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ZURÜCK ZUM SPÄTEN BEETHOVEN
Jede Beethoven-Sonate ist eine Welt für sich«, sagt Maurizio Pollini. »Jede hat ihren eigenen Charakter, von der ersten bis zur letzten Note. Jede ist einmalig. « Beethovens Musik begleitet den italienischen Pianisten schon fast sein gesamtes Leben. In den 1970er-Jahren entstand seine mittlerweile zum Klassiker gewordene, mit einem Gramophone Award ausgezeichnete Einspielung der letzten fünf Sonaten, und bis 2014 nahm Pollini dann alle 32 Sonaten auf. Doch natürlich ist die Arbeit eines Künstlers nie zu Ende, und 2019 kehrte er zu Beethovens späten Sonaten zurück, um die letzten drei noch einmal aufzunehmen.
Mit dem vorliegenden Album, aufgenommen 2021/22 ebenfalls in der exzellenten Akustik des Münchner Herkulessaals, komplettiert Pollini nun diese zweite Einspielung der späten Sonaten. Für ihn sind sowohl die A-Dur-Sonate op. 101 als auch die »Hammerklavier- Sonate« op. 106 »durch und durch geniale Werke«. In beiden Sonaten erkundet Beethoven neues Terrain und experimentiert mit Form, Harmonik und Kontrapunkt. Opus 101 markiert nach allgemeiner Auffassung den Beginn von Beethovens »Spätstil«, der dritten und letzten Phase seiner Karriere. Und mit Opus 106 revolutionierte er die Gattung grundlegend und stellte die Pianisten vor völlig neue technische und emotionale Herausforderungen. Für Pollini ist sie »die großartigste Beethoven-Sonate überhaupt«.
Mit der Arbeit an Opus 101 begann Beethoven im Sommer 1815, ein Jahr nach der zweisätzigen, lyrischen Sonate op. 90. Nach ersten Skizzen legte er die Sonate zur Seite und vollendete sie erst 1816, um sie ein Jahr später in den Druck zu geben. Zu dieser Zeit überschatteten seine fortschreitende Ertaubung und Auseinandersetzungen innerhalb der Familie zunehmend sein Leben. Trotzdem ist die A-Dur-Sonate ein überaus poetisches und inniges Werk voller Innovationen. »In Opus 101 erlaubt sich Beethoven viele Freiheiten. Jeder der vier Sätze ist ganz anders als alles, was er bis dahin geschrieben hatte, und es ist nicht einfach, diese Musik richtig zu verstehen und zu spielen«, so Pollini.
Formale Anlage und Ausgestaltung der Sonate sind sehr ungewöhnlich und wirken gleichzeitig raffiniert und schlicht, voller Überraschungen und doch von bestechender Zwangsläufigkeit. Den Anfang macht ein ausdrucksvolles Allegretto, laut Beethoven »mit der innigsten Empfindung« zu spielen. Statt eines Menuetts oder Scherzos folgt darauf ein energischer Marsch samt eines duftigen Trios. Der langsame Satz unterläuft danach immer wieder die Hörerwartungen. Er beginnt mit einem »sehnsuchtsvollen« Thema, doch nach 20 Takten greift Beethoven plötzlich das Thema des Kopfsatzes wieder auf. »Das ist eine Überraschung für Hörer und Interpret«, so Pollini. »Und das ist einer der Momente in dieser Sonate, in denen Beethoven ganz frei ist.« Das auftrumpfende Allegro, das sich nahtlos anschließt, hält noch einige weitere Überraschungen bereit, und gerade diese Fuge ist für Pollini »sehr ungewöhnlich und etwas ganz Neues in Beethovens Schaffen«.
Beethoven war es wichtig, Opus 101 und Opus 106 als Sonaten »für das Hammerklavier « zu bezeichnen und nicht einfach nur »für Pianoforte«. Heute ist dieser Name nur noch für Opus 106 gebräuchlich, ein gigantisches Werk und eine Mammutaufgabe für Pianisten seit mehr als 200 Jahren. »Das ist großartige Musik, deren Charakter man nur schwer zu fassen bekommt«, sagt Pollini. »Aber auch sehr schwer zu spielen und technisch wohl das Anspruchsvollste, was Beethoven jemals für Klavier geschrieben hat.« Die enormen technischen Anforderungen sorgten dafür, dass die 1818 vollendete und im folgenden Jahr veröffentlichte Sonate erst 1836 uraufgeführt wurde. Kein Geringerer als Franz Liszt wagte sich in der Pariser Salle Érard an die Premiere, und Berlioz meinte danach: »Liszt machte ein Werk verständlich, das noch nicht verstanden worden war.«
Seine ehrgeizigen Pläne unterstreicht Beethoven gleich im eröffnenden Allegro mit einem mächtigen Fortissimo in B-Dur und der Metronomangabe Halbe = 138, die Pianisten bis heute den Atem raubt. »Das angegebene Tempo ist extrem schnell und eigentlich unspielbar«, sagt Pollini. »Ich habe in dieser Aufnahme versucht, ein wenig schneller als sonst zu spielen und so nah wie möglich an die Vorgabe des Komponisten zu kommen. Ich denke, das ist richtig und gut so.«
Und er fährt fort: »Jeder Satz der ›Hammerklavier-Sonate‹ steht für sich. Die musikalischen Charaktere sind sehr unterschiedlich, sodass neben einem düsteren Satz wie dem Adagio sostenuto ganz lichte Sätze stehen wie die ersten beiden.« Der zweite Satz ist ein knappes, eigenwilliges Scherzo mit einem leichtfüßigen Moll-Zwischenspiel. Das emotionale Zentrum der Sonate bildet jedoch das grandiose Adagio sostenuto in der entlegenen Tonart fis-Moll. »Das ist einer der längsten langsamen Sätze von Beethoven überhaupt und auch einer der großartigsten«, sagt Pollini. »Neben dem Trauermarsch der ›Eroica‹ ist es vielleicht der eindrucksvollste Einzelsatz, den Beethoven jemals geschrieben hat.«
Ein reizvolles, wie improvisiert wirkendes Largo voller Kontraste leitet über zum Finale – einer langen und komplexen Fuge, die einige Überraschungen bereithält. Mehrfach griff Beethoven in seinen späten Werken auf Stilmittel älterer Musik wie Kontrapunktik, Fugen oder modale Tonleitern zurück, so auch im langsamen Satz des Streichquartetts Nr. 15 op. 132. Doch daraus könne man nicht ableiten, so Pollini, dass Beethoven »zum Geist der alten Musik« zurückkehren wollte. »Die Fuge in Opus 106 ist durch und durch modern. Er verwendet alte Techniken, um seine Musik zu erneuern.« Bis heute, so Pollini, habe die »Hammerklavier-Sonate« nichts an Aktualität eingebüßt.
Beethovens Spätwerke unterscheiden sich auch in anderer Hinsicht von seinen früheren Kompositionen. »Ich habe ein Buch mit musikalischen Themen und Ideen von Beethoven. Als junger Komponist hat er davon immer nur die besten verwendet«, so Pollini. »Er soll einmal gesagt haben, bei einer guten Idee spiele die Ausarbeitung keine Rolle. Aber in seinen späten Werken interessierte er sich gerade für diese Ausarbeitung. Oft hat er ein und denselben Satz immer wieder neu geschrieben, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war.«
Rebecca Franks
RETURNING TO LATE BEETHOVEN
Every Beethoven piano sonata is a different world,” says Maurizio Pollini. “He finds a different character in each one, from the first to the last. Each is unique.” The Italian pianist has spent a lifetime with Beethoven. Back in the 1970s he made his now classic recording of the composer’s five late piano sonatas, interpretations which won a Gramophone Award. Over the next four decades, Pollini recorded all 32 sonatas, with the final volume released in 2014 – but, of course, an artist’s work is never finished. In 2019 he returned to Beethoven’s last sonatas once again, recording the final three once more.
This new album completes this second set of late sonatas, featuring recordings made in 2021/22 also in the excellent acoustic of the Herkulessaal in Munich, Germany. The Sonata in A major op. 101 and the “Hammerklavier” Sonata in B flat major op. 106 are both “full of genius”, he explains. They are works that find the composer charting fresh territory, boldly experimenting with form, harmony and counterpoint. Op. 101 was the sonata that ushered in Beethoven’s so-called “late period”, the third and final of his stylistic eras. Op. 106 made something entirely new of the genre, testing the pianist’s technical and emotional resources like never before. It is, says Pollini, “the greatest Beethoven sonata”.
The German composer began work on his Sonata op. 101 in the summer of 1815, the year after he’d completed the lyrical two-movement Sonata op. 90. After some initial sketches, he then set op. 101 aside for some months, before finishing it in 1816 and publishing it the following year. During that period, his life was undergoing profound change, as he grappled with increasing deafness and family feuds. Yet the A major Sonata finds Beethoven writing music full of poetic intimacy and innovation. “Op. 101 is very free. Every movement is incredibly different to anything Beethoven had written before, and it’s a great challenge to understand and play it,” says Pollini.
The sonata’s construction and design are unlike any other, managing to be sophisticated and simple, unexpected yet inevitable. The piece begins with an eloquent Allegretto, which Beethoven asks to be played “mit der innigsten Empfindung” (with deepest feeling). Rather than a minuet or scherzo, a vigorous march and delicate trio follow, while the slow movement is never quite what it seems. It begins with music marked “sehnsuchtsvoll” (full of longing), yet after only 20 bars Beethoven makes the unusual move of bringing back the very opening theme. “It’s a surprise for the listener and for the player,” says Pollini. “It’s one of the moments where Beethoven is free in this sonata.” There are more surprises in store in the triumphant Allegro which follows without a break: a fugue that is, says Pollini, “very strange and absolutely new for his writing”.
Beethoven himself insisted that both Op. 101 and his next sonata, Op. 106, should be called sonatas “for Hammerklavier”, rather than “for pianoforte”. Yet the name has only stuck to Op. 106, a mammoth work that has been challenging pianists for over 200 years. “It is great music and it is certainly very hard to get to its character,” says Pollini, “but mainly it is technically very difficult. It is the most difficult work that Beethoven wrote for the piano.” So hard was it to master, in fact, that, even though Beethoven completed the piece in 1818 and published it the next year, it wasn’t until 1836 that it was first played in public. None other than Franz Liszt gave its premiere, at the Salle Érard in Paris. Berlioz wrote that the virtuoso had made “comprehensible a work not yet comprehended”.
Beethoven announces his ambitious intent with a ringing fortissimo B flat major, and a metronome marking for the opening Allegro of minim = 138 that still flummoxes pianists today. “The marking is very fast, and it’s almost not possible to play it,” says Pollini. “But in this recording I tried to play a little faster than usual and not be too far from the indication of the composer. I think that’s right and correct.”
“Each movement of the ‘Hammerklavier’ is special,” continues Pollini. “And we have the possibility of different characters in the music, as some movements are very dark, like the slow movement, and some are clear, like the first and second.” The second is a brief, almost whimsical scherzo, with a fleet-footed minor-key interlude, while the sonata’s emotional heart is a vast Adagio sostenuto in the remote key of F sharp minor. “It’s one of the longest slow movements Beethoven wrote and one of the greatest,” says Pollini. “You can think also of the funeral march of the ‘Eroica’ Symphony – these are perhaps the two greatest movements he ever composed.”
A remarkable Largo, full of improvisatory flair and contrasts, links the Adagio to the finale, in which Beethoven embarks on a fugue that is long and difficult – yet utterly revelatory. It’s often noted that his late style draws on the musical past, using complex counterpoint and fugues, or modality, for instance in the great slow movement of the String Quartet No. 15, op. 132. “Sometimes Beethoven is considered to have returned to the spirit of older music in his late works, but this is completely wrong,” says Pollini. “In the fugue of Op. 106, for instance, the character is completely modern. He uses old techniques to renew his music.” Even today, agrees Pollini, the “Hammerklavier” feels like a thoroughly modern artwork.
And the late works of Beethoven stand apart from the rest of his music in other ways, too. “I have a book in which there are many of Beethoven’s musical themes and ideas. He only used the extraordinary ones for his sonatas as a younger composer,” says Pollini. “He apparently once said that, when an idea is good, the elaboration of it has no importance. But in his late works elaboration had great importance. He would rewrite the same movement many times to achieve the perfection that he wanted.”
Rebecca Franks