Es ist ein wunderschöner Winternachmittag in Vail, Colorado: Janet hat es sich auf einer dunklen Ledercouch gemütlich gemacht, und während vor ihr das Feuer im Kamin knistert, setzt sie an, über Disziplin – genauer: „Discipline“ – zu sprechen, so nämlich lautet der Titel ihres neuen Albums. Hinter dem riesengroßen Fenster, das vom Boden bis zur Decke hinauf reicht, sind lange, zierliche Äste zu sehen, auf denen eine dicke Schneeschicht lastet. Hinter den hohen Bäumen befördert ein Lift die Skifahrer den stolzen Berg hinauf, der vor lauter Schneemassen im strahlendsten Weiß aufleuchtet. Janet trägt einen gemütlichen, mitternachtsschwarzen Trainingsanzug; die Haare hat sie hochgesteckt. Ihre ganze Körpersprache ist ausgesprochen relaxt, sie lächelt mit den Augen. Sie wirkt trotzdem adrett, dazu ein bisschen heiser vielleicht, schließlich hat sie laut eigener Aussage gerade eine kleine Erkältung hinter sich. Ihre Stimmlage, dadurch eher ein Flüstern, verstärkt das Gefühl von Vertrautheit noch, das sich im Handumdrehen im Gespräch mit ihr einstellt.
„Ich habe sehr, sehr viel über Disziplin nachgedacht“, setzt sie an. „Das ist die zentrale Idee, das Thema, das die Songs des neuen Albums verbindet. Ich bin von dem Konzept der Disziplin, oder sagen wir: von der Grundeinstellung, die sich dadurch auszeichnet, sehr stark berührt. Es ist ein tiefes Gefühl. Und man kann es auf so viele verschiedene Dinge übertragen. Ich betrachte Disziplin als einen wesentlichen Zug meiner Persönlichkeit. Es gab keine auch noch so kurze Phase in meinem Leben, in der Disziplin nicht eine entscheidende Rolle gespielt hätte. Und doch habe ich erst während der Arbeit an dieser neuen LP eingesehen und verstanden, wie wichtig Disziplin für mich eigentlich ist.“
„Indem ich `Discipline´ in den Vordergrund rücke – sowohl als Albumtitel als auch in Form eines Songs, der von sexueller Unterwürfigkeit handelt –, möchte ich gleich zu Beginn klarstellen, dass ich mich mit diesem Album auf kreatives Neuland begebe. Daher habe ich auch mit Produzenten wie Jermaine Dupri, Rodney Jerkins und Ne-Yo gearbeitet, weil ihre Songs perfekt meine Gefühle widerspiegeln, die Unmittelbarkeit meiner Gefühle. Wie schon meine Vorgängeralben, hat auch diese Platte ganz deutliche autobiografische Wurzeln. Allerdings könnte ich nicht einmal sagen, ob das in diesem Fall beabsichtigt war oder nicht. So arbeite ich halt. So und nicht anders. Wenn ich nicht voll und ganz an eine Sache glaube, dann fühle ich sie auch nicht – und dann kann ich den jeweiligen Song auch nicht einsingen.“
„Will man das Motiv der Disziplin in meinem Leben ganz von Anfang an aufrollen, dann müssen wir natürlich bereits in meiner Kindheit ansetzen. Die nämlich kann man fast schon als klassische Fallstudie in Sachen Disziplin bezeichnen. Disziplin war ein zentraler Aspekt in meiner Familie, und das habe ich schon ganz früh verstanden und verinnerlicht. Ich bin sozusagen diszipliniert zur Welt gekommen.“
„Außerdem glaube ich, dass eine Menge Disziplin letztlich dafür notwendig war, den Sprung aus dem familiären Nest zu wagen. Als ich mit L.A. Reid, dem Vorsitzenden von Island Def Jam, die Abmachung traf, dass wir gemeinsam als Co-Produzenten die Aufnahmen zu `Discipline´ leiten sollten, einigten wir uns auch darauf, dass die Grundstimmung des Albums abenteuerlustig und unbedingt erfrischend sein sollte. Mir ging es darum, klangliche Regionen zu erkunden, die ich noch nicht kannte – exotische Dinge, auch erotische Themen, und vor allem tiefe Emotionen. Ich wollte bis an die Grenze gehen, die Latte noch ein Stück höher legen. Und ich bin wahnsinnig froh darüber, dass mir mit `Discipline´ – sowohl als Song als auch als Album – genau das gelungen ist.“
„`Feedback´, ein Stück, das von Rodney Jerkins produziert wurde, beinhaltet eine andere Metapher, mit der ich ebenfalls sexuelle Spannungen umschreiben will. Der Song ist eine provokante Unterhaltung, die Offenheit auch in denjenigen Bereichen noch einfordert, über die sonst kaum einer spricht, weil alle lieber dichtmachen. Das gleiche gilt übrigens für Rodneys `Roller Coaster´, was tatsächlich eine klangliche Achterbahnfahrt ist, in deren Rahmen ich über die Höhen und Tiefen von romantischer bzw. körperlicher Erregung nachdenke.“
Fragt man sie nun, wie sich ihr Verständnis von Disziplin im Verlauf ihres Lebens gewandelt hat, greift Janet zunächst nach ihrer Teetasse, nimmt einen Schluck und sinniert eine Weile, bis sie ihre Antwort gibt.
„Nun, ich glaube, wenn ich wiederum ganz weit in die Vergangenheit zurückgehe, dann sehe ich ein kleines Mädchen, zehn Jahre alt, das in der `Good Times´-Sendung auftreten soll und sich den eigenen Wecker auf 05:30 Uhr stellt, damit sie auch pünktlich um sieben dort auf der Matte steht. Und dann denke ich an eine 15-Jährige, die anfängt Platten aufzunehmen. In den kommenden 25 Jahren legt sie ausnahmslos alle zwei bis drei Jahre ein neues Album vor. Auf einer anderen, tieferen Ebene betrachtet, lernt sie in dieser Zeit, dass sich diejenige Musik, die ihr persönlich am meisten bedeutet, durch eine rhythmische und harmonische Komplexität auszeichnet, die nur in harter Arbeit entstehen kann. Was wiederum bedeutet, dass sie stundenlang dasitzt, um einen Text oder auch Melodien zu schreiben, die sich richtig anfühlen. Als nächstes, die endlose Arbeit im Studio: Schließlich müssen all die Stimmen, die sie im Kopf hat, einzeln aufgezeichnet und sorgfältig aufeinander geschichtet und kombiniert werden. Und dann sind da natürlich die Monate, die es jeweils dauert, eine der etlichen Welttourneen zu planen und zu absolvieren.”
Eine Künstlerin, die sich und ihren Schaffensprozess in diesen Worten beschreibt, empfindet sie ihren Hang zur Disziplin vielleicht letzten Endes sogar als Last?
„Nein, sie ist auf jeden Fall ein Segen“, antwortet Janet ohne auch nur einen Moment zu zögern. „Als Kind war die Disziplin eine absolute Selbstverständlichkeit. Ich war diszipliniert – Punkt. Als Teenager wollte ich einfach nur singen und tanzen. Und mir wurde klar, dass ich dafür ein hohes Maß an Konzentration aufbringen musste. Ich wollte andere Menschen erreichen, und mein gesunder Menschenverstand sagte mir, dass ich dafür zunächst an meinem Talent arbeiten musste. Aber als ich dann erwachsen wurde, bin ich wohl zu hart mit mir umgesprungen. Denn Disziplin ist eine Sache; Perfektionismus eine andere. Ich betrachte Perfektionismus inzwischen als eine Art Strafe. Das Streben nach Perfektion kann nur zu dauerhafter Unzufriedenheit und Kummer führen. An und für sich ist es eine gute Sache, sich hohe Ziele zu stecken, aber Perfektion zu verlangen, kann einen nur ins Unglück stürzen. Ich selbst habe Jahre gebraucht, bis ich zu dieser Einsicht gelangte. Da ich diese Lektion aber letztendlich gelernt habe, sehe ich nun auch das Konzept der Disziplin in einem völlig anderen Licht.“
Das Licht der Wintersonne bricht durch die graue Wolkendecke und durchflutet kurzzeitig den gesamten Raum. Janet steht auf und holt eine Aufnahme von „Can’t Be Good“ hervor, ein Song, der Ne-Yo für sie geschrieben und produziert hat. Ne-Yo war es auch, der für „Discipline“ hinter den Reglern stand. Sie legt die CD in den Player. Ein sofort fühlbarer Groove unterbricht unsere Konversation – plötzlich liegen einzigartige Harmonien und süßlich-romantische Ambivalenz in der Luft.
„In diesem Fall sind die Ambivalenz und die Disziplin im Widerstreit. Sie stehen sich gegenüber“, erklärt Janet, nachdem der letzte Ton verhallt ist. „Ich kann das sehr gut nachempfinden. Ja, ehrlich gesagt erkenne ich mich sogar ganz deutlich in der Geschichte wieder. Nach einer langen Beziehung, die ein schmerzliches Ende nimmt, kehre ich zu meiner alten Vertrauten zurück – der Disziplin. Ich diszipliniere mich selbst, um nicht zu stark unter der Situation zu leiden, um nicht zu verletzlich zu sein, um mich nicht unsterblich zu verlieben. Diese Disziplin ist es nun, die mich vor weiteren Schmerzen schützt. Dank ihr gelingt es mir, auf dem rechten Weg zu bleiben. Aber dann tritt jemand in dein Leben, der so perfekt für dich ist, dass es einfach nicht gut sein kann. `This can’t be good´, singe ich daher in dem Stück, was bedeutet, dass die Disziplin in dem Fall also eigentlich gar keine Disziplin ist. Es ist einfach nur ein reflexartiger Schutzmechanismus. Einfach nur Angst vor noch mehr Kummer. Eine Abwehrhaltung. Zum Glück gelingt es der Leidenschaft, diese Abwehrhaltung zu überwinden. Und das Resultat ist die uneingeschränkte Liebe.“
„Aber hören wir uns doch `Letchu Go´ an“, schlägt Janet vor. „Jermaine hat diesen Song geschrieben und produziert. Als ich den Text von Jermaine und Johnta Austin zum ersten Mal las, musste ich weinen, so sehr war ich davon berührt. Und je länger ich über die Geschichte nachdachte, desto klarer wurde mir, dass es sich hierbei um einen weiteren Aspekt von Disziplin handelt – um positive Disziplin, wenn man so will, die Art von Disziplin, wie sie für Beziehungen wichtig ist. Die Aussage des Songs ist es, dass man nicht aufgeben und alles hinschmeißen darf, nur weil man gerade harte Zeiten durchlebt. Es ist noch nicht zu spät, wir können unser gemeinsames Schicksal nicht einfach wegwerfen; und wir müssen uns diese Disziplin bewahren, die es uns ermöglicht, Probleme zu lösen und einen Weg zur vollkommenen und aufrichtigen Liebe zu finden.“
„Auf dem Album artikuliere ich sämtliche Themen, die mir momentan am Herzen liegen“, sagt sie weiterhin. „Ich will damit sagen, dass Disziplin einem Freude bringen kann – und man sie eben nicht als Hürde oder Hindernis betrachten sollte. Disziplin ist ein Schlüssel zur Freiheit. Sie ermöglicht es mir – und nicht nur mir, sondern allen Menschen –, fokussiert in die Zukunft zu blicken. Dabei muss der Fokus stets auf den Gedanken und Gefühlen liegen, die unserem körperlichen und geistigen Dasein neues Leben einhauchen.“
„Ist schon lustig, aber mein erstes großes Album hatte ebenfalls einen Titel, der nur aus einem Wort bestand – `Control´. Es war natürlich absolut blauäugig von mir zu glauben, ich könnte sämtliche Aspekte meines Lebens kontrollieren. Die einzige Kraft, die wirklich Kontrolle über die Dinge hat, ist Gott. Aber es erforderte sehr viel Disziplin – Disziplin der Gedanken, Disziplin in meinen Taten, Disziplin bei der kreativen Arbeit an der Musik –, bis ich das endlich eingesehen hatte. Letzten Endes hat Disziplin wohl in erster Linie mit dem eigenen Glauben zu tun. Und ich glaube felsenfest daran, dass eine nicht übertriebene aber stets vorhandene Disziplin mir dabei helfen wird, als Künstlerin und als Frau auch weiterhin zu wachsen.“