Krystian Zimerman | News | Booklettext: Krystian Zimerman - Beethoven: Complete Piano Concertos - 9.7.2021 (VÖ) (DE/EN)

Krystian Zimerman
Krystian Zimerman

Booklettext: Krystian Zimerman – Beethoven: Complete Piano Concertos – 9.7.2021 (VÖ) (DE/EN)

01.06.2021
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EIN WUNDER WIRD WAHR
Dezember 2020: Das London Symphony Orchestra versammelt sich in seinem Probenraum LSO St Luke’s, einer ehemaligen Kirche. Wegen der Abstandsregeln zur Eindämmung der Coronapandemie sind Musiker über die gesamte Länge des Kirchenschiffs verteilt, und jedes Notenpult verfügt über eine Schutzwand aus Plexiglas. So wollen Krystian Zimerman und Simon Rattle zu Beethovens 250. Geburtstag dessen sämtliche Klavierkonzerte aufnehmen – unter diesen Rahmenbedingungen ein wahres Wunder.
»Es ist spannend, wenn das Orchester so weit auseinander sitzt, denn die Musik muss sehr große Distanzen überwinden«, sagt Rattle. »Manchmal fühlt es sich an, als müsse man Rauchsignale über einen Berg schicken. Aber diese zusätzliche Anstrengung passt zu Beethoven. Kampf und Mühe gehören zu seiner Musik. Er will, dass alle an ihre Leistungsgrenze gehen, und von seinen Interpreten verlangt er eigentlich immer mehr, als sie geben können.«
Zimerman hat die Beethoven-Konzerte 1989 zum ersten Mal aufgenommen, in den Konzerten Nr. 3, 4 und 5 mit Leonard Bernstein am Pult. Das Jubiläumsjahr war die perfekte Gelegenheit für eine Neuaufnahme: »Diese Konzerte kann man ein Leben lang spielen, ohne sie jemals sattzubekommen«, so der Pianist. Diesmal hat er sich zudem von Beethovens eigenen Instrumenten inspirieren lassen und seinen Flügel mit verschiedenen Tastaturen zum Wechseln ausgestattet.
»Jedes Konzert hat seinen ganz eigenen Charakter«, erklärt Zimerman. »Die ersten beiden sind sehr humorvoll, aber auf unterschiedliche Weise.« Das Zweite Konzert entstand vor dem Ersten, und Zimerman findet Beethovens Humor in diesem Werk fast ein wenig »gemein und albern«. Rattle sieht das ähnlich: »Beethoven kommt hier überraschend prahlerisch und frech daher. Über all den Tiefschlägen und Tragödien in seinem Leben vergisst man leicht, dass er auch einmal ein junger Mann war, voller Energie und purer Lebensfreude. Wir wissen, welche musikalischen Formen er später schuf; hier werden sie zum ersten Mal sichtbar. Dieses Konzert ist keine Vorstufe zu irgendwas, es ist ein Meisterwerk an und für sich.«
»Wir denken immer nur an seine ungestüme, leidenschaftliche Seite«, so Zimerman, »aber er hatte auch einen unglaublichen Sinn für Humor. Im Finale des Ersten Konzerts ist er witzig, manchmal schon zynisch, und hin und wieder neigt er zu grotesken Übertreibungen. Darin unterscheidet er sich kaum von jungen Menschen unserer Zeit. Früher habe ich das Erste Konzert als ein sehr ernstes Stück gespielt. Als ich ein Junge war, stand auf meinem Klavier eine Beethoven-Büste, und ich weiß noch, dass ich unterschwellig immer das Gefühl hatte, das sei ein alter Komponist, ein alter Mann. Ich bin jetzt sieben Jahre älter, als Beethoven jemals geworden ist, und ich fühle große Sympathie für ihn als einen jüngeren Kollegen. Heute kann ich dieses Konzert leichter nehmen und mit mehr Spaß und Freude spielen.«
Für ausgesprochen dramatische Werke wählte Beethoven oft c-Moll, so auch in seinem Dritten Klavierkonzert. »Auf fast allen Bildern sieht Beethoven aus wie c-Moll«, schmunzelt Rattle. »Aber E-Dur zeigt ihn von einer ganz anderen Seite, und diese Tonart bildet das emotionale Zentrum dieses Werks in einem seiner schönsten, wahrhaft herzzerreißenden langsamen Sätze.«
Zimerman ergänzt: »Über dem ersten Satz steht ›Allegro con brio‹, aber oft wird er so langsam gespielt, dass die Klavierläufe am Anfang überhaupt nicht ›feurig‹ klingen. Bei einem schnelleren Tempo kann man der Hörer längere Phrasen erfassen und größere Zusammenhänge herstellen. Man erkennt die Struktur, sieht das große Ganze und begreift den Sinn hinter der Musik. Ich habe mich hier um einen schroffen, harschen Klang bemüht, der eher an Granit erinnert als an Marmor.«
Im Vierten Konzert kommt die Musik für Rattle ganz zu sich selbst: »Dieses Stück hat etwas Geheimnisvolles: Man weiß nie, welchen Weg die Musik einschlagen wird, und immer wieder verschwindet sie in Ecken und Winkel, in denen man sie nicht zu fassen bekommt. Selbst in einer so klar umrissenen Form wie dem kurzen zweiten Satz, in dem Streicher und Klavier ihre Motive gegeneinanderstellen, als suchten sie im Dunkel nach einer Antwort, empfinde ich das als großen Segen. Und im Finale treibt Beethoven zwar wieder allerlei Schabernack, wirkt dabei aber gleichzeitig sehr abgeklärt und weise. Das ist ein ganz anderer Tonfall.«
»Komponisten schreiben nicht für ›das‹ Klavier, sondern immer für ihr eigenes Instrument«, betont Zimerman. »Was sie hören, hilft ihnen bei der Überprüfung ihrer Arbeit und gibt ihnen neue Anregungen. Bei Beethoven ist die Sache wegen seiner Schwerhörigkeit etwas komplizierter, weil er vermutlich ganz andere Dinge hörte, als wir uns vorstellen.« Für das Vierte Konzert benutzt Zimerman eine Tastatur, die sich an der Mechanik der Instrumente von Anton Walter orientiert, die kräftiger waren als ihre Vorgänger, aber gleichzeitig leichtgängig und flexibel: »Ich habe gelesen, Beethoven habe während der Arbeit an diesem Konzert ein Walter-Klavier erworben und gespielt, was einiges erklären würde.«
»Ich liebe Krystians unerschöpfliche Neugier«, ergänzt Rattle. »Hier möchte er die Klangfarben eines Hammerklaviers haben, ohne auf die Kraft und Möglichkeiten eines modernen Flügels zu verzichten. Darum versucht er, die beiden Welten miteinander zu verbinden. Mit der neuen Tastatur klang sein Flügel im Vierten Konzert ganz anders, viel sanglicher, aber trotzdem kristallklar.«
Das Fünfte ist das einzige seiner Klavierkonzerte, das Beethoven nie selbst gespielt hat. Als er es komponierte, trat er nur noch selten öffentlich auf, und so übernahm der Dessauer Pianist Friedrich Schneider bei der Uraufführung 1811 in Leipzig den Solopart. Beethoven widmete das Konzert seinem Gönner und Schüler Erzherzog Rudolph, und für Zimerman ist es »eine Symphonie mit Soloklavier, das hier eine bedeutende und imposante Persönlichkeit darstellt«.
»Gleichzeitig wirkt es aber auch an vielen Stellen wie großformatige Kammermusik«, meint Rattle. »Es hat also nicht nur ein öffentliches Gesicht, sondern auch eine sehr persönliche Seite. Das Adagio ist vielleicht der überirdischste der vielen langsamen Sätze bei Beethoven, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Und einmal mehr überrascht er hier mit einer ganz eigenen, neuen Klangwelt.«
In den letzten 20 Jahren haben Zimerman und Rattle insgesamt vier Aufnahmeprojekte miteinander realisiert, inklusive der vorliegenden Beethoven-Einspielung. »Es gibt zwischen uns eine ganz selbstverständliche und natürliche Kommunikation«, so Rattle. »Ich brauche nicht einmal zu ihm hinzuschauen, um zu wissen, wann wir gemeinsam atmen werden. Es ist wie mit einem Bruder. Das funktioniert ganz organisch.«
»Es ist eine wunderbare und sehr inspirierende Zusammenarbeit«, findet Zimerman. »Ich erwarte von Simon nicht, dass er mich ›begleitet‹, was er aber trotzdem tut, denn er schmiegt sich an wie ein Handschuh. Er ist immer da, wenn er gebraucht wird. Das ist eine ganz andere Ebene des Musizierens und Verstehens.«
Dem Albtraum des Corona-Lockdowns kann Rattle dabei sogar etwas Positives abgewinnen: »Sollte irgendjemand Musik für selbstverständlich gehalten haben, dann ist das jetzt ein für alle Mal vorbei. Und das bewahrt uns davor, Beethoven ›wie immer‹ zu spielen, sofern diese Gefahr jemals bestanden haben sollte. Außerdem erinnert es uns daran, wie wichtig und rein diese Musik ist. Wir alle sind ausgehungert nach Musik, und da ist das hier ein wahres Festmahl.« Und Zimerman fügt nur noch hinzu: »Irgendwann haben wir Corona hinter uns, und dann können wir einfach wieder Musik machen.«
Jessica Duchen
 
 
A MIRACLE IN THE MAKING
December 2020: the London Symphony Orchestra assembles at its rehearsal home, LSO St Luke’s, spreading across the hall’s full length. Under Covid−19 pandemic regulations, each player has a protective screen and seating is “socially distanced”. Krystian Zimerman and Simon Rattle are here to record Beethoven’s piano concertos in the composer’s 250th birthday year; in such circumstances this seems almost miraculous.
“The orchestral set-up is fascinating because you have to send the music over long distances,” Rattle says. “Sometimes it feels like blowing smoke signals over a mountain. But the effort almost suits Beethoven. Struggle is part of the style. He is a composer who demands that everyone is straining every sinew, and who always asks more than you can give.”
Zimerman first recorded the concertos in 1989, with Nos. 3, 4 and 5 conducted by Leonard Bernstein. The anniversary was a perfect reason to do them again: “You can play these concertos all your life and still be hungry for them,” he says. This time he has fitted his piano with several interchangeable keyboards, inspired by Beethoven’s own instruments.
“Each concerto has a completely different face,” he says. “The first two are funny, in different ways.” No. 2 was drafted before No. 1 and Zimerman considers its humour “mean and goofy”. Rattle agrees: “This is amazingly bumptious, naughty Beethoven. We live through the depth and tragedy of his life, but sometimes forget the joys of spring in him, the energy of being alive. We see these forms being exploded; here you can feel it breaking out of the egg. It’s not a prelude to anything, it’s a full-blown masterpiece.”
“We think of him as a tempest-like character,” says Zimerman, “but he had a fantastic sense of humour. In the finale of No. 1 there is wit, sometimes cynicism or something grotesque. He is not so different from young people today. I used to play No. 1 as a very serious piece. When I was a small boy, there was a statuette of Beethoven on my piano and I remember my subconscious feeling that this was an old composer, an old man. Today I am seven years older than he ever was, and I have warm feelings towards him as a younger colleague. Now I can have fun playing this concerto more lightly, with more joy.”
Beethoven often chose C minor for his stormiest music, the Piano Concerto No. 3 included. “If you look at almost any picture of Beethoven, he looks like C minor!” Rattle quips. “But E major shows his other side: that is the heart of this piece, one of his most heartbreaking, beautiful slow movements.”
“The first movement is ‘allegro con brio,’” Zimerman notes, “yet often it’s played so slowly that the piano’s first scales do not sound like that. At a faster tempo, the listener’s consciousness spreads into bigger phrases with bigger perspectives on them. You see the structure, you have an overview and then you understand what is behind this music. I wanted to interpret it as very harsh, with a sound which is more granite than marble.”
No. 4, Rattle says, contains the purest music of all. “It has a kind of mystery: you never know where it’s going, it’s always moving into corners where you can’t catch hold of it. Even in something as concrete as the tiny second movement where the strings and piano play opposite music to each other, as though searching in the darkness for a meaning, I find this a total benediction. In the finale, the mischievous Beethoven is still there, but with an extraordinary wisdom. It breathes another air.”
“Composers write not for the piano, but for their piano,” Zimerman says. “They get feedback and inspiration from what they hear. For Beethoven it’s more complicated because of his hearing problem, which is probably quite different from what we imagined.” The action of a Walter piano – stronger than earlier models, yet light and fluid – inspired Zimerman’s keyboard here: “I learned that Beethoven had obtained a Walter instrument and probably worked on it while writing No. 4, which would explain a lot.”
“I love Krystian’s endless curiosity,” Rattle says. “Here he wants the colour of an early piano, but the power and possibilities of a modern one. So he has tried to give himself both worlds. His keyboard for No. 4 made the piano sound entirely different, more lyrical but still crystalline.”
No. 5, the “Emperor” Concerto, is the only one Beethoven never performed. By then he rarely played in public; Friedrich Schneider from Dessau therefore gave the premiere in Leipzig in 1811. The concerto is dedicated to Beethoven’s patron and pupil Archduke Rudolph, and to Zimerman it is “a symphony with a piano, where this piano is definitely someone rather grand and important”.
“It’s also often enormously expanded chamber music, so it’s not just a public face, but very personal,” Rattle says. “The middle movement is probably the most transcendent of his time-stands-still slow movements. Again he’s made his own unexpected language.”
This is Zimerman and Rattle’s fourth recording together in over two decades of collaboration. “There’s a feeling of complete natural communication,” Rattle says. “I do look at him, but I don’t have to: there’s a feeling that we know where we’re going to breathe. It’s like having a brother there. Organically, this works.”
“It’s a fantastic relationship, very inspiring,” says Zimerman. “I don’t expect Simon to accompany me, yet he does, because he’s absolutely like a glove. He’s always there when he should be. It’s a completely different dimension of music-making and understanding.”
Positive effects can emerge, too, from the nightmare of the pandemic’s lockdowns. “If any of us were guilty of taking music for granted, this of course has gone,” says Rattle. “It rescues us from playing Beethoven as ‘normal’, if that was a danger, and it reminds us of how important and how pure it is. This is feast after famine.” Zimerman adds simply: “Let’s get over Covid and get back to making music.”
Jessica Duchen  

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