Maurizio Pollini | News | Booklettext: Maurizio Pollini, Beethoven op. 109-111 - 21.2.2020 (VÖ) (DE/EN)

Maurizio Pollini
Maurizio Pollini

Booklettext: Maurizio Pollini, Beethoven op. 109–111 – 21.2.2020 (VÖ) (DE/EN)

30.01.2020
Please scroll down for English version
 
Maurizio Pollini
Beethoven: The Last Three Sonatas opp. 109–111
Deutsche Grammophon
Veröffentlichungsdatum: 21. Februar 2020
 
Musik als höhere Offenbarung
Nach mehr als 40 Jahren hat Maurizio Pollini noch einmal die letzten drei Klaviersonaten von Beethoven eingespielt, und er sagt dazu Folgendes: »Die drei Sonaten wurden seinerzeit zwar einzeln gedruckt, man kann sie aber auch unter einem gemeinsamen Blickwinkel betrachten. Ich habe diese Meisterwerke in den letzten 40 Jahren sehr oft gespielt, und dabei ist mir immer wieder der Reichtum ihrer Details aufgefallen. Im Grunde lassen sie den Rahmen der klassischen Sonatenform weit hinter sich. Variation und Fuge spielen in ihnen eine mindestens ebenso wichtige und tragende Rolle wie die Sonatenhauptsatzform, und hinzu kommen vollkommen frei gestaltete Passagen, in denen sich das subjektive Erleben des Komponisten ganz unmittelbar auszudrücken scheint. Dabei fällt mir etwas ein, das Bettina Brentano in einem Brief an Goethe geschrieben hat: Beethoven habe einmal zu ihr gesagt, ›dass Musik höhere Offenbarung ist als alle Weisheit und Philosophie‹.«
In der E-Dur-Sonate op. 109 (vollendet im September 1820) wirken die beiden ersten, direkt aufeinander folgenden und vergleichsweise kurzen Sätze wie ein einziges großes Vorwort zum Schlusssatz. Im eröffnenden Vivace, ma non troppo finden sich noch Spuren der Sonatenform und so etwas wie Durchführung und Reprise, doch an die Stelle des zweiten Themas tritt ein Adagio espressivo mit dem improvisatorischen Gestus einer freien Fantasie. Das rasante und knapp gehaltene Prestissimo lebt von klar umrissenen, straffen und prägnanten Motiven, die eine einzige große Steigerung beschreiben, voll drängender Unruhe und Anspannung. Formal handelt es sich dabei um einen Sonatensatz mit zwei Themen, in dessen kurzer Durchführung die Basslinie des ersten Themas kanonisch verarbeitet wird.
Ein Variationensatz dient als Finale und reißt neue Horizonte auf. Was Beethoven in seinem Spätwerk mit den Mitteln der Variationstechnik leistet, hat nichts mehr zu tun mit dem virtuos-ornamentalen Stil seiner Zeitgenossen, sondern ist strukturell gedacht. Man spürt darin eine gewisse geistige Nähe zu Bachs Goldberg-Variationen, die seinerzeit als altmodisch galten. Beethovens Thema ist eine Hymne von inniger Schönheit und gliedert sich ganz regelmäßig in zwei Teile von jeweils acht Takten. Die folgenden Variationen widmen sich unterschiedlichen Aspekten des Themas. Die erste Variation überhöht seinen melodischen Bogen, während sich die zweite durch ihren Umfang und die Vielfalt der Stimmungen auszeichnet. Die dritte Variation führt das Thema im doppelten Kontrapunkt durch, bevor die vierte in freierer Kontrapunktik seine sangliche Seite betont. Die fünfte Variation, eine strenge dreistimmige Fuge von klarem und kompromisslosem Zuschnitt, steht in bemerkenswertem Kontrast zur Sanftmut und lichten Verklärung der letzten, die selbst wie eine Reihe von Variationen anmutet und von einem nahezu durchgängigen Dominantpedal getragen wird. Dieses wiederkehrende H verwandelt sich allmählich in einen Triller, der durch verschiedene Tonlagen wandert; im Schlussteil liegt er im mittleren Register, untermalt von schnellen 32-teln in der linken Hand, während in hoher Lage, noch über dem Triller, eine aufgebrochene Variante des Themas in abgesetzten Einzeltönen erklingt, als eine Art pianistisches Pizzicato. Mit dieser ganz und gar neuartigen Klangwirkung versetzt Beethoven seine Zuhörer – wie so oft in seinen letzten Werken – in eine Welt des Ätherischen, Durchscheinenden, Körperlosen, bevor am Schluss noch einmal die sanfte Ruhe des Themas aufgegriffen wird.
Die Sonate op. 110 von 1821 schlägt einen lyrischen und nachdenklichen Ton an, und ihre freien Formabläufe wirken höchst subjektiv. Im Kopfsatz lassen sich noch Umrisse eines Sonatensatzes erkennen, der jedoch ganz neu gedacht ist. Das zeigt sich bereits bei der Vorstellung des ersten Themas: Gegliedert in 4+7 Takte ist es in seinem intensiven, kantablen Gestus mit enorm vielen Details aufgeladen, die der Komponist für die weitere Entwicklung zu nutzen weiß. Die folgenden Figurationen in schnellen 32-teln wirken wie eine freie Fantasie, dienen jedoch als Überleitung zum zweiten Thema und stehen auf demselben harmonischen Fundament wie die ersten Takte (und in der Reprise fungieren sie darum auch als Begleitung des ersten Themas). Der lyrische Bogen des zweiten Themas schwingt sich empor bis in die höchsten Regionen der Klaviatur, und eine kurze Durchführung beschäftigt sich allein mit den ersten vier Takten dieses Satzes.
Mit dem brüsken Beginn des folgenden Allegro molto in f-Moll (einem Scherzo samt Trio) ändert sich die Stimmung schlagartig. Dieser Satz ist geprägt von abrupten dynamischen Wechseln zwischen Forte und Piano, einem dramatischen Chiaroscuro und Anklängen an volkstümliche Melodien, und der gewagte, instabile Mittelteil wirkt geradezu verstörend.
Der nächste Satz verschmilzt Adagio und Fuge. Mit seiner verinnerlichten Tonsprache scheint das Adagio die physischen Beschränkungen des Klaviers aufheben zu wollen, um es zu einem sanglichen Instrument zu machen, was einige bemerkenswerte Klangwirkungen zeitigt. So gelingt es Beethoven in einem berühmten Spannungsmoment, das Tasteninstrument quasi »zum Sprechen « zu bringen, wenn er mit einem mehrfach angeschlagenen A den Clavichord-Effekt einer »Bebung« nachahmt. Auf dieses Rezitativ folgt die nackte Trostlosigkeit des Arioso dolente (Klagender Gesang), das am Ende in einer Kadenz verlischt, aus der sich der ruhige und gelassene Beginn der Fuge herausschält. Diese Fuge steht für die Sehnsucht nach einer vernünftigen und menschlichen Zuversicht, ganz anders als die sperrig-verquere und hochkomplexe Schlussfuge von Opus 106. Überraschend wird das Arioso dolente noch einmal aufgegriffen: Perdendo le forze, dolente (Ermattet, klagend) notierte Beethoven hier im Autograph, als Sinnbild für einen Zustand der Erschöpfung, der sich auch im Auseinanderbrechen der klagenden Melodie niederschlägt. Nachdem sie verklungen ist, künden Akkordwiederholungen von wiedergewonnener Sicherheit, und die Fuge wird wieder aufgenommen, in der Umkehrung und dadurch in ein geradezu unwirkliches Licht getaucht. In nicht ganz korrektem Italienisch schreibt Beethoven hier poi a poi di nuovo vivente (nach und nach wieder auflebend), und am Ende mündet die Fuge in eine strahlende Bekräftigung, die auf kontrapunktische Techniken verzichtet.
Maurizio Pollini hierzu: »Starke Kontraste finden sich überall bei Beethoven: Der letzte Satz von Opus 110 schwankt zwischen völlig gegensätzlichen Stimmungen, und in Opus 111 liegt der tiefere Sinn der Komposition und ihr eigentliches Rätsel in der Beziehung zwischen dem tragischen Kopfsatz und der Arietta con variazioni
Die Sonate op. 111 erschien 1823 im Druck, und am Ende ihrer langsamen, düster-spannungsvollen Maestoso-Einleitung fungiert ein Triller in tiefer Lage als Überleitung zum Allegro con brio ed appassionato und zur Vorstellung des ersten Themas. Auf die gravitätische Kompaktheit der Anfangsakkorde antwortet dieses Thema mit einer angespannten, ganz aufs Wesentliche reduzierten Linie von herber Energie. Es wird kontrapunktisch, fast schon fugenmäßig durchgeführt, und in der wachsenden Spannung des ersten Satzes wirkt das zweite Thema wie eine Oase reinster Poesie, auf die jedoch sofort wieder eine Variante des ersten Themas folgt. In der Reprise wird das zweite Thema etwas breiter ausgeführt, bevor die Coda in einem Pianissimo-Schluss in C-Dur ausklingt.
Auf den dramatisch zugespitzten Konflikt des ersten Satzes antwortet die Arietta con variazioni mit feinsinnigen Betrachtungen, die gänzlich unberührt scheinen von aller Tragik, Verzweiflung und Enttäuschung und diese Gefühle dank ihrer visionären Kraft und durchgeistigten Klangsprache so weit verklären, dass eine Fortsetzung oder gar eine Rückkehr in andere Ausdruckswelten unmöglich scheint. Dieser Aspekt erschloss sich Schindler wohl nicht, als er bedauerte, dass Beethoven (nach eigener Aussage aus Zeitmangel) keinen dritten Satz komponiert hatte. Das unprätentiöse Thema wird für Beethoven zum Ausgangspunkt einer Reise ins Unsagbare. Wie im Lehrbuch beginnt er mit einer Reihe von Variationen in immer schnelleren Notenwerten, bevor er zu freieren Lösungen greift, die sich in kein Schema mehr pressen lassen. Bereits die dritte Variation verzichtet mit ihrer ungebändigten rhythmischen Energie auf die Wiedererkennbarkeit des Themas; die vierte Variation ist zweigeteilt und geht über in eine freie Episode voller rauschhafter Verzögerungen, die in einem körperlosen Flirren und Trillern endet und dabei den weitesten Abstand zwischen den beiden Hände erreicht. Die fünfte Variation beginnt als variierte Reprise und gipfelt in einer freien Wiederholung des Themas in hoher Lage, vorbereitet und eingehüllt von irisierenden Trillern: ein kostbarer Moment der Katharsis.
In seinen Konversationsheften notierte Beethoven ein berühmtes Kant-Zitat, das er voller Bewunderung unterstrich und mit drei Ausrufezeichen versah: »Das moralische Gesetz in uns, und der gestirnte Himmel über uns«. Maurizio Pollini findet den Gedanken reizvoll, dieses Zitat auf die vierte Variation der Arietta zu beziehen, auch wenn sich diese Hypothese leider nicht belegen lässt.
Paolo Petazzi  
 
Music – A Higher Revelation
This latest recording from Maurizio Pollini features Beethoven’s final three piano sonatas, works he first recorded more than four decades ago. “The sonatas were published separately,” notes Pollini, “but can be seen as forming a unified cycle.” He goes on to say, “Having played these works many, many times in the last 40 years, I’ve continually discovered new riches in every detail. In these masterpieces we see Beethoven departing from conventional form – alongside sonata form we find variation and fugue both playing significant, even decisive roles, and we can also see completely free episodes which appear to be direct translations of the composer’s subjective feelings. I’m reminded of a phrase that Bettina Brentano (in a letter to Goethe) attributed to Beethoven: ‘Music is a higher revelation than any wisdom or philosophy.’”
In the Sonata in E major op. 109 (completed in September 1820) the first two movements – played without a break – function almost as an introduction to the much longer finale. There are traces of sonata form in the opening movement: the initial Vivace, ma non troppo includes a kind of development and recapitulation, but in place of a second subject we find an improvisatory, almost fantasia-like Adagio espressivo. Driven and concise, the Prestissimo is an agitated, stormy piece of writing, with taut, clear-cut lines. Here we can clearly discern bithematic sonata form, with the bass line of the first theme becoming the principal element of a canon during the brief development section.
New horizons are then opened up as the traditional finale is replaced by a variations movement. In his late works, Beethoven’s use of variations was structural in conception, bearing no relation to the virtuosic-ornamental type then in vogue. His main point of reference seems rather to have been Bach’s then very unfashionable Goldberg Variations. The hymn-like theme, with its intimate beauty, consists of two eight-bar phrases. Different aspects of the theme are reflected and reworked in the variations, the first transforming its melody, the second being notable for its unique breadth and variety of character. Variation III is written in double counterpoint, while the freer contrapuntal style of the fourth variation intensifies the cantabile nature of the theme. The fifth is a strict three-part fugue whose crisp energy forms an extraordinary contrast with the gentleness and luminous transfiguration of the sixth and last, itself seemingly a succession of variations united by the almost constant presence of a dominant pedal. This repeated B becomes a trill, moving from register to register: in the final section it shifts to the middle register, as the left hand plays rapid demisemiquaver patterns while in the upper register, above the trill, a shattered version of the theme appears in isolated staccato notes, sounding almost like pizzicato string playing. With this highly innovative use of sonorities, Beethoven seems – as so often in his late-period masterpieces – to lead the listener into ethereal and rarefied regions. To conclude the work, we hear one last presentation of the gentle, meditative theme.
The Sonata in A flat major op. 110 (1821) is lyrical and reflective in tone, and its free formal procedures display a notable subjectivity. Sonata form is there in the first movement, but reimagined in an entirely original manner. Take the presentation of the first theme, for example, which is divided into two phrases of four and seven bars respectively – its intense cantabile writing is thick with details later developed by the composer. The rapid demisemiquaver figurations that follow seem to suggest a free fantasia, but in fact serve as a transition to the second subject and have the same harmonic foundation as the opening bars (in the recapitulation they provide an accompaniment to the first subject). The lyrical arc of the second subject soars into the top registers of the keyboard; the brief development section is based on the first four bars alone.
A sudden change in mood is marked by the abruptness with which the Allegro molto in F minor (a scherzo and trio) bursts in. This movement is characterized by alternations in dynamics between forte and piano, a dramatic use of chiaroscuro, and allusions to popular songs, with a central section whose writing is impassioned, restless and disquieting.
The finale comprises an Adagio and a Fuga that together form a single block. The inwardlooking language of the Adagio suggests the idea that the piano is yearning to transcend its physical limitations and move into the realm of vocal music, resulting in some highly original sound effects: Beethoven’s ability to make his keyboard instrument “speak” culminates perhaps in the famous series of repeated A naturals that simulates the Bebung vibrato technique associated with the clavichord. The recitative section incorporating the Bebung passage is followed by the bleak desolation of the Arioso dolente (Klagender Gesang) [Song of lamentation], but out of the cadence in which the lament fades away there emerges the limpid, tranquil start of the fugue, which represents a desire to rediscover a rational, humanistic trust (it is radically different from the fugue of bewildering, unrestrained complexity that brings the “Hammerklavier” Sonata op. 106 to an end). The fugue is suddenly interrupted by a return to the Arioso: Perdendo le forze, dolente (Ermattet, klagend) [weary, lamenting], writes Beethoven, evoking a state of exhaustion which manifests itself in the fragmentation of the lament tune. When this ends, a repeated chord that continually grows in volume heralds a new sense of security; with its subject inverted, the fugue returns, now acquiring a somewhat unreal quality. In slightly inaccurate Italian, Beethoven here writes poi a poi di nuovo vivente (nach und nach wieder auflebend) [gradually coming to life again]: shedding its contrapuntal writing, the fugue builds to a jubilant conclusion.
Pollini observes, “The use of powerful contrasts is a constant in Beethoven’s music: the final movement of Op. 110 fluctuates between very different moods, while the deeper, more mysterious meaning of Op. 111 is to be found in the relationship between its tragic opening movement and the Arietta con variazioni.”
At the end of the slow, dark, tension-laden introduction (marked Maestoso) of the Sonata in C minor op. 111 (published in 1823), a trill in the lower register leads into the Allegro con brio ed appassionato and the arrival of the first subject. With its jagged linearity and stark, energetic concision, it provides a contrast with the sombre, compact chords of the introduction. The contrapuntal writing, almost fugato at times, adds to the tension of the first subject, which dominates the opening movement, the second subject injecting just a brief moment of intensely lyrical respite before being swept away by a variant of the first. The lyrical second subject does reappear in slightly expanded form in the recapitulation, then the coda fades away, pianissimo and in C major.
The relentless drama of the first movement is counterbalanced by the sublime, meditative quality of the Arietta con variazioni, which seems to lift the movement beyond any feelings of tragedy, despair or disillusionment and instead transform them with a visionary, spiritual idiom that precludes continuation or a return to other expressive dimensions. Anton Schindler expressed regret about the lack of a third movement, reporting that Beethoven had told him he had not had time to compose one, but this perhaps betrays his own lack of understanding of the Arietta. The composer takes a theme of pure simplicity as the starting point for a journey towards the ineffable. This begins with a regular succession of variations built on ever shorter note values, before exploring freer solutions that can no longer be traced back to specific conventional schemes. The theme starts to become less recognizable in the rhythmically complex third variation. The fourth is a double variation which opens out into a free-form episode in which the music lingers ecstatically on trills, creating moments of shimmering iridescence and taking the hands as far away from one another as possible. The fifth sees a varied repeat of the theme, which is then heard in the upper register, in an atmosphere of rarefied catharsis, preceded by and swathed in further ethereal trills.
In one of his conversation books, Beethoven wrote down and underlined some words from a famous passage by Kant (adding three admiring exclamation marks): “the moral law within us and the starry heavens above us”. While there is no way of proving a link between this and the fourth variation of the Arietta, Maurizio Pollini sees their possible connection as a fascinating hypothesis.
Paolo Petazzi

Weitere Musik von Maurizio Pollini

Mehr von Maurizio Pollini