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Juan Diego Flórez
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L’Amour — Französische Tenorarien

11.04.2014
Die französischen Opern des 19. Jahrhunderts stecken voller herrlicher Tenor-Paradestücke, denen sich in der jüngeren Vergangenheit internationale Künstler wie Nicolai Gedda, Alfredo Kraus und Leopold Simoneau gewidmet haben. Chronologisch umgrenzt von Adrien Boieldieus La Dame blanche (1825) und Jules Massenets Werther (1892) umfasst die hier getroffene Auswahl sowohl die epische Ernsthaftigkeit der Troyens von Hector Berlioz als auch Werke wie Jacques Offenbachs frivole La Belle Hélène.
Als sentimentale Komödie liegt Boieldieus La Dame blanche vom Ton her irgendwo dazwischen. Der unbekümmerte, bettelarme Soldat Georges Brown überbietet den Bariton-Bösewicht Gaveston bei einer Auktion, in der ein Herrenhaus versteigert wird, in dem eine mysteriöse weiße Dame umgeht. In einer für die damalige Theaterwelt üblichen überraschenden Wendung stellt sich heraus, dass Georges ohnehin der gesetzliche Erbe war, und die weiße Dame selbst erweist sich als lange verloren geglaubte Geliebte. Bei seinem ersten Auftritt singt Georges die Arie “Ah! quel plaisir d’être soldat”, eine rosige Darstellung des Krieges voller verspielter martialischer Motive in der Musik. “Viens, gentille dame” lautet seine spätere Beschwö-rung des “Geistes”. Rossini war zu jener Zeit überaus beliebt, und in Boieldieus Musik zeigt sich im Bezug auf die Melodiegestal-tung und die eleganten Verzierungen deutlich sein Einfluss. Ein bedeutungsschwangeres Incipit des Horns weckt Ehrfurcht vor der angeblich übernatürlichen Umgebung.
Genau wie La Dame blanche basiert auch Georges Bizets La Jolie Fille de Perth (1867) auf einer Geschichte von Sir Walter Scott. Henri Smith richtet sich mit “À la voix d’un amant fidèle” verführerisch an seine kokette Geliebte Catherine, wobei seine verträumte, exotisch klingende Serenade vor dem schottischen Hintergrund etwas unpassend erscheint. Henri ist — fälschlich — von Catherines Untreue überzeugt, und sie verliert aus Verzweiflung darüber den Verstand, wird jedoch durch eine Reprise der Serenade wieder zur Vernunft gebracht. Bizet komponierte La Jolie Fille de Perth zwischen Les Pêcheurs de perles und Carmen, beides Werke, die musikalische Exotismen enthalten, die leichter zu rechtfertigen sind. Obwohl die Serenade selbst sehr schön ist, beflügelte die Oper als Ganzes mit ihren seltsam deplatzierten Farben nie die Fantasie eines größeren Publikums.
Über lange Zeit bot Frankreich eine gastfreundliche Umgebung für ausländische Komponisten. Nach einer spektakulären Karriere in Italien fasste Gaetano Donizetti die Pariser Opéra mit ihren lukrativen Künstlertantiemen ins Auge. La Favorite (1840) war sein Vorstoß ins prunkvolle Genre der historischen Großen Oper, die der deutsche Komponist Meyerbeer populär gemacht hatte. In “Un ange, une femme inconnue” singt der Mönchsnovize Fernand von seiner Verliebtheit in eine junge Frau namens Léonor, die er beim Gebet gesehen hat. Die leidenschaftliche Musik verrät seine mangelnde Überzeugtheit vom Zölibat, und sein Vorsteher befiehlt ihm schon bald, in die Welt hinaus zu gehen. Nachdem er festgestellt hat, dass Léonor die Geliebte des Königs ist, kehrt Fernand ins Kloster zurück, denkt jedoch darüber nach, es wieder zu verlassen, als eine tödliche Erkrankung sie zum Sterben in seine Arme treibt.
Anders als Donizetti erlangte der in Deutschland geborene Komponist Jacques Offenbach in Paris Berühmtheit. Seine La Belle Hélène (1864) wurde im zwanglosen Théâtre des Variétés uraufgeführt, einem Aufführungsort, der das gleiche Publikum bediente, das sonst in die Opéra ging, wenn diesem der Sinn nach leichterer Unterhaltung oder sogar Verspottung des Kaiserhofes des Second Empire der 1850er und 1860er Jahren stand. Offenbach und seine Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy brauten eine wilde und unvorhersehbare Handlung um Agamemnon, Ajax und Achilles sowie Paris zusammen, wobei Letzterer einen großen Teil der Zeit damit verbringt, der hinreißenden Helene nachzustellen, die ihm von Venus versprochen wurde, nachdem er die Göttin in einem Wettstreit mit Juno und Minerva zur Schönsten erklärt hat. “Au mont Ida, trois déesses” bezieht sich auf diese Episode, die in der bildenden Kunst als das Urteil des Paris bekannt ist.
Offenbach wurde häufig “König des Second Empire” genannt, da er genau den Zeitgeist erfasst hatte. Doch auch muttersprachlich französische Komponisten glänzten in dieser Epoche, besonders was ihre Erschaffung von Melodielinien anging, die sich am natürlichen Fluss der französischen Sprache orientierten. Der junge Bizet gehört in diese Gruppe, wie auch sein Mentor Charles Gounod, der heraus-ragende Ambroise Thomas und der bilderstürmerische Hector Berlioz. Sehr beliebt waren werknahe Umsetzungen von Meisterwerken der Weltliteratur als Opern.
Gounods Roméo et Juliette (1867) wurde wesentlich positiver aufgenommen als Bellinis losere Umsetzung I Capuleti e i Montecchi, und Roméos “Ah! lève-toi, soleil!” bleibt sogar in vielen Punkten der bildlichen Sprache treu, die Shakespeares Romeo unter Julias Balkon verwendet. Das hier verwendete musikalische Idiom ist wesentlich chromatischer als bei Boieldieu und Donizetti, und das Orchester übernimmt maßgeblichere Gegenmelodien.
Thomas’ Mignon (1866) hat Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre zum Vorbild. Es handelt sich um eine Geschichte über das Erwachsenwerden, und die Fröhlichkeit der Arie “Oui, je veux par le monde” im 1. Akt lässt an einen Protagonisten zu Beginn seiner Reise denken, ähnlich der Stimmung der Eröffnungsarie von Georges Brown.
In seiner Umgestaltung der Aeneis zu Les Troyens (1863) für die Pariser Opéra (die das Werk letztlich ablehnte) schuf Berlioz viele Momente, die inmitten der mit großen Wagnissen einhergehenden Entscheidungen von Dido und Aeneas ein dramaturgisches Aufatmen gewähren. Zu diesen Strategien zählen eine Vielzahl von Märschen und Balletten in der Tradition der Großen Oper, wie auch die kurze Arie “Ô blonde Cérès”, die Dido sich im 4. Akt vom Hofdichter Iopas vorsingen lässt. Es handelt sich um ein pastorales Stück mit Bildern der Natur und des Windes in Text und Musik.
Léo Delibes und Jules Massenet feierten ihre Opernerfolge etwas später im 19. Jahrhundert. In Lakmé (1883), das im Indien der Kolonialzeit spielt, setzte Delibes auf kunstfertige Weise atmosphärische Musik ein. Der Tenor Gérald ist nicht nur Soldat, sondern auch Künstler, und in “Prendre le dessin d’un bijou” drückt er aus, wie er sich ästhetisch zum luxuriösen Garten der Priesterin Lakmé hingezogen fühlt.
Wie Thomas wandte sich auch Massenet mit Werther (1892) auf der Suche nach Opernmaterial einem berühmten Goethe-Roman zu. In “Ô Nature, pleine de grace” zeigt Werther, genau wie Gérald, wie ihn die ihn umgebende Szenerie berührt. Sein innerer Frieden wird jedoch bald gestört, als er sich Hals über Kopf in Charlotte verliebt, die Gattin seines besten Freundes. Mit einem Lied, wie auch Schumann es hätte schreiben können, lässt Massenet später seinen Protagonisten in “Pourquoi me réveiller” von seiner Qual berichten — ein Appell, dem Charlotte mit einer Mischung aus Mitgefühl und Furcht begegnet.
Da es sich hier um eine Feier der französischen Tenorstimme handelt, erscheint es passend, dass diese Auswahl dauerhafter Lieblingsstücke auch “Mes amis, écoutez l’histoire d’un jeune et galant postillon” aus Adolphe Adams Le Postillon de Lonjumeau (1836) enthält. Der Kutscher Chapelou feiert Hochzeit, wobei seine Darbietung dieser glänzenden Arie mit ihren hohen Ds die Aufmerksamkeit des Intendanten der Pariser Opéra auf sich zieht, dessen Kutsche in der Nähe eine Panne erlitten hat. Chapelou verlässt auf der Stelle seine Frau zugunsten einer Karriere in der Hauptstadt. Dort erweist er sich als brillanter Bühnentenor und alles nimmt einen guten Ausgang, als die beiden sich in typischer Opéra-Comique-Manier am Ende wieder versöhnen.
Steven Huebner
1/2014

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