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WENN man beginnt, ein Instrument zu erlernen, stößt man auf Musik, die einen in ihren Bann zieht und vorantreibt – jene Werke, von denen man sich wünscht, sie eines Tages, vielleicht, hoffentlich, selbst zu spielen. Oft sind das anspruchsvolle, technisch fordernde Stücke, denen die Fähigkeiten eines Anfängers nicht gewachsen sind. Chopins Nocturnes hingegen können durchaus schon früh in das Kaleidoskop seiner ideenreichen und faszinierenden Musik einführen. So begegnete mir bereits in jungen Jahren seine erste Nocturne (op. 9 Nr. 1), und ich verbrachte viele Stunden damit, ihre verborgenen Geheimnisse zu ergründen. Ich war hingerissen, und in all den Jahren, in denen ich mein Instrument besser kennengelernt habe – ein Prozess, der immer noch andauert – haben mich Chopins Nocturnes stets begleitet.
Sie verkörpern, was ich an seiner Musik am meisten liebe: die Melodien voller Sehnsucht und Zauber, den Spielraum für Flexibilität, die unendliche Fülle neuer Ideen. Chopin war ein Meister des Klaviers und wusste dessen gesamte Bandbreite klanglicher Möglichkeiten auszuschöpfen: Ausgedehnte, melodisch-kantable Phrasen entfalten sich über einer üppigen Harmonieführung.
Die Nocturnes entspringen der Nacht – einer verwunschenen Welt der unendlichen Möglichkeiten – und sie erlauben dem Interpreten, dem Zuhörer eine persönliche Geschichte zu erzählen. Sie sind eine Leinwand; ein Raum, um tief in die eigene Gefühls- und Gedankenwelt einzutauchen.
Dennoch bleiben sie vor allem stets elegant und einfach. Wie Chopin selbst sagte, »Einfachheit ist das höchste Ziel. Nachdem man eine Unmenge Noten und noch mehr Noten gespielt hat, geht letztlich die Einfachheit als krönender Lohn der Kunst hervor.«
Jan Lisiecki
DIE KUNST DES FILIGRANEN
Die Nocturnes von Frédéric Chopin
»Chopin Fryderyk. Besondere Begabung, musikalisches Genie.« Mit einem solchen Zeugnis vom Warschauer Konservatorium im Rücken lässt sich die Welt erobern. Oder nicht? Denn Geld bringt diese Auszeichnung, die Chopin am 20. Juli 1829 ausgehändigt wird, zunächst keines. Sein Vater hatte bereits im Vorfeld dieser Beurteilung ein Gesuch beim polnischen Bildungsminister eingereicht: Sein Sohn müsse ins Ausland gehen, um dort seine Ausbildung zu vervollkommnen – ob es dafür Zuschüsse vom Staat gebe? Doch der Regierungsbeamte antwortet kühl: Ein Künstler, der sich ausschließlich mit dem Klavier befasse und keine öffentlichen Konzerte spiele, könne nicht auf finanzielle Unterstützung hoffen.
Das Jahr 1829 bildet für Chopin eine Zäsur: Die Schülerzeit geht zu Ende, und die Frage, wo er künftig sein musikalisches Glück finden soll, steht im Raum. Also fährt Chopin zunächst nach Wien. Beethoven ist erst zwei Jahre tot, Schubert nur wenige Monate. Im Gepäck hatte er vermutlich zwei Werke, die wohl schon im Frühjahr desselben Jahres fertig geworden waren: Nocturnes. Dabei handelte es sich um eine relativ junge Gattung, die der Ire John Field in die Musikwelt eingeführt hatte. Ein kurzes Instrumentalstück als Ode an den Abend, an die Nacht – ohnehin eines der Lieblingsthemen der Romantiker. Musikalisch liegt der Fokus eindeutig auf der Melodie, auf ihrer Gesanglichkeit und einer eleganten Ausschmückung – bestens geeignet für Aufführungen in kleineren Räumen, wie Chopin sie liebte.
Bereits das erste Stück aus op. 9 verbindet Melancholie und Trost, schlichte Linien und elegantes Schmuckwerk auf eine Weise, die für Chopins sämtliche Beiträge zu dieser Gattung bezeichnend sein wird. Er schreibt im wiegenden 6/4-Takt, lässt die Melodie bis zum viergestrichenen F hinaufklettern, lässt sie glitzern und schweben. Im Mittelteil breitet er sie fächerartig in Form von Oktaven aus, bevor er sie in beliebten Intervallen darstellt: Terzen, Sexten – Schmeicheleinheiten für jedes Ohr. Am Ende mündet die Reise in einen tiefen B-Dur-Akkord. Alles wird gut, lautet die Botschaft, schließlich begann alles in b-Moll. Die zweite Nocturne, mittlerweile ein Favorit im klassischen Repertoire, notiert Chopin im 12/8-Takt. Gewandt zieht die Begleitstimme ihre gleichmäßigen Bahnen, während sich darüber eine schlichte, rasch verzierte Melodie ausbreitet, die nur für kurze Momente ins Forte umschlägt, ansonsten aber im Leisen und sehr Leisen verhaftet bleibt, selbst in der Mini-Kadenz kurz vor Schluss. Die grundlegenden gestalterischen Herausforderungen an dieses Werk – einen »nervösen Sinn für differenzierte Klangfarbe und eine Freude an rhythmischer Beweglichkeit, die bis zum Fantastischen ging« – hat Thomas Mann in seiner Tristan-Novelle umschrieben.
Die drei Nocturnes op. 15 werden im Jahr 1833 veröffentlicht und sind dem Komponistenkollegen Ferdinand Hiller gewidmet. Zwei Jahre später erscheinen dann die beiden Stücke op. 27. In beiden Sammlungen wird klar, wie minutiös der Komponist den Raum dieser kleinen Charakterstücke durchmisst. Chopin findet für die überwiegend wehmütigen, matten und doch trostreichen Stücke den richtigen Ton, abgelauscht dem Ideal des Belcanto.
Das zeigt sich erneut in der ersten der beiden Nocturnes aus op. 32. Schon im zweiten Takt erfolgt eine erste Ausschmückung, im vierten Takt wird sie variiert, bevor Chopin delicatissamente (eine Bezeichnung, die Beethoven im Kopfsatz seiner sogenannten »Mondschein-Sonate« verwendet hat) zu einem zweiten Thema überleitet. Chopin arbeitet mit Vorschlägen, Trillern, Triolen etc. – er beherrscht die Kunst der filigranen Verzierung. Erst am Schluss betritt er thematisches Neuland – als habe dieser Schluss nichts mit der Träumerei davor zu tun, als habe sich das Stück nun in eine Sackgasse hineinmanövriert, aus der es nicht mehr rauskommt. Dramaturgisch gesehen ist der Übergang zum zweiten Stück von op. 32 insofern schlüssig. Denn bevor hier die Melodie anhebt, stehen zwei Takte mit akkordischen Motiven – ein Nachklang? Eine zyklische Rundung dieses Stückes ergibt sich endgültig, wenn am Ende die beiden Anfangstakte wiederholt werden. Ein Perpetuum mobile der Nacht, und alles könnte wieder von vorne beginnen …
Aus dem Jahr 1840 stammen die beiden ungleichen Schwesterwerke von op. 37 (in g-Moll und G-Dur), von 1841 die Nocturnes op. 48. Die beiden Werke op. 55 von 1844 zeigen einmal mehr, dass sich das musikalisch-dramatische Geschehen bei Chopin meist innerhalb weniger Takte vollzieht. Der Beginn der f-Moll-Nocturne ist wiederum liedhaft schlicht. Wenn Chopin das Thema wiederholt, schmückt er es aus, doch Konfliktwelten scheinen unendlich weit weg. Bis der Mittelteil mit einem bedrohlichen, fast militärischen Signal einsetzt, mit einer markanten Bewegung im Bass und schroffen, appellhaften Akkorden. Am Ende jedoch löst sich das Stück in sphärischen Höhen auf. Eine geniale Wendung! Bei der zweiten Nocturne in Es-Dur gewinnt man den Eindruck, als habe Chopin hier Palestrina, Bach und Mozart zusammengebracht. Wie er die einzelnen Stimmen führt, das ist Kontrapunkt der Extraklasse – und weit weg vom plüschigen Charakter unterhaltsamer, seichter Salonmusik! Hier zeigt sich Chopins ganzer intellektueller Scharfsinn, eine meisterhafte Vernetzung von Stimmen.
An den Cellisten Auguste Franchomme meldet Chopin im Juli 1846: »Mein Guter, ich tue mein Möglichstes, um zu arbeiten, aber ich komme nicht von der Stelle; und wenn dieser Zustand anhält, so werden meine ferneren Produktionen weder an den Gesang der Grasmücken noch an zerbrochnes Porzellan erinnern.« Ganz so schlimm kommt es denn doch nicht: Chopin beendet die Polonaise-Fantaisie, seine Barcarolle sowie die Nocturnes op. 62.
Die Nocturne in e-Moll erscheint erst posthum im Druck, sechs Jahre nach Chopins Tod. Ist es womöglich ein frühes Werk? Es gibt Indizien für die Vermutung, dass er es bereits als 17-Jähriger geschrieben hat. Jedenfalls ist alles, was seine spätere Musik auszeichnet, hier bereits vorhanden: die sich zart entspinnende Melodie, die kunstvolle Begleitung, die Verdichtung, die Verzierungen im weiteren Verlauf. Oder ist alles ganz anders, und es handelt sich doch um ein Spätwerk, um eine Art von stiller Abschiedsmusik? Das zumindest würde eine Behauptung von Franz Liszt bestätigen, wonach Chopins letzte Nocturnes bei seinem Tod lediglich als Manuskripte vorlagen.
Christoph Vratz
WHEN you begin playing an instrument, there is music that draws you in and propels you – those works you aspire to one day, maybe, hopefully play. Many of these will be challenging, technically demanding pieces, to which your early abilities will be no match. But Chopin’s Nocturnes can provide an early introduction to the kaleidoscope of his inventive and enthralling music. It is thus that I was introduced to Chopin at a young age, with his first Nocturne (op. 9/1), spending many hours searching for the secrets hidden within. I was enamoured, and through the years of becoming better acquainted with my instrument – a process that continues to this day – Chopin’s Nocturnes have kept me company.
They embody what I cherish most in his music: the yearning, captivating melody, the framework he provides for flexibility, the endless fresh ideas. Chopin was a master of the piano, using its full range of tonal possibilities while spinning long, melodic, cantabile phrases over a rich harmonization.
The Nocturnes hail from the night – a magical time of endless possibilities – and present a personal story from the interpreter to the listener. They are a canvas, a sphere to dive deep into one’s own emotions and thoughts.
Yet, most importantly, they remain elegant and simple. After all, as Chopin himself said: “Simplicity is the final achievement. After one has played a vast quantity of notes and more notes, it is simplicity that emerges as the crowning reward of art.”
Jan Lisiecki
THE ART OF THE DELICATE
The Nocturnes of Frédéric Chopin
“Chopin Fryderyk. Exceptional talent, musical genius.” Such a testimonial from the Warsaw Conservatory surely places the world at one’s feet. Or does it? In financial terms, this distinction awarded to Chopin on 20 July 1829 did not, initially, pay off. Prior to the Conservatory’s final assessment, Chopin’s father had already submitted a petition to the Polish Minister of Education: in order to perfect his education, it was imperative for his son to travel abroad. Would the government be able to offer financial support? The response was dry: without a schedule of public concerts, and as long as he only concerned himself with playing the piano, Chopin could hardly expect any funding.
The year 1829 marked a turning point for Chopin: his student days were coming to an end, and the question of where to seek his musical fortunes loomed. Beethoven had died only two years before, Schubert a mere few months ago. Chopin decided to depart for Vienna, bringing with him two works which were presumably written in the spring of that same year: Nocturnes. Introduced by Irishman John Field, the nocturne was a relatively young musical form: a short instrumental piece, paying tribute to the evening or the night – one of the preferred themes of the Romantic era. Musically, the focus is undoubtedly on the melody, its cantabile style and elegant ornamentation – making it perfectly suited for performances in smaller spaces, such as Chopin loved.
Even the first piece of his Op. 9 intertwines melancholy with solace, simple lines with exquisite adornments in a way that was to become quintessential of all Chopin’s forthcoming contributions to the genre. In swaying 6/4 time, the melody soars and sparkles, climbing up to F7. Fanning it out into octaves in the middle part, Chopin then proceeds to present the melody in popular intervals: thirds, sixths – pure comfort to the ears. Having begun in B flat minor, the journey culminates in a low B flat major chord, as if to say, “All will be well.” The second Nocturne, written in 12/8 meter, has firmly established itself as a favourite among classical works. Artfully, the accompanying left hand pursues a steadfast course, while above it a simple, briskly ornamented melody unfurls, turning to forte only for a few brief moments and otherwise remaining grounded in piano and pianissimo, even in the mini-cadenza immediately preceding the end. In his novella Tristan, Thomas Mann describes the fundamental interpretative challenges posed by this work: “a nervous feeling for modulations of timbre and a joy in mobility of rhythm that amounted to the fantastic”.
The three Nocturnes op. 15, dedicated to fellow composer Ferdinand Hiller, were published in 1833, to be followed two years later by the two pieces of Op. 27. Both collections clearly show how deftly the composer explores and exploits the space of these small character pieces. Borrowing from the ideal of bel canto, Chopin finds the right tone for the predominantly wistful, languid yet comforting pieces.
This is again evident in the first of the two Nocturnes op. 32. The first embellishment appears in the second bar already, to be varied in the fourth bar before Chopin transitions delicatissamente (a term Beethoven used in the opening movement of his “Moonlight” Sonata) to a second theme. Chopin works with appoggiaturas, trills, triplets etc., having mastered the art of finespun ornamentation. It is only at the end that he enters new thematic territory – as if this ending was wholly unrelated to the earlier musings, or the piece had somehow manoeuvred itself into a corner from which there can be no escape. The entrance to Op. 32/2 is dramaturgically conclusive, with the melody only setting in after two bars of chordal motives – almost reminiscent of an echo. And, finally, the piece comes full circle when the same two bars are repeated at the very end. A perpetuum mobile of the night, and everything might just begin anew …
The year 1840 saw the publication of the dissimilar twin works of Op. 37 (G minor and G major), Op. 48 followed in 1841. Op. 55, published in 1844, once again illustrates that in Chopin’s work the arc of musical tension and release characteristically unfolds in a few bars. The beginning of the F minor Nocturne is simple in its songfulness. In repeating the theme, Chopin embellishes it but still abstains from offering as much as a hint of conflictive notions. That is, until the middle section interrupts with a menacing, almost militaristic signal, a striking shift in the bass line, and harsh, imperious chords. Finally, the piece then melts away to an end of spherical heights – an ingenious turn! In the second Nocturne in E flat major, one might think Chopin had brought together Palestrina, Bach and Mozart as he leads the individual voices in an unmatched display of counterpoint – a far cry from the frivolous and shallow character of velvety salon music. The interlacing is positively masterful, bearing testimony to Chopin’s intellectual acumen and brilliance.
In July 1846, the composer wrote to cellist Auguste Franchomme: “My dear friend, I am doing my utmost to work but making no progress; and, if this state continues unabated, my new works will evoke neither the chirping of warblers nor even as much as the sound of broken porcelain.” Ultimately, things did not transpire to be quite as dismal, and Chopin finished the Polonaise-Fantaisie, the Barcarolle and the Nocturnes op. 62.
Chopin’s Nocturne in E minor only appeared in print posthumously, six years after his death. Could it possibly be an early piece? There is circumstantial evidence to suggest he wrote it as young as age seventeen. All the same, everything that is so characteristic of his later works is already clearly present: the delicately unfolding melody, the artful accompaniment, the concentration, the ornamental treatment. Or is it perhaps a late work after all, a form of subdued farewell? This might be supported by a claim of Franz Liszt, according to whom the last Nocturnes only existed in manuscript form at the time of Chopin’s death.
Christoph Vratz