Hilary Hahn | News | Booklettext: Hilary Hahn "Eclipse" - 7.10.2022 (VÖ) (DE/EN)

Hilary Hahn
Hilary Hahn

Booklettext: Hilary Hahn “Eclipse” – 7.10.2022 (VÖ) (DE/EN)

15.07.2022
Please scroll down for English version
 
DVOŘÁK – GINASTERA – SARASATE
Das verbindende Glied dieser drei sehr unterschiedlichen Werke ist nicht allein die Solovioline, sondern auch die Tatsache, dass jeder Komponist trotz langer Abwesenheit von seiner Heimat seinem gewissermaßen musikgeografischen Zentrum verbunden blieb. Was für den Tschechen Antonín Dvořák und den Spanier Pablo de Sarasate im späten 19. Jahrhundert gilt, trifft auch auf den Argentinier Alberto Ginastera in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu: Sie alle verwoben ihre frühesten Einflüsse mit zeitgenössischen Entwicklungen und schufen so eine individuelle Musiksprache. Dvořák und Sarasate gehörten zu einer größeren nationalistischen Strömung der musikalischen Spätromantik – wie etwa auch Tschaikowsky und Mussorgsky in Russland, Grieg in Norwegen und Sibelius in Finnland. Als Direktor des National Conservatory of Music in New York City (1892–1895) inspirierte Dvořák Generationen von Komponisten zur Beschäftigung mit einem eigenen amerikanischen Musikidiom. Dieser Trend beeinflusste auch mittel- und südamerikanische Künstler wie den Mexikaner Carlos Chávez, den Brasilianer Heitor Villa-Lobos und Ginastera.
Die Violine war Dvořáks erstes Instrument, und die erste Musik, die er zusammen mit seinem Vater öffentlich spielte, war die ihres böhmischen Dorfes: Polkas und Märsche, Weisen und Klagelieder für Feste oder feierliche Anlässe. Dies blieb sein Fundament, auch wenn sein Werk immer anspruchsvoller und universeller wurde. Den Grundstein für seinen internationalen Durchbruch legte Dvořák einige Jahre vor seinem 40. Geburtstag mit der Veröffentlichung der Slawischen Tänze. Bald darauf sorgten die Sechste Symphonie und das Stabat Mater in London für Aufsehen, was wiederum zu seiner Siebten Symphonie führte. Wie das Violinkonzert stehen diese Meisterwerke aus den frühen 1880er Jahren für die Verschmelzung typisch tschechischer Melodie- und Rhythmuselemente mit der formalen Weitläufigkeit und orchestralen Raffinesse der etablierten deutsch-österreichischen Konzertmusik – also beispielsweise der Welt von Johannes Brahms, Dvořáks Freund und Mentor.
Es war Brahms’ Freund Joseph Joachim, der führende Geiger seiner Zeit, der Dvořák ermutigte, ein Violinkonzert zu schreiben. Als ihm das Konzert 1880 zur Begutachtung vorgelegt wurde, schlug er eine gründliche Überarbeitung vor und bekundete auch seine Absicht, es uraufzuführen – letztlich spielte er es aber nie öffentlich. Stattdessen feierte das Konzert seine Premiere 1883 in Prag mit dem hervorragenden tschechischen Geiger František Ondrícek (Dvořák widmete die Partitur dennoch Joachim).
Das Violinkonzert ist kühn und innovativ, nicht zuletzt, weil Dvořák den Solopart als echte geigerische Herausforderung gestaltete. Die Beziehung zwischen Solovioline und Orchester ist in diesem Konzert spätromantisch geprägt; das zeigt sich gleich zu Beginn, wenn die Violine mit einer kadenzartigen Spielart des ersten Hauptthemas auf die kurze, klangvolle Eröffnung des Orchesters antwortet. In einer weiteren unerwarteten Wendung mündet der Satz ohne Pause in das prächtige und gehaltvolle Adagio. Dieser Übergang unterstreicht auch das Gleichgewicht zwischen energischer und lyrischer Musik. Der erste Satz ist vor allem der erstgenannten Eigenschaft zuzuordnen, auch wenn hier und da anmutige Ruhe einkehrt; auch das pastorale Adagio enthält gefühlsbetonte und virtuose Solopassagen, unterbrochen von abrupten Orchestereinsätzen. Das Rondo-Finale, das Episoden unterschiedlichen Charakters nebeneinanderstellt, ist der tschechischste der drei Sätze. Die Zwei-gegen-drei-Akzente des Hauptthemas sind charakteristisch für den tschechischen Furiant; der kontrastreichste Abschnitt ist eine Moll-Dumka im Zweiertakt, die später, kurz vor der jubelnden Schlusskadenz, in eine feierliche Dur-Passage übergeht.
Der in Buenos Aires geborene Ginastera zeigte früh musikalisches Talent und besuchte ab seinem zwölften Lebensjahr eine vom argentinischen Nationalkomponisten Alberto Williams gegründete Schule, bevor er sich am Nationalen Konservatorium einschrieb. Noch während des Studiums erlangte er erste Anerkennung mit der Musik seines Balletts Panambí, das von traditionellen argentinischen Elementen durchdrungen ist. Ginastera reiste 1945 in die USA und studierte bei Copland in Tanglewood; er ging avantgardistischen Tendenzen wie dem Serialismus nach und experimentierte auch mit der Form. Aufführungen seiner Werke führten in den späten 1950er Jahren in den USA dazu, dass Ginasteras Musik immer mehr Anklang fand. In den 1960er Jahren konzentrierte er sich auf die Oper; sein Don Rodrigo wurde von der New York City Opera mit Plácido Domingo in der Titelrolle aufgeführt, zwei weitere Werke wurden von der Opera Society of Washington in Auftrag gegeben. In Argentinien belebte er das Musikleben durch seine Lehrtätigkeit.
Ginasteras Violinkonzert wurde von den New Yorker Philharmonikern anlässlich der Eröffnungskonzerte im neu erbauten Lincoln Center in Auftrag gegeben. Leonard Bernstein leitete das Orchester bei der Uraufführung im Oktober 1963 mit dem amerikanischen Geiger Ruggiero Ricci. Die ungewöhnliche Struktur des Konzerts spiegelt Ginasteras Beschäftigung mit dem Prinzip der Variation wider. Er beginnt das Konzert mit einer ausgedehnten Solokadenz, die die wichtigsten musikalischen Ideen des Werks enthält. Ungestüme Mehrfachgriffe und Oktaven weichen immer virtuoseren Höhenflügen und geheimnisvollen Legato-Passagen. Die zweite Hälfte des ersten Satzes besteht aus einer Reihung von sechs sehr kurzen »Studi« (Etüden), von denen die erste das Orchester mit seinen sechs Schlagzeuggruppen vorstellt. Die Etüde »Per le terze« (Terzen) geht in »Per gli altri intervalli« (Andere Intervalle) über, das einen ähnlichen musikalischen Charakter hat; »Per l’arpeggiato« (Arpeggien) vervollständigt die kleine Trilogie. »Per gli armonici« (Flageolets) und »Per i 24 quarti di tono« (Die 24 Vierteltöne) verbindet eine geheimnisvolle Stimmung. Jede Etüde wird von einer anderen Instrumentengruppe des Orchesters begleitet. Der große Orchestereinsatz in der Coda schafft eine Symmetrie mit der ersten Etüde.
Der zweite Satz, »Adagio per 22 solisti« (Adagio für 22 Solisten), ist ein »Lied in fünf Abschnitten« und soll das Können der Orchestersolisten des New York Philharmonic würdigen. Er ist geprägt von – in den Worten des Komponisten – »poetischer Dichte und exaltierter Lyrik«. Im Solopart klingen Elemente der vorherigen Etüden an, und erneut zeichnet sich jede Episode durch eine andere Orchesterfarbe aus.
Das zweiteilige Finale, »Scherzo pianissimo e Perpetuum mobile«, beginnt mit feingliedriger Perkussion – ein Hinweis auf Ginasteras Interesse für indigene und traditionelle südamerikanische Musik. Nicht weniger kunstvoll ist der Solopart, überschrieben mit »sempre volante« (immer fliegend). Winzige Fragmente aus Niccolò Paganinis berühmter Caprice Nr. 24 tauchen auf und erinnern an den großen Meister. Das schlagzeuglastige Perpetuum mobile – »agitato ed allucinante« (aufgewühlt und halluzinatorisch) – treibt Solist*in und Orchester zum Ende hin.
Wie Dvořák war auch Pablo de Sarasate der Sohn eines Musikers und bekam schon in früher Kindheit eine Geige in die Hand gedrückt. Nach seinem Studium in Madrid erhielt er ein Stipendium für das Pariser Conservatoire. Tourneen durch Europa und die westliche Hemisphäre machten ihn zum Superstar, und Komponisten wie Saint-Saëns, Joachim und sogar Dvořák (Mazurek op. 49) schrieben Werke für ihn. Er führte – wie Liszt – eigene virtuose Paraphrasen über Opernthemen auf, doch im Repertoire hielten sich vor allem seine Zigeunerweisen und die Carmen-Fantasie. Die Fantasie stellt eine doppelte Übertragung dar: eine Suite, basierend auf Themen aus der Oper Carmen des französischen Komponisten Georges Bizet von 1875, in der wiederum spanische bzw. spanisch-kubanische Volkslieder und Stile verwendet wurden, die Sarasate aufgrund seiner eigenen Herkunft vertraut waren. Die Fantasie besteht aus fünf Teilen: der schnellen Aragonaise im Dreiertakt aus dem vierten Akt, Carmens temperamentvoller Habanera, einem Zwischenspiel, das auf Carmens Arie »Tra la la« beruht, Carmens bekannter »Seguidilla« – alles aus dem ersten Akt – und schließlich dem ersten Tanzlied des zweiten Akts. Der Schwierigkeitsgrad des kaleidoskopischen Spektrums an Spieltechniken nimmt zum brillanten Ende der Fantasie hin noch einmal zu.
Robert Kirzinger
 
 
DVOŘÁK – GINASTERA – SARASATE
These three very different works are linked not only by the solo violin but by the idea that each composer maintained a connection to some musical-geographical center, despite long periods away from their homes. The Czech Antonín Dvořák and the Spanish Pablo de Sarasate, both working in the late 19th century, and the mid−20th century Argentine Alberto Ginastera all blended their earliest influences with contemporary developments in crafting their unique musical languages. Dvořák and Sarasate were part of a larger late-Romantic trend of musical nationalism that included Tchaikovsky and Mussorgsky in Russia, Grieg in Norway, and Sibelius in Finland. As director of the National Conservatory of Music in New York City, 1892–95, Dvořák helped inspire generations of composers to explore American vernacular music. The trend also affected Central and South American artists including the Mexican Carlos Chávez, the Brazilian Heitor Villa-Lobos, and Ginastera.
The violin was Dvořák’s first instrument, and the first music he performed in public with his father was that of their Bohemian village: the polkas and marches, carols and laments of celebrations and solemn occasions. This remained his foundation even as his work became increasingly sophisticated and universal. His international reputation was launched a few years before his 40th birthday by the publication of his Slavonic Dances. Soon after, Dvořák’s Symphony No. 6 and Stabat Mater created a sensation in London, leading in turn to his Seventh Symphony. Like the Violin Concerto, these early−1880s masterpieces exemplify the blend of Czech melodic and rhythmic elements with the formal expansiveness and orchestral refinement of established German/Austrian concert music, i.e., the world of Johannes Brahms, his friend and mentor.
It was Brahms’s friend Joseph Joachim, the era’s leading violinist, who encouraged Dvořák to write a violin concerto. Presented with the concerto for his opinion in 1880, Joachim suggested a thorough revision and expressed his intention to give the premiere, but he never played it in public. Its premiere was instead given by the fine Czech violinist František Ondrícek in Prague in 1883. (Dvořák still dedicated the score to Joachim.)
The Violin Concerto is bold and innovative, not least because of the exuberantly idiomatic challenges Dvořák poses for the soloist. The concerto’s late-Romantic treatment of relationships between soloist and orchestra is demonstrated at the start, when after a brief stentorian announcement from the orchestra the soloist enters with a cadenza-like statement of the first movement’s main theme. In another unexpected turn, the movement leads without pause into the gorgeous and substantial Adagio. That transition also underlines the concerto’s balance between assertive and lyrical music. The first movement is weighted toward the former but includes passages of lovely tranquility; the pastoral Adagio also features intensely emotional and virtuosic solo passages and disruptive orchestral outbursts. A rondo juxtaposing episodes of different character, the Finale is the most Czech of the three movements. The two- versus three-beat accents of the main theme are characteristic of the Czech furiant; the episode of highest contrast is a minor-key, two-beat dumka, later transformed into a celebratory major-key passage just before the jubilant final cadence.
Born in Buenos Aires, Ginastera showed precocious musical talent and from age twelve attended a school founded by the Argentine nationalist composer Alberto Williams before enrolling in the National Conservatory. He achieved recognition while still a student with music from his ballet Panambí, which was steeped in traditional Argentine elements. Ginastera traveled to the U.S. in 1945, studied with Copland at Tanglewood, and pursued avant-garde trends including serialism and formal experimentation. Admiration for Ginastera’s music in the U.S. was elevated through performances of his work in the late 1950s. In the 1960s he concentrated on opera; his Don Rodrigo was produced by New York City Opera with Plácido Domingo in the title role, and two others were commissioned by the Opera Society of Washington. Through his teaching, he enlivened the musical life of Argentina.
Ginastera’s Violin Concerto was commissioned by the New York Philharmonic for its inaugural concerts at the newly built Lincoln Center. American violinist Ruggiero Ricci was soloist and Leonard Bernstein led the orchestra in the October 1963 premiere. The concerto’s unusual structure reflects the composer’s preoccupation with variation principle. Ginastera opens the concerto with an extended solo cadenza that contains the work’s primary musical ideas. Brash multi-stopped chords and octaves give way to increasingly virtuosic flights and mysterious legato passages. The first movement’s second half is a series of six very brief “studi,” the first of which introduces the orchestra with its six groups of percussion. The “Per le terze” (Thirds) étude enjambs with “Per gli altri intervalli” (Other Intervals) and shares its character, with “Per l’arpeggiato” (Arpeggios) completing the little trilogy. “Per gli armonici” (Harmonics) and “Per i 24 quarti di tono” (Quarter Tones) share a sense of mystery. Each étude is accompanied by a different orchestral section. The big orchestral surge in the Coda creates symmetry with the first study.
The second movement is an “Adagio per 22 solisti” (Adagio for 22 soloists): described as a “Lied in five sections,” and meant to celebrate the artistry of the New York Philharmonic’s principal players, it exhibits, in the composer’s words, “poetic concentration and exalted lyricism.” One hears elements of the earlier études recurring in the solo part, and again each episode features a different quality of orchestral color.
The two-part finale, “Scherzo pianissimo e Perpetuum mobile,” begins with delicate percussion, a reminder of Ginastera’s interest in indigenous and traditional South American music. The solo part is equally delicate, marked “sempre volante” (always flying). Tiny fragments of Niccolò Paganini’s famous 24th Caprice bubble up, evoking the great master. The “agitato ed allucinante” (agitated and hallucinatory), percussion-heavy perpetuum mobile sweeps up soloist and orchestra in a rush to the end.
Like Dvořák, Pablo de Sarasate was the son of a musician and was given a violin to play in early childhood. After studying in Madrid, he was provided a scholarship to the Paris Conservatoire. He became a superstar by touring Europe and the Western Hemisphere, and composers including Saint-Saëns, Joachim, and even Dvořák (Mazurek, op. 49) wrote works for him. He performed his own virtuoso glosses on opera themes in the manner of Liszt, but his most enduring works are his Zigeunerweisen and the Carmen Fantasy. The latter is a double act of translation: a suite based on themes from the French composer Georges Bizet’s 1875 opera Carmen, which in turn employed Spanish and Spanish-Cuban folk song and styles that Sarasate would have been familiar with from his own background. The Fantasy consists of the quick three-beat Aragonaise from Act IV, Carmen’s sultry Habanera, an interlude based on her “Tra la la” aria and her familiar Seguidilla dance-song, all from Act I, and finally the opening dance-song of Act II. The degree of difficulty for the kaleidoscopic array of violin techniques increases as the Fantasy comes to its brilliant close.
Robert Kirzinger

Weitere Musik von Hilary Hahn

Mehr von Hilary Hahn