Goethe selbst nannte es die “Lust am fabulieren”. Was immer ihn getrieben hat, nahezu unablässig zu dichten und zu reflektieren, es wird ein Teil dieses Weltgeistes gewesen sein, der auch Kollegen wie Homer, Cervantes oder Shakespeare inspirierte. Sein Werk komplett zu lesen, ist eine Lebensaufgabe. Selbst ein Teil davon füllt bereits eine der opulentesten Boxen aus dem Repertoire der Deutschen Grammophon. “Johann Wolfgang von Goethe – Eins und alles” ist mit 38 CDs eine gewaltige Sammlung vieler der essentiellen Stücke der klassischen deutschen Literatur. Ein großartiges Kompendium, dass neben den Worten des Meisters auch Künstler wie Gustav Gründgens, Gert Westphal oder Erich Ponto vor den Mikrofonen versammelt hat.
An einer Stelle von “Dichtung und Wahrheit” sinniert Goethe über die Mechanismen, die seine Werke entstehen lassen. Man kann es als Manifest des Geniegedankens an sich verstehen, als eine Charakterisierung des künstlerischen Daseins: “Ich war dazu gelangt, das mir inwohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten, um so mehr, als ich darauf gewiesen war, die äußere Natur als den Gegenstand desselben anzusehen. Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor.” Der Künstler als aus sich selbst heraus schaffendes, den Kräften der Natur verbundenes Individuum war aber nicht nur ein Leitgedanke des Sturm und Drangs, der als erste populäre literarische Ausformung des Gedankenguts der Aufklärung die Umdeutung des Schaffenden vom Auftragnehmer zum genialischen Kreativen einleitete, sondern wurde letztendlich zur Maxime des neuen Menschen an sich, den die Moderne im Anschluss an die Loslösung von den spätfeudalen Bindungen postulierte. Goethe wurde mit sehr unterschiedlichen Werken einer der Ahnherrn dieser Änderung des Diskurses und er schaffte es, seine persönlichen Auseinandersetzungen mit Witz und Präzision in Worte zu fassen. Sein “Faust” ist ein Monumentalwerk intellektueller Essenz aus sechs Lebensjahrzehnten, der “Wilhelm Meister” die Vorlage des Bildungsromans an sich. Der “Werther” sprach einer ganzen Generation aus der Seele, die “Novelle” renovierte die Grundform ihrer Gattung und Goethes Lyrik gehört schlicht zum Pointiertesten, was je in deutscher Sprache geschrieben wurde.
So lag es nahe, sich mit der Erfindung von Speichermedien wie der Langspielplatte auch der Aufnahme von umfassenderen Werken aus Goethes Feder zu beschäftigen. Gustav Gründgens leitete 1954 die ersten Aufführungen des “Fausts” am Düsseldorfer Schauspielhaus. Es war eine hochgelobte Inszenierung, bis heute eine der Referenzdarstellungen des weltberühmten Bühnenstücks. Die Deutsche Grammophon wagte damals das Experiment, ein solches Theaterereignis, das ja eigentlich der Bilder zur Unterstützung bedarf, auf Bänder aufzunehmen. Es wurde ein Erfolg und so folgte 1959 der zweite Teil, ebenfalls unter Grundgens' Leitung. Es sind nur zwei Hörjuwelen, die die Sammlung “Eins und alles” zu bieten hat. So nahm sich beispielsweise der “König der Vorleser” (Die Zeit) Gert Westphal der “Wahlverwandtschaften” und “Wilhelm Meisters theatralische[r] Sendung” an. Ausschnitte aus dem Briefwechsel mit Friedrich Schiller ließen ihn sich mit Will Quadflieg als Alter Ego verbal duellieren. Weitaus persönlicher hingegen gestaltete er den Briefwechsel mit Christiane Vulpius, in deren Rolle seine eigene Gattin Gisela Zoch-Westphal schlüpfte. Quadflieg wiederum kann man auch als den alten Faust – den jungen spielte Paul Hartmann – und als Orest in der “Iphigenie auf Tauris” wieder erleben. Spitzbübisch jovial hingegen gab sich Erich Ponto mit der Märchenbearbeitung “Reinecke Fuchs”. Den Werther schließlich trug mit der nötigen empfindsamen Emphase Hans Kremer vor und für die “100 Gedichte” war ein Defilee deutscher Sprecherstars von Quadflieg über O. E. Hasse bis Eva Mattes zur Stelle. So ist die Sammlung “Eins und alles” eine in vieler Hinsicht bemerkenswerte Zusammenstellung, die nicht nur großartige Beispiele der deutschen Literatur, sondern auch ein herausragendes Ensemble des bundesdeutschen Nachkriegs- und Wirtschaftswundertheaters in einer Box versammelt. Ein Standardwerk.