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IVES: VIER SYMPHONIEN
Charles Ives war ein Einzelgänger, als Mensch wie als Musiker. Er stand außerhalb des künstlerischen Mainstreams seiner Zeit, und in seinen zukunftsweisenden, visionären Werken nahm er atonale, experimentelle und avantgardistische Techniken vorweg, die andere Komponisten erst Jahrzehnte später erproben sollten. Gleichzeitig war seine Ästhetik geprägt von den populären Hymnen, Volksliedern, patriotischen Märschen und Ragtime-Stücken, mit denen er aufgewachsen war. Und dass er dazu neigte, mit tradierten Formen zu brechen, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er an der Yale University bei Horatio Parker eine solide Ausbildung in Harmonie, Kontrapunkt und Orchestrierung genossen hatte.
Seine Erste Symphonie schrieb Ives von 1895 bis 1898. In späteren Jahren tat er sie ab als akademische Abschlussarbeit, die Parkers konservativem Geschmack entsprechen musste. Beim ersten Hören fällt es denn auch keineswegs leicht, den Komponisten dieses Werkes zu erraten, das jedoch in jedem Moment durch melodischen Reichtum, rhythmischen Überschwang und eine farbenfrohe Orchestrierung zu fesseln weiß. Das erste Klarinettenthema erinnert in seiner entwaffnenden Fröhlichkeit an Dvořák, auch wenn in der Durchführung des Kopfsatzes eine aufsteigende Akkordfolge bereits leise auf Ives’ allerletztes Werk vorausweist, eine Vertonung des 90. Psalms. Der zweite Satz orientiert sich mit seinem Englischhorn-Solo und den Spiritual-Zitaten unüberhörbar am Vorbild des berühmten Largos aus Dvořáks Symphonie »Aus der Neuen Welt«. Ein intensiver Dialog der Streicher und Holzbläser prägt die geschäftige Kontrapunktik des Scherzos. Das abschließende Finale entfesselt ein wahres Feuerwerk der Ideen, und mit einigen überraschenden und witzigen Modulationen wollte Ives vielleicht auch ein wenig seinen Lehrer foppen.
Seine Zweite Symphonie schrieb Ives überwiegend im Jahr 1902, und sie schlägt eine Brücke von seiner europäischen Prägung und Ausbildung zu seinen amerikanischen Wurzeln. Der fugierte Kopfsatz wirkt wie eine Mischung aus Bach’scher Strenge und Brahms’scher Dichte, ergänzt durch einige flüchtige melodische Anleihen beim ersten Satz von Dvořáks Achter Symphonie. Der zweite Satz (Allegro) schlägt einen grundlegend anderen Ton an mit einem Thema, das auf dem Bürgerkriegslied Wake Nicodemus basiert und auf Bringing In the Sheaves, einer Hymne, die Ives auch in vielen anderen Werken zitiert hat. In der Durchführung klingen die vorwärtsdrängenden Rhythmen von Brahms’ Erster Symphonie an. Der dritte Satz (Adagio cantabile) spickt seine ausladenden, romantischen Melodien mit so vielen harmonischen Überraschungen, dass die üppige Klangwelt nie in falscher Sentimentalität versinkt. Gospelexperten werden Beulah Land ausmachen können, während America the Beautiful in einer neu rhythmisierten Version erklingt, die vor allem im großen Cellosolo zu Herzen geht. Zu Beginn des vierten Satzes präsentieren kräftige Blechbläser das Fugenthema der Streicher aus dem Kopfsatz, und im Zuge dieses ausgelassenen Finales wird mehrfach auf Stephen Fosters Camptown Races angespielt, bevor die Melodie schließlich laut und deutlich in den Blechbläsern erklingt. In der Coda erinnert Ives an seinen Vater, einen Militärkapellmeister; hier spielen scheinbar zwei Gruppen zur selben Zeit unterschiedliche Stücke, wobei sich die Posaunen mit Columbia, the Gem of the Ocean durch schiere Lautstärke zu behaupten suchen. Kurz blitzt die Reveille auf, das militärische Trompetensignal zum morgendlichen Wecken, bevor das Werk mit seinem berühmt-berüchtigten dissonanten Schlussakkord endet.
Die zwischen 1909 und 1911 vollendete Dritte Symphonie ist die kürzeste von Ives’ vier Symphonien und verlangt auch nur eine reduzierte Orchesterbesetzung. Der Untertitel »The Camp Meeting« bezieht sich auf evangelikale Treffen, wie sie sich in den ländlichen Gebieten der USA während des gesamten 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuten und bei denen man unter freiem Himmel Gottesdienste abhielt sowie gepredigt und Abendmahl gefeiert wurde. In allen drei Sätzen wird darum auch eine ganze Reihe protestantischer Hymnen zitiert, darunter Erie, Azmon, Woodworth, Naomi, Fountain, There Is a Happy Land und Blessed Assurance. Und auch wenn die einzelnen Sätze programmatische Titel tragen, spricht die Musik in ihrem symphonischen Anspruch doch für sich selbst. Der erste Satz folgt weitgehend dem traditionellen Modell der Sonatensatzform, während das Hauptthema des lebhaften Mittelsatzes zu diversen harmonischen Verschiebungen führt, die sich erst im allerletzten Moment in Wohlgefallen auflösen. Der dritte Satz ist besonders detailreich gearbeitet und harmonisch komplex; gleichzeitig sorgt der lange, stille Schluss für ein willkommenes Gefühl der Ruhe, auch dank der höchst effektvollen Nachbildung leiser Kirchenglocken.
Schon auf dem Papier wirkte Ives’ Vierte Symphonie wie etwas ganz und gar Neues, und dieser Eindruck bestätigte sich 1965 bei der umjubelten Uraufführung unter Leopold Stokowski. Vielleicht ist es zu kurz gegriffen, wenn man bei dieser Symphonie an Filmmusik denkt. Doch das Labyrinth ihrer musikalischen Texturen, thematischen Entwicklungen und Strukturen lässt vor dem inneren Auge unweigerlich Bilder wie auf einer großen Kinoleinwand entstehen. Weit gespannte Streicherbögen überlagern und reiben sich mit den Klängen von Militärkapellen, die in verschiedenen Tempi eine Schlacht auszutragen scheinen. Wie bei einem harten Filmschnitt, der zwischen verschiedenen Handlungssträngen hin- und herschaltet, verwandelt sich ein massives und schrilles Orchestertutti ganz plötzlich in ein ätherisches Geigensolo, das nur noch begleitet wird von einem fernen Klavier und leise murmelndem Schlagzeug. Gleich zu Beginn schrumpfen die grandiosen Anfangstakte übergangslos zusammen auf Kammermusikformat, um die Bühne zu bereiten für einen Chor, der unisono die Hymne Watchman, Tell Us of the Night intoniert. Die meisterhafte und absolut tonale Doppelfuge des dritten Satzes nimmt sich in diesem Umfeld vielleicht wie ein stilistischer Fremdkörper aus; sie wirkt jedoch wie ein neutralisierender Zwischengang und bildet eine letzte Verschnaufpause vor dem ganz und gar apokalyptischen Largo maestoso, in dessen Verlauf das eigentliche Orchester immer weiter verdrängt wird von einem Fernensemble aus Geigen und Harfe sowie einem »unterirdischen Schlagwerkensemble«, wie Ives es nannte. Für den Komponisten war dieses Finale der beste Satz der gesamten Symphonie und stellte »eine Apotheose des Vorangegangenen dar, in Begriffen, die etwas mit existenzieller Wirklichkeit und Religionserfahrung zu tun haben«.
Jed Distler
IVES: FOUR SYMPHONIES
Charles Ives was a maverick in both temperament and intent. He stood outside the artistic mainstream of his time, creating determinedly modernist and visionary music that anticipated atonal, experimental and avantgarde trends that would transpire decades later. At the same time, Ives’ aesthetic was strongly informed by the popular hymn tunes, folk songs, patriotic marches and ragtime pieces that he heard in his youth. What is more, Ives’ rebellious streak belied the thorough grounding in harmony, counterpoint and orchestration that he absorbed while studying with Horatio Parker at Yale.
Ives wrote his First Symphony in 1895–98. He later disparaged it as nothing more than a graduate thesis composed under Parker’s conservative eye. Indeed, listeners coming to this music for the first time might be hard pressed to identify the composer. Yet its abundant tunefulness, rhythmic exuberance and colorful deployment of instruments command attention at every juncture. The clarinet’s opening theme recalls Dvořák in its disarming joy, although the quiet sequence of rising chords at the first movement development section’s outset foreshadows those in Ives’ final work, his setting of Psalm 90. There’s no question that the second movement’s evocation of a traditional spiritual and solo English horn is cut from the same cloth as the famous Largo from Dvořák’s “New World” Symphony. Intense interaction between the strings and woodwinds characterize the Scherzo’s busy canonic writing. It sets the stage for the finale’s unbridled gushing of ideas, replete with humorously unpredictable modulations that Ives may well have intended to “get Parker’s goat,” so to speak.
Completed mostly in 1902, the Second Symphony is the bridge that links Ives’ European influences and his American roots. One might describe the fugal first movement as a fusion of Bachian rigor and Brahmsian tension, along with melodic threads that superficially relate to those in the Dvořák Eighth Symphony’s first movement. The second movement Allegro abruptly shifts the mood with a theme derived from the Civil War tune Wake Nicodemus and Bringing In the Sheaves, a hymn that Ives frequently drew upon in other works. The development section also features the driving trade-mark rhythms of the Brahms First Symphony’s opening movement. The Adagio cantabile third movement fuses long-lined Romantic lyricism with enough harmonic surprises to prevent any hint of sentimentality from seeping into the full-bodied sound world. Gospel song mavens will recognize Ives’ use of Beulah Land, while America the Beautiful appears in a rhythmically varied and rather touching manifestation, especially when taken up by the first-desk cello soloist. At the fourth movement’s outset, loud brass replace soft strings to reiterate the opening movement’s fugue subject, while the boisterous finale keeps hinting at Stephen Foster’s Camptown Races, which finally emerges in full when the brass take over. The coda evokes images of Ives’ bandmaster father bringing two clashing ensembles together playing different pieces at once, with the trombones blasting out Columbia, the Gem of the Ocean as loudly as possible. A quick quote from the reveille bugle call leads directly into that infamously dissonant concluding chord.
Completed between 1909 and 1911, the Third Symphony is the shortest of Ives’ four, and scored for relatively small forces. Its subtitle “The Camp Meeting” refers to evangelical events held for worship, preaching and communion that were popular in rural America during the early and later parts of the 19th century. As a consequence, the three movements make liberal use of Protestant hymns such as Erie, Azmon, Woodworth, Naomi, Fountain, There Is a Happy Land and Blessed Assurance. Although the movements’ respective titles are specifically descriptive, the music’s symphonic orientation speaks for itself. Traditional sonata form largely prevails throughout the first movement, while the lively central movement’s opening theme returns in harmonically convoluted form, only to resolve gently at the last minute. The third movement is the most intricately wrought and chromatically complex of the three, yet a welcome sense of repose informs the quiet, drawn-out ending, where Ives employs soft church bells to gorgeous effect.
If Ives’ Fourth Symphony looked unprecedented in manuscript, it surely sounded so at its celebrated 1965 world premiere under Leopold Stokowski’s direction. It may be simplistic to describe the music’s textural, thematic and structural labyrinths as cinematic. Yet the ears cannot help but perceive the music as such: think of the long, sweeping string passages overlapping and closely colliding with marching bands battling it out in different tempos. Visual cross-cutting and montage techniques are analogous to massive cacophonous orchestral tuttis that suddenly dematerialize into fragile violin solos surrounded by distant piano accompaniment and percussion murmurs. And at the symphony’s very outset, notice how those grandiose opening measures suddenly morph into chamber dimensions, setting the stage for a unison chorus intoning the hymn Watchman, Tell Us of the Night. The masterful and unambiguously tonal double fugue comprising the third movement may be stylistically alien in regard to its surroundings, yet it has the effect of a palette cleanser and place of respite before launching into the positively apocalyptic Largo maestoso, where the core orchestral group is supplanted by a distant violin/harp aggregate and what Ives calls a “subterranean percussion ensemble.” He considered this movement the symphony’s best, describing it as “an apotheosis of the preceding content, in terms that have something to do with the reality of existence and its religious experience.”
Jed Distler