Mitsuko Uchida | News | ROBERT SCHUMANN

Mitsuko Uchida
Mitsuko Uchida

ROBERT SCHUMANN

11.04.2014
Bei keiner anderen Klaviersonate von Schumann verstrich so viel Zeit, ehe sie ihre endgültige Form erreichte, wie bei der g-Moll-Sonate, op. 22. Der langsame Satz wurde bereits im Sommer 1830 komponiert, und wie der zweite Satz der Sonate op.11 in fis-Moll, den Schumann als “Arie” betitelte, basierte die Sonate auf einem Lied nach einem Gedicht von Justinus Kerner, das Schumann zwei Jahre zuvor geschrieben hatte, als er noch ein Schuljunge in Zwickau war. (Kerners Dichtung sollte später als Quelle für einen der größten Liederzyklen Schumanns dienen, seinen op. 35.) Das Lied, das Schumann als Grundlage für die Sonate op. 22 verwendete, trug den Titel Im Herbste:
Zieh nur, du Sonne, zieh eilend von hier!
Auf daß Ihr Wärme komm’ einzig von mir.
Welkt nur, ihr Blumen, welkt!
Schweigt nur ihr Vögelein!
Auf daß Ihr sing’ und blüh’ ich nur allein.
Für die Sonate ergänzte Schumann einen neuen Mittelteil, in dem der Rhythmus des Liedes als von murmelnder Begleitung umrahmte Mittelstimme erscheint. Auf die Reprise der Liedmelodie folgt eine langsam dahinwelkende Coda, in deren Schlusskadenz das Ende des ursprünglichen Liedes widerhallt.
Der erste und dritte Satz der Sonate folgten im Sommer 1833, und im Oktober 1835 ergänzte Schumann das Finale. Über zwei Jahre später, nachdem sie auch Carnaval und die Fantasiestücke, op.12 gespielt hatte, sagte ihm Clara Wieck:
Auf die 2te Sonate freue ich mich unendlich, sie erinnert mich an viele glückliche und auch schmerzhafte Stunden. Ich liebe sie, so wie Dich, Dein ganzes Wesen drückt sich so klar darin aus. Auch ist sie nicht all zu unverständlich. Doch eins: willst Du den letzten Satz ganz so lassen wie er ehemals war? Ändere ihn doch lieber etwas und erleichtere ihn, denn er ist doch gar zu schwer. Ich versteh ihn schon und spiele ihn auch zur Noth, doch die Leute, das Publikum selbst die Kenner, für die man doch eigentlich schreibt, verstehen das nicht.
Schumann nahm sich Claras Kritik offenkundig zu Herzen und ersetzte im Dezember 1838 das Finale durch ein völlig neues Stück. “Die Sonate in G Moll schicke ich in diesen Tagen zum Druck”, schrieb er aus Wien an Clara. “Den letzten Satz hab’ ich hier gemacht; er ist sehr simpel, paßt aber innerlich gut zum ersten.”
Schumanns ursprüngliches Finale (es wurde 1866 postum in einer von Brahms betreuten Ausgabe veröffentlicht) war in der Tat ein beinahe unspielbar anspruchsvolles Presto passionato — ein erbarmungsloser Strom von Sechzehnteltriolen, die gleichzeitig mit komplexen Konfliktrhythmen in den Mittelstimmen erklingen — doch Schumann war ein wenig unaufrichtig, als er den Ersatz als “simpel” bezeichnete. Sicherlich ist dieser Satz rhythmisch gradliniger, doch auch hier handelt es sich um ein impulsives Presto, dessen größtenteils durch die gebrochenen Oktaven in der rechten Hand (deren saubere Interpretation keinesfalls einfach ist) vermittelte atemlose Aufgeregtheit nur von einer kurzen lyrischen Episode gedämpft wird, die zweimal auftritt. Gegen Ende löst sich die Musik in einer Prestissimo-Kadenz auf — ein schwindelerregender Klangsog, der sich in den atemlosen Schlusstakten immer weiter beschleunigt.
Schumanns Aussage, das neue Finale passe gut zum Eröffnungssatz der Sonate, war allerdings völlig zutreffend: Der lyrische Abschnitt spiegelt nicht nur das absteigende tonleiterartige Muster des Hauptthemas des ersten Satzes wider, beide Stücke sind auch repräsentativ für den überaus ungestümen Stil des Komponisten. Die Tempobezeichnungen des ersten Satzes sind berühmt für ihren Widersinn: Das Stück soll “so rasch wie möglich” aufgeführt werden, doch dann wird der Pianist in der Koda angehalten “schneller” und “noch schneller” zu spielen. Die scheinbar unmöglichen Temposteigerungen werden dadurch spielbar, dass die Komplexität der musikalischen Struktur abnimmt: Die vorherigen Synkopierungen fehlen und im ersten der beiden schneller werdenden Abschnitte greift der Pianist durchweg in beiden Händen parallele Oktaven.
Nach dem langsamen Satz präsentiert Schumann ein Scherzo, das sogar noch komprimierter ist als der Rest des Stückes. Sein kraftvoller, exakt definierter Rhythmus wird kurzzeitig von einem lyrischeren synkopierten Motiv durchbrochen — wie sich herausstellt eine Vorahnung des kurzen trioähnlichen Abschnitts. Resultierend daraus hält Schumann es beim Einsatz des Da capo für angebracht, den synkopierten Teil vollständig auszulassen, und die Reprise auf lediglich ein Dutzend Takte zu beschränken.
Beinahe alle Klavierstücke, für die Schumann berühmt ist, wurden in den 1830er Jahren geschrieben, einem Jahrzehnt, in dem er sich ausschließlich auf Klavierkompositionen konzentrierte. Die Waldszenen jedoch bilden eine herausragende Ausnahme: Sie stammen aus der letzten Woche des Jahres 1848 und der ersten Woche des folgenden Jahres, wobei Schumann bis zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung im Herbst 1850 weiter gelegentlich an ihnen feilte. Er hatte große Teile des Jahres 1848 damit verbracht, an anspruchsvollen dramatischen Projekten zu arbeiten — an der Oper Genoveva und der Bühnenmusik zu Byrons Manfred — und die kürzeren Kompositionen müssen ihm eine willkommene Erleichterung gewesen sein. Außer den Waldszenen komponierte Schumann zu dieser Zeit auch sein Album für die Jugend.
Wie so viele Klavierkompositionen von Schumann beziehen auch die Waldszenen ihre Inspiration aus der Literatur, und es gab einen Zeitpunkt, zu dem von den neun Stücken allen außer dreien ein Gedichtzitat vorangestellt werden sollte. Am Ende behielt Schumann sein literarisches Motto nur für das eindringliche vierte Stück der Sammlung bei (“Verrufene Stelle”), in dem zwei Strophen aus Friedrich Hebbels Waldbildern zitiert werden:
Die Blumen, so hoch sie wachsen,
sind blaß hier, wie der Tod;
nur eine in der Mitte
steht da im dunkeln Roth.
 
Die hat es nicht von der Sonne:
nie traf sie deren Gluth;
sie hat es von der Erde,
und die trank Menschenblut.
Die literarische Hauptquelle der Waldszenen war jedoch nicht Hebbel (Schumann hatte seine Oper Genoveva teils auf dessen Theaterstück aufgebaut), sondern das Jagdbrevier des schlesischen Schriftstellers Heinrich Laube. Laube, einstiger Redakteur der einflussreichen Zeitung für die elegante Welt, war aufgrund seiner radikalen politischen Ideen festgenommen worden, doch seine Haftstrafe, die er auf dem herrlichen Landgut des Prinzen Pückler-Muskau verbrachte, hielt ihn nicht davon ab, sich einigen heimlichen Jagdtouren anzuschließen. Diese inspirierten sein Jagdbrevier. Schumann widmete sich Laubes Sammlung Ende 1849 und vertonte die Jagdlieder für Männerchor und vier Hörner.
Die Waldszenen werden von “Eintritt” und “Abschied” umrahmt; und bereits im ersten dieser beiden Stücke hört man den entfernten Hörnerklang. Die Jäger treten im zweiten und vorletzten Stück in den Vordergrund, während magische Darstellungen von Licht, Schatten und Vogelgesang im Wald den Mittelteil der Sammlung beherrschen. (Das berühmteste Stück “Vogel als Prophet”, in dem der prophetische Vogel von Ast zu Ast hüpft, war tatsächlich das letzte, das komponiert wurde; es wurde beinahe als ein Nachgedanke mit aufgenommen.)
Auch wenn die neun Stücke stark kontrastierende Stimmungen aufweisen, sind sie auf subtile Weise verbunden. In “Herberge” bildet die eröffnende Phrase auch den Schluss, genau wie in “Vogel als Prophet”; und die in “Herberge” verwendete melodische Form findet sich auch zu Beginn von “Abschied” wieder. Die gewundene Phrase, mit der “Verrufene Stelle” abschließt, trifft in den letzten Takten des folgenden “Freundliche Landschaft” auf ihr fröhlicheres Gegenstück, und der gesamte Zyklus kommt mit einer ähnlichen Phrase zu einem sanften Schluss.
Dem Klavier wandte sich Schumann erneut ganz am Ende seiner kreativen Schaffenszeit mit zwei Werken von strahlend-überirdischer Wirkung zu: Es handelte sich um die Gesänge der Frühe (op. 133) und eine Reihe von Variationen in Es-Dur, die immer noch unvollendet auf seinem Schreibtisch lagen, als er schließlich am 4. März 1854 in die Nervenheilanstalt in Endenich in der Nähe von Bonn eingeliefert wurde. Zu der Zeit, als Schumann diese letzten Werke komponierte, war eine neue Figur in sein und Claras Leben getreten:
Am 30. September 1853 besuchte ein 20-jähriger Musiker ihr Haus in Düsseldorf: Er trug ein Empfehlungsschreiben von Joseph Joachim bei sich. “Besuch von Brahms — ein Genie”, vermerkte Schumann lakonisch in seinem Tagebuch. Zwei Wochen später erschien Joachim selbst und Schumann beschloss, in Zusammenarbeit mit Brahms und seinem Schüler Albert Dietrich dem berühmten Violinisten zu Ehren eine Sonate zu komponieren. An eben dem Tag, an dem sein Plan entstand, schrieb Schumann ein einziges Wort in sein Haushaltsbuch: “Diotima”. Diotima war die Geliebte des Helden in Friedrich Hölderlins Hyperion und gleichzeitig die Muse, die große Teile seiner Dichtung inspirierte — eine Figur idealer Schönheit, die Inkarnation der Frau, die der Dichter selbst liebte. Innerhalb von nur vier Tagen entwarf Schumann einen Zyklus von fünf Klavierstücken, den er zunächst “An Diotima” nannte. Dieser Titel wurde letztendlich zugunsten der Gesänge der Frühe verworfen (auch wenn die Musik selbst eine ätherische Schönheit behielt, die an Hölderlin erinnern mag). Die Stücke beschwören den magischen Moment der Stille zwischen dem Ende der Nacht und dem Anbruch des Tages herauf. In einem Brief vom Februar 1854, kurz vor seinem versuchten Selbstmord, bei dem er sich in den eiskalten Tiefen des Rheins ertränken wollte, beschrieb Schumann die Komposition als “Musikstücke, die die Empfindungen beim Herannahen u. Wachsen des Morgens schildern”, und in vielleicht unbewusster Anlehnung an Beethovens Erklärung zur “Pastoralen” Sinfonie fuhr er fort, dass diese Empfindungen “aber mehr […] Gefühlsausdruck als Malerei” seien.
Die Gesänge der Frühe werden von zwei völlig ruhigen, hymnenähnlichen Stücken in D-Dur eingerahmt — das erste gibt mit seinen reinen Oktaven keinen Hinweis auf die folgenden unerwarteten Dissonanzen, und im zweiten beginnt nach der achttaktigen Anfangsmelodie ein Waldesrauschen raschelnder Sechzehntel, das nach und nach schneller wird, bis die Musik schließlich in den Todeszügen liegt. Trotz der Grundtonart D-Dur geht dieses letzte Stück von dem Fis-Dur-Akkord aus, mit dem das vorherige Stück endete — ein eindeutiges Zeichen, dass Schumann Sorge trug, im gesamten Zyklus einen ausgeprägten Zusammenhalt zu erzeugen. Dieses Bestreben zeigt sich auch in der Art und Weise, wie im zweiten Stück die Melodie des ersten ausgebaut und in kaum verhüllter Form in die Mittelstimme der Musik eingefügt wird, während die obere Stimme durch lange Phrasen, denen offenkundig jeglicher Grundschlag fehlt, ein Gefühl der Dringlichkeit erzeugt.
Die sanfte Bewegung der ersten beiden Stücke weicht im dritten einem beinahe obsessiven punktierten Rhythmus. Hier hört man Schumanns morgendliche Walküren; ihr langer, anhaltender Jubel führt am Ende zu einem Triller, dem eine nach oben sausende Tonreihe folgt, bevor das Ganze wieder — wie in allen Stücken in diesem Zyklus — zu einem zurückhaltenden Schluss herabsinkt. Was das vorletzte Stück angeht, so verbreitet es zumindest auf dem Papier eine ungestüme Atmosphäre. Und doch, trotz Schumanns “Bewegt”-Bezeichnung und trotz der leidenschaftlichen Intensität der Melodie und der brodelnden Begleitung ist seine Metronomangabe erneut überraschend langsam — als habe sich der Komponist in der letzten Phase seines kreativen Schaffens ein völlig neues und gelassenes Zeitkonzept zu eigen gemacht. Die letzten Momente lassen flüchtige Dur-Sonnenstrahlen erahnen und stellen damit die besagte Verbindung zum letzten Stück dieses leider selten gespielten Zyklus her.
Misha Donat
8/2013

Weitere Musik von Mitsuko Uchida