Hilary Hahn | News | Booklettext, Einführungstext der Künstlerin: Hilary Hahn "Eclipse" - 7.10.2022 (VÖ) (DE/EN)

Hilary Hahn
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Booklettext, Einführungstext der Künstlerin: Hilary Hahn “Eclipse” – 7.10.2022 (VÖ) (DE/EN)

15.07.2022
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Fast wäre es nichts geworden mit diesem Album.
Als ich vor vier Jahren mit der Projektplanung begann, ahnte ich nicht, was unserer Welt bevorstehen sollte. Ich wollte tief in Dvořáks Violinkonzert eintauchen. Ich war schon besessen von Ginasteras reizvollem, zauberhaft sonderbarem Violinkonzert, bevor ich es überhaupt einstudiert hatte. Und ich liebte Sarasates feurige Carmen-Fantasie, die ich aus unerfindlichen Gründen noch nie gespielt hatte. Dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt war ich in langer Zusammenarbeit verbunden, und auch mit Andrés Orozco-Estrada hatte ich schon so viele gemeinsame Erfahrungen gesammelt, dass wir musikalisch völlig ungezwungen miteinander arbeiten konnten. Dieses Album sollte die Humanität der Musik und das Verbindende gemeinsamen Schaffens feiern.
Im September 2019 begab ich mich in eine einjährige Konzertpause. Ich gönne mir solche langen Auszeiten immer wieder, um über mein Leben und meine Arbeit nachdenken zu können. Im Herbst darauf hätten wieder Konzerte stattfinden sollen, aber eben da sagten die meisten amerikanischen Orchester aus nachvollziehbaren Gründen alle Termine ab. Quarantänebestimmungen und Impfstoffmangel erschwerten internationales Reisen. Und mit einem Krabbelkind und einem Kindergartenkind zu Hause hatte ich noch reichlich anderes zu bedenken. Ich war dankbar für die Arbeitswochen, die mir blieben, und froh über mein Sabbatjahr, froh, gesund zu sein und die Zeit mit meinen Lieben verbringen zu können. Andererseits schwemmte die Absagewelle Konzerte davon, auf die ich mich jahrelang gefreut hatte, darunter fast alle mit Dvořák, Ginastera und Sarasate. Und nicht nur die Tuchfühlung mit Kolleginnen und Kollegen in aller Welt ging mir verloren, sondern auch meine Souveränität als Musikerin, mein Selbstvertrauen und – zu meiner Bestürzung – auch das Hauptventil zum Ausdruck meiner Emotionen.
Ende März 2021 schien die für April und Juni geplante Aufnahme in Frankfurt ein Ding der Unmöglichkeit. Ich hatte täglich geübt, doch überhaupt kein Vertrauen in mein Spiel. Ich traute mir selbst nicht mehr. Tränen bitterer Enttäuschung in den Augen, rief ich Andrés an: Ich muss absagen. In Dutzenden gemeinsamer Konzerte hatte er mich schon so manche überaus schwierige Situation meistern sehen, und so konnte er mir durch gutes Zureden meine Angst nehmen. Mein Agent betonte auch noch mal: Es sei absolut meine Entscheidung. Mehrere schlaflose Nächte später beschloss ich, den Versuch zu wagen. Wenn alles komplett schiefging, konnten wir die Aufnahme immer noch abbrechen. Auf einer existenziellen Ebene wusste ich, ich musste einfach auftreten, einen Raum mit Kolleginnen und Kollegen teilen, mich in Echtzeit artikulieren. Der Dvořák würde live aus dem Sendesaal im Funkhaus übertragen. Ohne Publikum.
Das Dvořák-Konzert zu spielen, erfüllte mich sofort mit neuem Leben. Schon bei der ersten Phrase wurde ich wieder ich selbst. Während sich das Stück entfaltete, merkte ich, dass sich meine musikalische Stimme in der Auszeit weiterentwickelt hatte. Ich hatte mich zuhause vorbereitet, was man eben sein Zuhause nennt, aber auf der Bühne kehrte ich innerlich heim. Endlich war wieder alles vereint: das Konzertieren, das Ensemblespiel, ich selbst und die Musik. Unser Musizieren war lebendig und spürbar eine Erlösung.
Zurück von den Aufnahmen, stürzte ich mich sofort in Ginasteras und Sarasates Werke. Ginasteras Violinkonzert mit seinen genialen Innovationen ist nahezu unspielbar. Ein so gigantisches Werk in Isolation einzustudieren war surreal, und meine Fortschritte wollten einfach nicht sitzen. Ich spürte eine enorme – selbst auferlegte – Verpflichtung, dem Konzert gerecht zu werden. Sarasates Fantasie wiederum ist knifflig, ein sehr beliebtes Werk, das eine der berühmtesten Opern aller Zeiten zitiert. Wie um alles in der Welt sollte ich diese Stücke in den wenigen Wochen bis zur Live-Aufnahme in der Alten Oper zur Perfektion bringen?
Das Konzert im Juni feierte die Wiedereröffnung des Hauses nach seiner Schließung Ende 2020 und gleichzeitig Andrés’ Abschied als Chefdirigent. Damit nicht genug, bot ich hier meine persönlichen Erstaufführungen dieser Werke dar. Alles musste zur rechten Zeit auf die richtige Weise zusammenfinden. Es war ein Wagnis, aber mir war dieses Album unglaublich wichtig, und die Dvořák-Erfahrung hatte mir Hoffnung gemacht. Also jetzt oder nie.
Als ich zurück nach Frankfurt kam, herrschte dort tropische Hitze. Ich probte im Hotel bei offenen Fenstern, damit wenigstens eine kleine Brise hereinkam. Während ich Ginasteras Studio I übte, wurde unten auf der Straße ein gewisser Unmut laut. Bei der Carmen-Fantasie blieben Passanten stehen und hörten eine Weile zu. In jeder wachen Minute lebte und atmete ich die Musik – im permanenten Wechselbad zwischen Panik und Hochgefühl. Als ich am Konzerttag die Bühne betrat, war es mir allen Mühen zum Trotz immer noch nicht gelungen, bestimmte Passagen ganz durchzuspielen. Aber ich glaubte vollen Herzens an unsere Interpretation. Ich zweifelte nie am Momentum der Entschlossenheit im Augenblick der Darbietung.
Ich war froh über die Zusammenarbeit mit dem hr-Sinfonieorchester und Andrés Orozco- Estrada, denn sie sind so brillant wie verlässlich. Sie kannten mich, sie wussten, was ich konnte, sie kannten sich selbst, und die einzigartigen Orchesterparts gelangen ihnen so fantastisch, wie man es sich nur wünschen kann. Stilistisch gesehen standen sie meiner Carmen perfekt zur Seite, das ultimative Opernpaar, und auch die Klippen und Strudel des Ginastera-Konzerts meisterten wir. Das Orchester spielte zum ersten Mal seit Monaten wieder live vor Publikum. Mit jedem Ton schufen wir künstlerisch etwas Brandneues. Dieses kreative Knistern ist in der Aufnahme durchgehend spürbar.
Wie durch ein – dank Hingabe und Beharrlichkeit wahr gewordenes – Wunder fügten sich die Stücke zusammen. Beim Schlussakkord der Carmen-Fantasie spürte ich: Ich war durchs Feuer und gestärkt daraus hervorgegangen, als Musikerin verwandelt, zu allem bereit. Niemals will ich der Musik den Rücken kehren, niemals ihren heiligen Ort verlassen. Sie ist meine Sprache, aber nicht meine allein. Sie ist uralt und universell, und sie schafft Gemeinschaft. Ohne Musik verliert diese Verbundenheit ihre Stimme.
Welch ein Glück, dass ich dieses Album trotz aller widrigen Umstände verwirklichen konnte! Ich bin meinen Kolleginnen und Kollegen überaus dankbar, die mit mir zusammengekommen sind, um in so schwierigen Zeiten etwas so Wunderschönes zu erschaffen. Diese Aufnahme erzählt Geschichten, die ich erst wirklich verstand, als ich wieder auf die Bühne trat: vom Hochgefühl, zu sich zu finden, von der Offenbarung eigener künstlerischer Identität, vom Wiederfinden der Musik als wahrer Sprache seiner selbst. Dvořák, Ginastera und Sarasate waren zwischen 37 und 47 Jahre alt, als sie ihre wegweisenden Werke schrieben; dieses Album steht für meinen eigenen Übergang in die Vierziger. Jeder auf seine Weise versuchten diese Komponisten, musikalische Gewandtheit und Entfaltung zu verbinden. Wir alle haben in ihrer Musik Wahrhaftigkeit gefunden.
Künstlerische Entwicklung wird oft durch ein Ereignis in Gang gesetzt, das die Wahrnehmung infrage stellt und das Licht verschiebt. Eine Sonnenfinsternis führt letztlich zu neuer Erleuchtung. Die jüngste Vergangenheit und dieses Projekt haben mich für immer verändert. Ich bin froh, dass dieser Schlüsselmoment hier dokumentiert ist, dieses Ankommen, dieses neue musikalische Zusammenfinden, und bin dankbar, dass ich diese Aufnahme mit Ihnen teilen kann.
Hilary Hahn
 
 
This album almost didn’t happen.
When I started planning this project four years ago, I had no idea what was about to overtake the world. I was ready for a deep dive into the Dvořák Violin Concerto. I was obsessed with the tantalizing, magical weirdness of Ginastera’s Violin Concerto, though I hadn’t learned it yet. And I loved Sarasate’s spirited Carmen Fantasy, which I had, for some reason, never played. I had a long history with the Frankfurt Radio Symphony, and my work with Andrés Orozco-Estrada was extensive and musically liberated. This record was to be a celebration of the humanity of music and the merging of meaningful collaborations.
In September 2019, I began a yearlong sabbatical from performing. I take these big pauses from time to time to rethink the structure of my life and work. My concerts were supposed to resume in the fall, but right around then, most American orchestras understandably canceled their seasons. Quarantines and a lack of vaccines made international travel tenuous. With a toddler and a kindergartner at home, I had further considerations. I was grateful for the weeks of work that remained and felt fortunate for my sabbatical, good health, and time with my loved ones. On the flip side, the cancelations washed away concerts I’d been looking forward to for years, including nearly all of my performances of Dvořák, Ginastera, and Sarasate. I also lost my connections with colleagues around the world, my sense of self as a musician, my confidence and, to my dismay, my emotional outlet.
By the end of March 2021, my Frankfurt recording, scheduled for April and June, felt impossible. Despite having practiced daily, I didn’t trust my playing at all. I didn’t trust myself. I called Andrés and, my eyes welling with hot tears of disappointment, told him I’d have to cancel. Over the course of dozens of concerts together, he’d seen me work through some very adverse circumstances, and he talked me through my fears. My agent, too, reminded me that any decision I made about this project would be fine. After several sleepless nights, I decided to give it a try. If worst came to worst, we would discontinue the recording process. On some existential level, I knew I needed to perform, to share space with colleagues, to express myself in real time. The Dvořák would be a livestream from the orchestra’s hall at the radio station. No audience.
Performing the Dvořák was an injection of life into my veins. With the first phrase, I found myself again. As the piece unfolded, I discovered that my musical voice had developed during my hiatus. Although I’d prepared at home – in the place called home – onstage, I landed at home within myself. It was an occasion of reunifications: with performing, with other musicians, with myself, and with the music. Our playing was vivid and palpably redemptive.
As soon as I came back from those sessions, I zeroed in on Ginastera and Sarasate. Ginastera’s Violin Concerto, with its ingenious innovations, is nearly unplayable. Learning such a giant work in musical isolation was surreal, and I hadn’t been able to make my progress stick. I felt a huge self-imposed responsibility to do the concerto justice. The Sarasate, meanwhile, is finicky and beloved and quotes one of the most famous operas of all time. How on earth could I bring these pieces to peak level for a live recording in the Alte Oper just weeks later?
The June concert was to be the hall’s reopening after its closure in late 2020, as well as Andrés’s farewell as music director. In addition, the performances were to be my personal premieres of these works. Everything had to converge in the right way at the right time. It was a gamble, but this album was really important to me, and the Dvořák had given me hope. It was now or never.
When I returned to Frankfurt, the weather was tropical. I practiced with the hotel windows wide open for a breeze. Someone shouted their consternation from the street during repetitions of Studio I of the Ginastera. Passersby stopped to listen to snippets of the Carmen. I lived and breathed the music every waking minute, oscillating between exhilaration and panic. On the day of the concert, I walked onstage having, despite my best efforts, not yet succeeded at playing certain sections continuously. But I wholeheartedly believed in our interpretation of the pieces. I never questioned the momentum that a sense of purpose can bring to a performance.
I was glad to be working with the Frankfurt Radio Symphony and Andrés Orozco-Estrada, because they were steady and brilliant. They knew me, they knew what I was capable of, they knew themselves, and they achieved everything imaginable with the most particular orchestral writing. Stylistically, they partnered me in the Carmen like the ultimate opera collaboration, and we interwove through the shattering twists and turns of the Ginastera. The orchestra was playing for a live audience again for the first time in months. We were making brand-new art with every note. That creative sizzle permeates this recording.
Like a miracle, but one born of care and persistence, the pieces knitted together. As we played the final note of the Carmen, I felt that I had walked through fire and emerged stronger, transformed as a musician, ready for anything. I never want to turn my back on music or leave its sacred space. It’s my language but not just mine. It’s ancient and global, and it brings us into community. Without music, we lose that collective voice.
I’m lucky that I got to make this album against all odds. I deeply appreciate my colleagues, who met me to create something powerfully beautiful in a difficult time. This recording tells stories I didn’t understand until I stepped onto the stage again: the elation of coming into one’s own, the declaration of an artistic identity, and what it means to regain your native language through music. Dvořák, Ginastera, and Sarasate were between thirty-seven and forty-seven years old when they completed these definitive works; this album represents my own transition into my forties. In their individual ways, these composers sought to combine fluency with expansion. All of us found authenticity in these pieces.
Artistic evolution is often set in motion by an event that challenges perceptions and shifts the light. An eclipse, after all, leads to illumination. The past few years and this project have changed me permanently. I’m happy to have proof of this pivot, this landing, and these musical reconnections, and I’m thankful to be able to share this recording with you.
Hilary Hahn

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