls für Scalzi in L’Ernelinda komponiert, verwendete Vinci in seiner nächsten, ebenfalls im Mittelalter spielenden Oper Gismondo re di Polonia (Rom 1727) wieder; dort sang sie Giacinto Fontana, genannt »Farfallino«, in der Rolle der Cunegonda.
Insgesamt sechs Arien aus L’Ernelinda wurden in Gismondo wiederverwendet, aber »Nave altera« und »Quell’usignolo« wurden eigens für diese Oper geschrieben. Die Sturmarie »Nave altera«, in der König Primislao zwischen seiner Liebe zum Frieden und seinem politischen Stolz hin- und hergerissen ist, war ursprünglich für den Tenor Antonio Barbieri bestimmt, ging dann aber im Pasticcio L’abbandono di Armida (1729) an die Sopranistin Caterina Giorgi. In »Quell’usignolo«, das Vinci für den Kastraten Filippo Balatri schrieb, beschwören zwei obligate Blockflötenstimmen – ganz im Einklang mit dem lautmalerischen Kanon des 18. Jahrhunderts – Vogelstimmen herauf.
Die beiden Arien aus Medo (Parma 1728) wurden seinerzeit vom größten Kastraten des Jahrhunderts interpretiert: Carlo Broschi, genannt »Farinelli«. Die ursprünglich für die Rolle des Giasone komponierte Arie »Scherzo dell’onda instabile« übernahm Farinelli 1729 in Leonardo Leos Metastasio- Oper Catone in Utica; Vinci hatte dasselbe Libretto bereits ein Jahr zuvor vertont. Hier steht der Sturm einmal nicht metaphorisch für Seelenqualen, sondern entspricht der realen Situation dieser Szene: Giasone/Farinelli »naht auf dem Fluss auf einem schiffbrüchigen Kahn und geht an Land«. Die Nummer »Sento due fiamme in petto« hat eine ganz andere Funktion: Giasone ist zwischen seiner früheren Liebe zu Medea und seiner neuen Flamme Enotea hin- und hergerissen – ohne zu wissen, dass Letztere die verkleidete Medea ist.
In der Spielzeit 1729/30 nahm das römische Teatro delle Dame Vinci für die beiden Metastasio-Opern Alessandro nell’Indie und Artaserse unter Vertrag. Den Protagonisten sang beide Male der Altkastrat Raffaele Signorini, den einige Quellen auch als Sopran führen. In Alessandros Arie »Vil trofeo« wetteifert die Gesangsstimme virtuos mit der Trompete, doch im Dacapo lässt der typisch heroische Duktus Raum für überraschende Mollschattierungen.
Artaserse war Vincis letzte Oper, der sehr plötzlich unter ungeklärten Umständen starb (möglicherweise als Opfer einer Rache aus Liebe). Sein vorzeitiger Tod hinterließ eine Lücke, die vor allem Hasse füllte, der zum Großmeister der metastasianischen Opernkomponisten aufstieg und in Europa weit größere Erfolge feierte als die meisten seiner italienischen Kollegen.
Roberto Scoccimarro
“A STAR CHANGING ITS APPEARANCE”
Of travelling castratos, prima donnas and arias
Among the composers of the “Neapolitan School”, Leonardo Vinci is seen as one of the purest exponents of the pre-galant style which developed around 1720 – a musical language closely associated with the emergence of a new generation of performers who adopted the ornamented style of singing known as canto fiorito. Unlike a composer such as Leonardo Leo, who attempted to combine the contrapuntal legacy of the late Baroque with the new style, Vinci employed all the key linguistic elements of the latter: a focus on the melodic line, a slowing of harmonic rhythm, standardized forms of accompaniment and plenty of ornamentation. In the first part of his career he applied these stylistic traits to comic opera, a genre to which he dedicated himself until 1724. Thereafter he focused on dramma serio, playing a fundamental role in the success of Metastasio’s early librettos: he was the second composer to set Didone abbandonata (the first was Domenico Sarro) and the first to set Siroe re di Persia, Catone in Utica, Semiramide riconosciuta, Alessandro nell’Indie and Artaserse.
The libretto of Vinci’s sixth serious opera, La Rosmira fedele (Venice, carnival season 1725), was written in 1699 by Silvio Stampiglia and had previously been set by, among others, Sarro in 1722. Vinci reused Sarro’s recitatives (standard practice was to write new recitatives) but composed new arias for the occasion. The singer cast as Arsace, Carlo Scalzi, worked with Vinci many times between 1725 and 1730, playing both Turno in Il trionfo di Camilla (1725) and Vitige in L’Ernelinda (1726). Of Rosmira’s five “primo uomo” arias, “Barbara mi schernisci” sees Arsace lamenting the scorn directed at him by Princess Rosmira: notable for its minor mode, slow tempo and dotted rhythms, it reaches its expressive peak in the unexpected modulations of the second section. The aria was recycled by Handel in 1725 in London for the pasticcio Elpidia, where it was performed by a singer of the previous generation, Francesco Bernardi (known as “Senesino”).
Vinci’s Il trionfo di Camilla was staged in Parma in the spring of 1725. The libretto, again by Stampiglia, was adapted for Vinci by Carlo Innocenzo Frugoni, then in the service of Duke Francesco Farnese. It was the duke who brought to Parma the cast from Rosmira fedele, chief amongst whose ranks was Faustina Bordoni, favourite singer of Johann Adolf Hasse – and his future wife – who played the title role, Camilla, Queen of the Volsci. In “Sembro quell’usignolo”, the queen, disguised as a shepherdess, compares herself to a bird who longs for freedom but has to contend with an impending threat. The composition combines the usual da capo aria structure with fugato technique. In the gentle, pastoral “Più non so finger sdegni”, Camilla, her land reconquered, resolves not to take revenge on the man who usurped her throne. This aria too reappeared in Elpidia, where it was sung by Faustina’s great rival Francesca Cuzzoni.
In Siroe re di Persia, staged in Venice in 1726, King Cosroe was played by tenor Giovanni Paita. His performance was heard by Johann Joachim Quantz, who praised him for his ability “to combine the head and chest registers”, as well as for his mastery in performing adagios and his measured use of canto fiorito. In an age dominated by castratos, Paita helped establish the tenor voice, specializing in playing kings and tyrants. In the manuscript used for this recording, “Gelido in ogni vena”, although in the original key, is written in the soprano clef, and so its reuse for a castrato voice in another context cannot be excluded. The traveller Jean-Claude Richard de Saint-Non defined arias such as this as arie d’ostinazione, where a persistent accompaniment figure – in this case, semiquavers in the second violins – symbolizes a natural phenomenon, here the feeling of fear making the blood run cold.
“Sorge talora fosca l’aurora” was sung by Carlo Scalzi in L’Ernelinda (Naples 1726), an opera based on Francesco Silvani’s libretto La fede tradita e vendicata (1704), adapted for Vinci by Carlo de Palma. In L’Ernelinda the aria is preceded by the recitativo accompagnato “Ove corri? Ove vai?”, in which Vitige despairs at the thought that the woman he loves, Ernelinda, is his enemy and his friend Ricimero has become his rival; the aria, in which he begins to hope again, had already been entrusted by Vinci a year earlier to Faustina in Il trionfo di Camilla. “Nube di denso orrore”, on the other hand, was newly written for Scalzi in L’Ernelinda and then reappeared in Gismondo re di Polonia (Rome 1727) which, like L’Ernelinda, is set in medieval Europe. In Gismondo it was sung by Giacinto Fontana, known as “Farfallino”, playing the female role of Cunegonda.
A total of six arias from L’Ernelinda were reused in Gismondo, but “Nave altera” and “Quell’usignolo” were newly composed for the later work. The storm aria “Nave altera”, expressing the way in which Primislao is torn between his love of peace and his political pride, was originally conceived for the tenor Antonio Barbieri, but was then added to the pasticcio L’abbandono di Armida (1729) and performed by the soprano Caterina Giorgi. “Quell’usignolo”, written for the castrato Filippo Balatri, features two obbligato recorders that follow eighteenth-century word-painting conventions in evoking the song of the nightingale.
The two arias from Medo, staged in Parma in 1728, were sung by the greatest castrato of the century, Carlo Broschi, known as “Farinelli”. “Scherzo dell’onda instabile”, originally written for the role of Giasone (Jason), was inserted by Farinelli into Leo’s version of Catone in Utica (1729), whose Metastasian libretto had first been set by Vinci himself a year earlier. For once, the storm represented in the aria is not a metaphor for a psychological condition, but a depiction of reality: in this scene, Giasone-Farinelli “steers his storm-damaged vessel to shore, then disembarks”. “Sento due fiamme in petto” has an entirely different function, in which Giasone confesses his heart is torn between his old flame Medea and the new woman in his life, Enotea, unaware that the latter is none other than Medea in disguise.
In the 1729/30 season Vinci was commissioned by Rome’s Teatro delle Dame to set two Metastasio librettos, Alessandro nell’Indie and Artaserse. The protagonist in both works was played by Raffaele Signorini, an alto castrato sometimes listed as a soprano. Alessandro’s aria “Vil trofeo” sets up a virtuosic contest between voice and trumpet, but in the da capo section surprisingly dark, minor-key nuances replace the conventionally heroic tone.
Artaserse proved to be Vinci’s last opera – the composer died suddenly in mysterious circumstances (possibly killed in revenge for an illicit love affair). The void left by his premature demise was primarily filled by Hasse, destined to become the Metastasian composer par excellence, achieving the kind of Europe-wide success that eluded some of his Italian colleagues.
Roberto Scoccimarro