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Als Kind vertraute ich meine Geheimnisse nur meiner Geige an. Sie war für mich wie eine Puppe oder eine Schwester, mit der ich meine geheimsten Gedanken teilte. Bei dem größten Geheimnis, das ich als Kind hatte, ging es um das größte und tiefste Gefühl des Menschen: Liebe. Im Kindergarten hatte ich mich in einen vierjährigen Jungen verliebt, und mein Bauch tat weh und machte Sprünge, wenn ich ihn sah. Ich erzählte niemandem davon, nicht einmal meiner Mutter, denn ich fürchtete, man würde meine starken Gefühle als Kinderkram abtun.
Was wäre das Leben ohne diese vielfältigen Gefühle, die wir nicht mit anderen zu teilen wagen? Unsere Geheimnisse betreffen viele verschiedene Aspekte des Lebens – Erziehung, Kultur, Religion und Familie –, und immer müssen wir uns selbst befragen und entscheiden, was wir offenbaren wollen und was nicht.
Unser Alltag wird oft von Dingen bestimmt, die wir für uns behalten und in unseren Herzen und Köpfen verbergen. Für Künstler ist Musik genauso wie bildende Kunst oder Literatur seit jeher eine wunderbare Möglichkeit, geheime Botschaften zu übermitteln und von heimlichen Lieben und nicht erzählten Geschichten zu sprechen. Dieser Aspekt der menschlichen Natur ist sehr faszinierend und spannend.
Szymanowskis Konzert erzählt von der Liebe und dem Schmerz eines Mannes, der seine Gefühle für einen anderen Mann verleugnen musste, weil diese Liebe zu seiner Zeit sowohl vom Gesetz wie von der Gesellschaft verurteilt wurde. Die Musik tanzt zwischen Erotik und Mitleid, zwischen einer Traumwelt und der bitteren Realität.
Chaussons Poème ist eine leidenschaftliche Liebeserklärung, und jedes seiner Themen feiert dieses Gefühl in allen Facetten von Verlust bis Schönheit.
Diese Werke kombiniere ich mit Musik von Franck und Debussy, der ebenfalls die zauberhaftesten Stimmungen zu beschwören verstand, voller Reinheit und Fantasie.
Lisa Batiashvili
IM INNERN DER MUSIK
César Franck, Wahl-Franzose aus dem belgischen Lüttich, frühreif klavierspielendes Wunderkind, Liszt-Protegé und schließlich für Jahrzehnte organiste titulaire an der Pariser Kirche Sainte-Clotilde: Als er 1890 an den Folgen eines Verkehrsunfalls starb, beschloss seine enthusiastische Schülerschar, die bande à Franck, dem verklärten Meister ein Denkmal zu errichten. Dieses Monument zeigt Franck an der Orgel, in sich gekehrt, mit verschränkten Armen, während sich ein Engel über ihn beugt: Bereits zu Lebzeiten war Franck mit dem Ehrentitel »Pater Seraphicus« bedacht worden.
Doch der vermeintlich ahistorisch entrückte Orgelprofessor schwang sich im Alter zum wahren Pionier auf, als er im traditionell opern- und theaterversessenen Frankreich ein Spätwerk lupenreiner und fundamental durchdachter Instrumentalmusik schuf: das Klavierquintett, die Variations symphoniques, die d-Moll-Symphonie, das Streichquartett – und die A-Dur-Sonate für Violine und Klavier, die Franck 1886 komponierte und als erlesenes Hochzeitsgeschenk seinem belgischen Landsmann, dem Geiger Eugène Ysaÿe verehrte. Keiner der Sätze gleicht dem anderen, und doch sind sie einander ähnlich. Das Hauptthema, im Kopfsatz von der Sologeige vorgetragen, eine elegante, schweifende Melodie mit charakteristischen Terzschritten, strahlt aus auf alle folgenden Sätze und stiftet einen Beziehungsreichtum, den man nicht immer und unfehlbar bemerken wird, auch wenn die geheimnisvolle Logik dieser Musik, das »Folgerichtige«, von Anfang an zu spüren ist.
»Ich wollte nur nicht sterben, bevor ich nicht wenigstens eine einzige Seite geschrieben habe, die ins Herz trifft«, bekannte Ernest Chausson, einer der eifrigsten Jünger aus der bande à Franck. Schon als junger Mann war er von diesem Gedanken wie besessen: dass ihm keine Zeit bleibe, dass er nicht lange leben werde. Und er wurde tatsächlich nicht alt. Im Sommer 1899 verunglückte Chausson im Alter von 44 Jahren, als er mit dem Fahrrad auf abschüssiger Straße gegen eine Mauer raste – ein Komponist des Fin de Siècle, der die Jahrhundertwende nicht mehr erleben sollte.
Sein Konzert für Violine und Orchester, das er bis 1896 auf Drängen von Eugène Ysaÿe komponierte, nannte Chausson zunächst Le Chant de l’amour triomphant (»Das Lied der triumphierenden Liebe«), nach einer Erzählung des russischen Schriftstellers Iwan Turgenjew, in der das Spiel einer indischen, mit bläulicher Schlangenhaut überzogenen Geige ein tödliches Eifersuchtsdrama auslöst. Bald jedoch hieß das Konzert neutraler Poème symphonique und schließlich bloß noch Poème. Nur als Konzert bezeichnete er es nie, auch wenn es in seiner freien, einsätzig-vielteiligen, zugleich zyklischen Form wie ein Prototyp zu Szymanowskis zwanzig Jahre später entstandenem Violinkonzert Nr. 1 anmutet. Unverkennbar hat der Gedankenaustausch mit Ysaÿe seine Spuren hinterlassen, und der Solopart verrät, namentlich im melodisch verschlungenen Doppelgriffspiel, die Handschrift des belgischen Geigers, der obendrein in seinen Meisterkursen den Eindruck erweckte, gleich noch die gesamte Kadenz beigesteuert zu haben. Für den transzendentalen Schluss des Poème, wenn die Violine in einer schier endlosen Folge irisierender Triller dahinschmilzt, nahm sich Chausson jedenfalls das Poème élégiaque zum Vorbild, das Ysaÿe zur selben Zeit vollendete. Aber Chausson verleugnete seine Dankesschuld keineswegs, ganz im Gegenteil, und sprach zu Ysaÿe von »mon-ton poème« (»mein-dein Poem«), einem Freundschaftswerk. »Nichts ist rührender in seiner träumerischen Zartheit als das Ende dieses Poems, wo die Musik alle Beschreibung, alle erzählende Äußerlichkeit beiseite lässt und zum reinen Ausdruck der Empfindung wird, aus der sie entstand«, schwärmte Claude Debussy, dessen Mélodie Beau soir auf einen Text von Paul Bourget von Sonnenuntergang, Jugend und Todesahnung spricht, als wäre sie ein Tombeau zum Gedächtnis für Chausson.
Auf seinen Sehnsuchtsreisen nach Italien, Sizilien und Nordafrika fühlte der polnische Aristokrat Karol Szymanowski eine geradezu existenzielle Begeisterung für die mediterrane Kultur und die orientalische Welt: für griechische Mythen und morgenländische Märchen, für die byzantinische Kunst, die persische Dichtung. In Szymanowskis Musik herrschte fortan ein anderer Geist, ein Schönheitskult der aparten Klangreize und delikaten Farbspiele, der freien, fließenden Rhythmen, der entgrenzten Tonalität, eine überaus verfeinerte, betörende und geheimnisvolle Nervenkunst. 1916 komponierte Szymanowski sein Erstes Violinkonzert op. 35, fachkundig beraten von seinem Freund und Landsmann, dem Geiger Paweł Kochański, der auch die in der Partitur fixierte Kadenz beisteuerte. Außerdem spielte Kochański 1924 bei der US-Premiere des Stücks mit dem Philadelphia Orchestra in der traditionsreichen Academy of Music in Philadelphia – an derselben Stelle also, wo knapp 100 Jahre später die vorliegende Aufnahme entstand. Exotismus und Ekstase durchströmen dieses einsätzige Konzert, das obendrein von einem Gedicht des polnischen Zeitgenossen Tadeusz Miciński beflügelt sein soll: Noc majowa (»Mainacht«), einer Phantasmagorie aus Vogelstimmen, Fabelwesen und antiken Gottheiten. Das Stück schwelgt geradezu in ausgefallenen Spielarten, unerhörten Mixturen und surrealem Klangzauber; »fantastisch und unerwartet« nannte Szymanowski sein Violinkonzert, dessen vieldeutige, labyrinthische Form zwar traditionelle Satz- und Tanztypen wie Präludium, Rondo, Scherzo, Notturno oder Havanaise berührt, aber keine von ihnen ausprägt. Diese radikal moderne Musik feiert die Freiheit des Andersseins. Nichts liegt ihr fern, nichts bleibt ihr fremd, nichts hält sie fest.
Wolfgang Stähr
As a child, I told my secrets only to my violin. I treated the instrument like a doll, or a sister, sharing my most private thoughts with it. The biggest secret I had as a child was connected to the deepest and strongest human emotion: love. In kindergarten, I fell in love with a four-year-old boy, and my stomach ached and leapt when I looked at him. I feared telling anyone, even my mother, who I worried would dismiss the emotions I felt so strongly, because I was so young.
What would human life be like without this range of emotions which we feel cannot be shared with anyone? Our secrets are connected to many spectrums of life: education, culture, religion and family, constantly challenging our innermost thoughts and forcing us to choose what, and what not, to reveal.
We often even define our daily life by the things we keep to ourselves in our minds and hearts. Music, just like art and literature, has always been the most amazing vehicle for artists to share secret messages and speak about their hidden loves and untold stories. This is such an intriguing and interesting part of human nature.
The Szymanowski Concerto is a piece full of love and pain deriving from the restricted love of a man who was in love with another man at a time when this was outlawed both legally and morally. It is a dance between eroticism and compassion, between a dream world and tough reality.
Chausson’s Poème is a powerful declaration of love with all of its nuances of loss and beauty hidden within each theme.
I decided to pair these two works with music by Franck and Debussy, who himself was a messenger of the most magical atmosphere, fantasy and purity one can imagine.
Lisa Batiashvili
IN THE INNER WORLD OF MUSIC
Born in Liège in Belgium, César Franck later took French citizenship. A child prodigy on the piano, he was for a time a protégé of Liszt before occupying the post of titular organist at Sainte-Clotilde in Paris for a period of over three decades. When he died as the result of a traffic accident in 1890, an enthusiastic cohort of his pupils – the bande à Franck – decided to erect a monument to the mentor whom they worshipped. The monument in question depicts Franck seated introspectively at the organ, his arms folded, while an angel bends over him: even during his own lifetime he had been known as “Pater Seraphicus”.
Despite his reputation as an ahistorical and otherworldly professor of the organ, Franck became a veritable pioneer of French music in his old age, creating a series of instrumental works notable for their flawless textures and immaculately well-thought structures – and this in a country traditionally obsessed with opera and the theatre. Among these works, pride of place goes to his Piano Quintet, his Variations symphoniques, his D minor Symphony, his String Quartet and the A major Sonata for violin and piano that Franck wrote in 1886 as an exquisite wedding present for the Belgian violinist Eugène Ysaÿe. Not one of its movements resembles the others, yet all are similar to one another. The main theme, which in the opening movement is entrusted to the solo violin, is an elegant and expansive melody involving characteristic thirds that extends its radiant warmth to all of the following movements, creating a wealth of associations that it is not always possible to identify with unfailing accuracy but which none the less allows listeners to sense the mysterious logic of this music, making the work appear rigorously coherent from start to finish.
One of the most enthusiastic members of the bande à Franck was Ernest Chausson, who once admitted that “I didn’t want to die until I had written at least a page that goes straight to the heart”. Even as a young man, he had been obsessed by the idea that he had little time left and that he would not live to a ripe old age. This did indeed prove to be the case: he was only forty-four when he was riding his bicycle in the summer of 1899 and crashed into a wall on a steep road, a fin de siècle composer who was not to live to see the new century.
Le Chant de l’amour triomphant (The Song of Love Triumphant) was the title that Chausson originally gave to his concerto for violin and orchestra, which he wrote at the urging of Eugène Ysaÿe, completing it in 1896 and naming it after a short story by the Russian writer Ivan Turgenev, in which the playing of an Indian violin coated in a bluish snakeskin triggers a drama on the theme of jealousy that culminates in death. Soon, however, the work was given a more neutral title as Poème symphonique, before finally being called simply Poème. Chausson never referred to it as a concerto, for all that it seems the prototype of Szymanowski’s Violin Concerto No. 1 of twenty years later in terms of its free, cyclical, one-movement form. Chausson’s exchange of ideas with Ysaÿe has left its unmistakable mark on the work, the solo writing in particular revealing the imprint of the Belgian violinist with its melodically intricate multiple-stopping. In his masterclasses Ysaÿe even gave the impression that he had contributed the whole of the cadenza. The transcendental ending of the piece, conversely, where the violin melts away in a seemingly endless series of iridescent trills, is clearly modelled on the Poème élégiaque that Ysaÿe himself was completing at more or less the same time. Chausson certainly did not deny his debt of gratitude – far from it. Rather, he referred to the work as “mon–ton poème” (“my–your poem”) and, as such, as a product of their friendship. “Nothing is more touching”, enthused Debussy in 1913, “than the gentle dreaminess at the end of this Poème, where, casting aside any ideas of description or narrative, the music itself is the sentiment that commands our feelings.” Debussy’s song Beau soir is a setting of a poem by Paul Bourget that tells of sunset, youth and a presentiment of death, and suggests nothing so much as an in memoriam written in honour of Chausson.
The Polish aristocrat Karol Szymanowski was drawn to Italy, Sicily and North Africa and on his visits there developed a positively existential enthusiasm for Mediterranean culture and the Orient: for Greek myths and tales from the East, for Byzantine art and Persian poetry. From then on his music breathed a new spirit, celebrating the cult of beauty with its exquisite sonorities and delicate interplay of colours, its free and flowing rhythms, its unfettered tonality and a supremely sophisticated, beguiling and mysterious art appropriate to an age of nervous splendour. Szymanowski wrote his First Violin Concerto op. 35 in 1916. In composing it, he received technical advice from his friend and fellow countryman, the violinist Paweł Kochański, who also proposed the cadenza enshrined in the score. And it was Kochański who gave the work’s US premiere with The Philadelphia Orchestra in 1924 at the historic Academy of Music in Philadelphia – the same venue at which the present performance was recorded almost a century later. Exoticism and ecstasy pervade this single-movement piece, which is additionally said to have been inspired by a poem by one of the composer’s Polish contemporaries, Tadeusz Miciński, Noc kajowa (May Night), a phantasmagoria of birdcalls, mythical creatures and ancient gods. The work positively revels in unusual performance techniques, in unprecedented mixtures and surreal sonorities. Szymanowski himself called the work “fantastic and unexpected”. Its ambiguous, labyrinthine form may hint at traditional movement types and dance forms such as the prelude, rondo, scherzo, notturno and havanaise, but none of them may be said to be dominant. This radically modern music celebrates the freedom to be different. Nothing is far from its thoughts, nothing is alien to its nature, nothing holds it fast.
Wolfgang Stähr