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Seit ihrer ersten Begegnung mit den Stillen Liedern von Valentin Silvestrov vor fast 20 Jahren hat diese Musik Hélène Grimaud nicht mehr losgelassen. In ihren Programmen finden sich immer wieder Werke des ukrainischen Komponisten, und lange hat sie nach einem Partner für die Stillen Lieder gesucht, den sie nun zu ihrer großen Freude in dem sensationellen jungen Bariton Konstantin Krimmel gefunden hat.
Die vorliegende Auswahl der Stillen Lieder wurde im Sommer 2022 bei einem Konzert in der Turbinenhalle am Stienitzsee vor den Toren Berlins aufgenommen. Bei dieser Gelegenheit begegneten sich Grimaud und Silvestrov zum ersten Mal persönlich. Der Komponist war wenige Monate zuvor unter dramatischen Umständen aus Kiew nach Berlin geflohen, wo er im September seinen 85. Geburtstag feiern konnte.
»Ich finde diese Musik sehr anrührend in ihrer Aufrichtigkeit und Transparenz. Sie ist sehr poetisch und versucht nie, etwas zu sein, das sie nicht ist. Sie hat eine ganz besondere Farbe und Textur. Und natürlich freue ich mich immer zu sehen, wie die Menschen auf sie reagieren. Als ich anfing, diese Stücke auf meine Konzertprogramme zu setzen, begegnete man mir mit einer gewissen Skepsis. Aber für mich sind wir Interpreten ein offener Kanal zwischen der Welt des Komponisten und der inneren Welt des Publikums. Erst wenn man ein Stück wirklich vorstellt, wenn der Klang hörbar wird, entsteht diese Verbindung zwischen Musiker und Zuhörer, und die ist sehr kraftvoll. Das erlebe ich jedes Mal, wenn ich Silvestrovs Musik spiele, und das ist eine wunderbare Sache.«
VALENTIN SILVESTROVS STILLE LIEDER
Der Zyklus Stille Lieder aus den Jahren 1974–1977 auf Texte klassischer Dichter kennzeichnet einen wichtigen Abschnitt im Schaffen des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov. Dieses Werk löste eine bis heute andauernde Kontroverse aus. Ungewöhnlich war weniger der Umfang des zweistündigen, ohne Pause vorzutragenden Zyklus (in der frühen Postmoderne nichts Neues), es überraschte vielmehr seine »traditionelle« Gestalt und das vor allem, weil die Stillen Lieder aus der Feder eines bedeutenden Vertreters der damaligen »sowjetischen Avantgarde« stammten. »Für mich ist das kein Aufgeben von Positionen«, so Silvestrov in einem Interview, »sondern […] die Fortsetzung der avantgardistischen Bewegung, die sich in ihrer früheren Form größtenteils selbst erschöpft hat. Ich verspürte (und nicht nur ich allein) ein Bedürfnis nach Schweigen. Die Stillen Lieder und mein Klavierzyklus Kitsch-Musik (1977) sind vertontes Schweigen.«
Die russischen Klassiker Puschkin, Lermontow, Tjuttschew, Baratynski, Schukowski, Jessenin und Mandelstam ergänzen der ukrainische Dichter Schewtschenko (in ukrainischer Sprache) sowie die von Silvestrov geliebten englischen Romantiker Keats und Shelley (in russischen Übersetzungen). Die Stimmen dieser so unterschiedlichen Dichter verschmelzen hier zu einer neuen Einheit, zu einer »Harmonie geheimnisvoller Macht«, um eine Zeile aus dem Gedicht von Baratynski zu zitieren, welches die Stillen Lieder eröffnet.
Es gibt hier kein romantisches Sujet im Sinne Schuberts. Für Silvestrov ist die Poesie selbst die »wahre Heldin« des Zyklus. Bei der Auswahl dieser bekannten und bereits mehrfach vertonten Gedichte kam es ihm weniger darauf an, eine weitere »Lesart« zu liefern, als vielmehr die Texte davor zu bewahren. Er wollte, dass das Gedicht »sich selbst singt«.
Das fast zweistündige, langsame, stille und auf äußerliche Kontraste verzichtende Musizieren (die Tempi reichen von Largo bis Moderato, die Gesangsstimme und der sie verdoppelnde Klavierpart sind gleichberechtigt) scheint eine nostalgische Betrachtung der Vergangenheit zu sein. Außer den bekannten Gedichten ruft sich hier auch bekannte Musik in Erinnerung: Schubert, Glinka, Tschaikowsky… Doch wir verstehen allmählich, dass dies kein (Pseudo-) Zitieren oder bloße Stilisierung ist, sondern eine neue musikalische Realität mit eigenen Charakteristika und Gesetzmäßigkeiten.
Später bezeichnete Silvestrov diese »neue Realität« als »metaphorischen Stil« oder als »Metamusik«. Damit meinte er nicht nur den musikalischen Text an sich (der äußerlich recht einfach ist oder »schwach«, wie er sagt), sondern seine Verwirklichung, die Art wie er »auszusprechen« ist. Das Metaphorische ist wie ein »über der Musik schwebender semantischer Oberton«.
In den Vordergrund rückt hier, was gewöhnlich nur Zusatz ist: Agogik, Tempo, Dynamik. Dazu wird alles, was wir hören (sollen), bis ins letzte Detail notiert. In dieser extremen Präzision spiegelt sich zweifellos Silvestrovs frühere Erfahrung mit serieller Musik und dem musikalischen Pointillismus wider. Er sagt: »Das kompositionstechnische Rüstzeug arbeitet hier im Geheimen, Unsichtbaren, Unhörbaren.« Und doch verbirgt sich hinter dieser »Demut« des Autors seine Herangehensweise, »seine eigene extreme Spannung«. Die gleiche Spannung verlangt der Komponist von seinen Interpreten. Bevor die Stillen Lieder die Konzertsäle eroberten, d.h. als sie noch vornehmlich in Hauskonzerten, Museen oder Universitätsklubs aufgeführt wurden, übernahm der Komponist oft selbst den Klavierpart und formulierte aus dieser Erfahrung heraus eine Reihe von »Aufführungshinweisen«:
Zur Aufführung benötigt man einen lyrischen Sopran mit einem leisen tiefen Register (g–h) oder einen Bariton mit tenorähnlichem Timbre. Der Komponist wünscht sich einen dezenten, weichen Klang der Stimme, der mit dem una corda-Klavierklang verschmilzt. Daher dürfen tiefe Noten nicht nach oben transponiert werden, vielmehr sind sie so zu singen, als stützten sie sich auf die Verdopplung der Vokalmelodie im Klavier und erzeugten an diesen Stellen die Illusion eines sehr leisen, gehauchten »Gesangsatems« (oder »Atemgesangs«). Der Gesang darf sich nicht vom Klavier abheben, sondern muss gleichsam aus der Tiefe des Klavierklanges hervorgehen, mal aus ihm auftauchend, mal darin versinkend. Beim Singen höre man sozusagen in sich hinein. Alle Lieder müssen sehr leise und ruhig gesungen werden, mit leichtem, durchsichtigem und hellem Klang, verhalten im Ausdruck, ohne psychologische Übertreibung, präzise, aber unter Beachtung des Rubato in Tempo und Dynamik.
Die verdoppelte Melodie im Klavier darf – ausgenommen bei einzelnen betonten Klängen – nicht hervortreten, sondern muss mit der Gesangsstimme eine Einheit bilden, wobei durch Pedalbenutzung Nachklänge (quasi Echo) erzeugt werden. Der Zyklus soll möglichst vollständig (ohne Pause) aufgeführt werden, als handele es sich um ein einziges Lied.
All diese Bemühungen wären aber vergeblich, wenn nicht – unabhängig von dem einen oder anderen stilistischen Wandel – ein für Silvestrov typisches Ausdrucksmittel im Vordergrund stünde: der Gesang, die Melodie im eigentlichen Sinne des Wortes. Das vorliegende Album präsentiert eine Auswahl aus diesem »einzigen Lied«. Hoffentlich kann es den einzigartigen melodischen Reichtum dieses Werkes auch für den nicht russisch- und ukrainischsprachigen Hörer erlebbar machen und das Interesse an einer vertiefenden Beschäftigung mit der Musik von Valentin Silvestrov wecken.
Tatjana Frumkis
Nearly twenty years have passed since Hélène Grimaud first encountered Valentin Silvestrov’s Silent Songs, and during that time the music has never left her. The Ukrainian composer’s work has come to be a regular feature on her recital programmes, and Grimaud has long been searching for a partner to perform the Silent Songs with. Now, to her immense delight, she has found one in the sensational young baritone Konstantin Krimmel.
The selection from Silent Songs on this album was recorded at a concert in the Turbine Hall on the Stienitzsee just outside Berlin in the summer of 2022, and it was on this occasion that pianist and composer met for the first time. A few months before, Silvestrov had made a dramatic flight from Kyiv for Berlin, where he was able to celebrate his eighty-fifth birthday in September.
“It is music which I find deeply touching in its authenticity and transparency of feelings. It is utterly poetic, never pretending to be something else. I am always happy to see how much it resonates with people. When I first asked to programme some of the pieces in concert, there might perhaps have been some scepticism. But I’ve always felt that we interpreters are an open channel between the world of the composer and the inner world of the audience. It’s only in that moment of acquaintance, when the sound resonates, that the connection happens, and it’s a powerful one. I’ve never not experienced it in sharing Silvestrov’s music with the audience, and that’s a beautiful thing to live through.”
VALENTIN SILVESTROV’S SILENT SONGS
The cycle Silent Songs, written between 1974 and 1977 on texts by classic poets, marks an important chapter in Ukrainian composer Valentin Silvestrov’s creative life. The controversy that it sparked continues to rage today. What was exceptional about the piece was less its sheer length (a duration of two hours without a break was nothing new in early post-modern music); the more surprising feature was found to be its “traditional” structure and, especially, the fact that it came from the pen of one of the leading representatives of the then “Soviet avant-garde”. Silvestrov commented in an interview, “For me, this is not about renouncing positions, but rather the continuation of the most avant-garde movement that in its previous form has by and large reached a point of exhaustion. The Silent Songs and my piano cycle Kitsch Music (1977) are silence set to music.”
The list of Russian classics, Pushkin, Lermontov, Tyutchev, Baratynsky, Zhukovsky, Yesenin and Mandelstam, is complemented by the Ukrainian poet Shevchenko (in Ukrainian) as well as Silvestrov’s beloved English Romantics Keats and Shelley (in Russian translation). The voices of these very different poets here blend together into a new unity, exploiting “the mysterious power of harmony” as the Baratynsky poem opening Silent Songs has it.
Here there is no Romantic theme, in the Schubertian sense. For Silvestrov, poetry itself is the “real heroine” of the cycle. In choosing these familiar poems, ones that have already been set several times, it was less important to him to provide a new “reading” than to safeguard the texts from such a thing. He wanted the poem to “sing itself”.
The nearly two hours of slow, quiet musicmaking, forgoing outward contrasts (the tempos range from Largo to Moderato, the voice and the doubling piano are on an equal footing), seem to be gazing nostalgically into the past. Apart from the familiar poems, familiar music here seems to be called to mind, by Schubert, Glinka, Tchaikovsky, and so on. But we gradually come to understand that this is not (pseudo) quotation or mere stylization, but instead a new musical reality, one with its own characteristics and legitimacy.
Silvestrov went on to denote this “new reality” as a “metaphoric style” or “metamusic”. By this he meant not just the musical text itself (which is outwardly quite simple, or “weak”, as he puts it), but its realization, the way it is to be “pronounced”. The metaphorical is like a “semantic overtone hovering over the music”.
Aspects that are generally supplementary, such as agogics, tempo and dynamics, here come into the foreground. In addition, everything that we (should) hear is notated down to the last detail. Such extreme precision undoubtedly reflects Silvestrov’s experience with serial music and pointillism. In Silvestrov’s words, “The tools of compositional technique work here in the secret, the invisible, the inaudible”. And yet, lurking behind this “humility” on the composer’s part lies his very approach, “his own extreme tension”. The composer demands the same tension from his performers. Before the Silent Songs conquered the concert halls, that is, while they were still performed in concerts in homes, in museums or university clubs, the composer himself often took on the piano part, and based on this experience formulated a sequence of “performance directions”:
The performance requires a lyric soprano with quiet low notes (g–b) or a baritone whose timbre is close to that of a tenor.
The composer requires a subdued, soft vocal sound which merges with the una corda sound of the piano, and for this reason there should be no upwards transpositions even on account of the low notes, which should be sung as if they were supporting themselves on the doubling of the vocal melody by the piano, thereby creating in such passages the illusion of the quietest possible “song-breath”.
The voice should not stand out from the piano, but should emerge as if from the depths of the piano sound, sometimes rising, sometimes falling back into it. The singer should sing as if attentively listening to himself or herself. All songs should be sung very quietly, with a light, transparent and clear sound, reserved in terms of expression, without any attempt at psychology, precisely, despite the rubato in tempo and dynamics.
The doubling of the melody by the piano should not be emphasised (with the exception of a number of individually marked tones), but should establish a sense of unity with the voice, creating pedal resonances (quasi reverberations).
It is desirable for the cycle to be performed in its entirety (without an interval) as a single song.
All these efforts would be for nothing, however, if – independently from any stylistic change – one of the composer’s typical means of expression had not taken centre stage: song, melody in the essential meaning of the word. This disc presents a selection from this “single song”. Hopefully it can make the unique melodic wealth of this work come alive for non-Ukrainian- and non-Russian-speaking listeners too, and spark interest in a deeper engagement with the music of Valentin Silvestrov.
Tatjana Frumkis