Auf dem zweiten Album, das Nik Bärtsch mit seiner Band Ronin nach “Stoa” (ECM 1939) für ECM eingespielt hat, erntet der Schweizer Komponist und Pianist die Früchte von rund zwei Jahren intensiver Tourneetätigkeit. “Wir haben einfach sehr viel mehr gespielt”, sagt Bärtsch. “Die Entwicklung der Band als Organismus ist eine sehr wichtige Kraft für die Musik. Erst durch das Spielen wachsen und gedeihen die Stücke, die ich schreibe.” In einem kürzlich erschienenen Interview mit dem Magazin Modern Drummer, benutzte Ronin-Schlagzeuger Kaspar Rast ein ähnliches Bild, als er die Band als “ein musikalisches Biosystem” beschrieb. Dieser Entwicklungsprozess wurde bei Konzerten in der ganzen Welt (die Band trat u.a. beim Montreal Jazz Festival und mehrfach in Tokio auf) sowie vor heimischem Publikum vorangetrieben.
Im Züricher Bazillus-Club gibt Bärtsch, wenn er nicht anderweitig auf Tournee ist, jeden Montagabend Workshops und Konzerte. Erst kürzlich feierte die Band Ronin dort ihren 150. Auftritt. Für die Aufnahmen von “Holon” gingen Nik Bärtsch und Ronin mit demselben Produzenten (Manfred Eicher) und demselben Toningenieur (Gérard de Haro) in dasselbe französische Tonstudio (Studios la Buissonne), in dem auch schon das Album “Stoa” entstanden war. Eine weitere Konstante sind die charakteristischen Gestaltungselemente der Musik: die modularen Konstruktionen, die polymetrischen Rhythmen, die komplexen, ineinandergreifenden Muster und repetitiven Motive.
Bärtsch beschreibt die Arbeitsweise der Band als “spiralförmiges Kontinuum”. Im Gegensatz zu anderen Protagonisten der westlichen Avantgarde ist Bärtschs Priorität nicht, um jeden Preis Neues zu schaffen. Der konzeptionelle Sprung, den die Musik von Ronin seit dem letzten Album gemacht hat, fällt trotzdem sofort ins Auge. Der Klang der Band ist freier und zugleich unauflöslich geworden, ohne daß die Kraft des Grooves darunter gelitten hätte.
“Es passiert mehr, wir spielen auf einem höheren Niveau zusammen und die Soloaktionen sind stärker integriert”, merkt Bärtsch an. “Es ist ,als würden sich die Solisten in der Umgebung des Klangs tarnen, die individuellen Stimmen sind fast schon in dem Ganzen ‘versteckt’. Das Solospielen ist mehr eine Frage der Phrasierung innerhalb der Kompositionen. Es ist schwieriger zu sagen, wo die Soli die Struktur verlassen und was komponiert ist und was nicht. In diesem Sinne haben wir das Album auch aufgenommen und abgemischt – die Abmischung von ‘Modul 41_17’ ist beispielsweise auch ein integraler Bestandteil der Komposition. Über diese Qualität der ‘Vollständigkeit’ bin ich sehr glücklich. Das Album als Ganzes ist sehr viel mehr eine Bandaufnahme als dies bei ‘Stoa’ der Fall war. Wir haben zusammen etwas kreiert, das sicherlich mehr ist als meine Kompositionen und auch mehr als irgendein individueller Einfluß oder Beitrag.”
Abgesehen von Björn Meyers Baßgitarre ist die Instrumentierung diesmal rein akustisch. Das Fender Rhodes, das Bärtsch auf “Stoa” einsetzte, wurde gegen ein unverstärktes Klavier ausgetauscht. “Durch die letzte Aufnahme habe ich eine Menge über Klänge im Obertonregister und Pianoklänge gelernt. Ich begann anders zu hören. Geholfen hat auch, daß ich Gelegenheit hatte auf besseren Klavieren zu spielen. Und auch das verbesserte Monitorsystem, das wir nun bei Auftritten benutzen, war hilfreich. Wir können nun die akustischen Klänge subtiler ausbalancieren und auch die Dynamik besser entwickeln.”
Ihr Augenmerk richteten die Musiker diesmal auch verstärkt auf die Verwendung unkonventioneller Metren. Beim Aufbau seiner zellularen “Module” stapelt Bärtsch seine Rhythmen – 3 und 2 und 5 usw. “Es geht nicht darum, im Kern eine mathematische Struktur, ein strukturelles ‘Geheimnis’ zu haben. Ich bin daran interessiert, was klingt. Eine Kohärenz und auch einen dramatischen Fluß zu haben. Daß man die ganze Struktur zur selben Zeit in verschiedenen Rhythmen hören kann, daß man sich in diesem Raum ‘umsehen’ kann. Das ist etwas, das uns alle interessiert. Bei diesen Aufnahmen, und ganz besonders bei ‘Modul 44’ und Modul 45′, haben wir unser Bewußtsein und unser Gefühl für verschiedene fließende Rhythmen entwickelt.”
Die einzelnen Bandmitglieder haben seit vielen Jahren und auf vielfältige Weise das “Regime des 4/4-Taktes”, das im heutigen Mainstream den Ton angibt, bekämpft. Kaspar Rast und Nik Bärtsch arbeiteten schon vor der Gründung von Ronin mit notierter Musik in ausgefallenen Metren. Björn Meyer, der sehr viel schwedische Tanz- und Volksmusik gespielt hat, wechselt sehr natürlich zwischen Rhythmen, die in Dreier- und Zweiergruppen geteilt sind. Und Bärtschs eigenes Interesse auf diesem Gebiet mag seine “Wurzeln” auch in der rumänischen Volksmusik haben, die er sehr früh kennenlernte. “Diese Rhythmen haben meine Kindheit geprägt, wenn auch nicht in einem hundertprozentig kulturellen Kontext, so doch als Klang, vielleicht als ein mysteriöser Klang. Sie zogen mich jedenfalls sehr stark an. In der Zeit, die seit der Aufnahme von ‘Stoa’ vergangen ist, habe ich verstärkt über Volksmusik und Ronins Neigung zu rhythmischer Musik nachgedacht.”
Zum Zuge kommen freilich auch ganz andere Einflüsse. In kaum einer Besprechung von “Stoa” unterblieben Hinweise auf den Einfluß, den die Minimal Music im allgemeinen und Steve Reich im besonderen auf Bärtschs musikalische Gedanken hatten. Der Schweizer Komponist und Pianist negiert diese Verbindungen nicht, weist in diesem Zusammenhang aber darauf hin, daß Repetition bei weitem kein exklusives Merkmal der Minimal Music ist – doch dies sollte eigentlich jeder, der mit dem durchgehenden Beat der westlichen Popmusik vertraut ist, wissen. “Zwischen der neuen komponierten, sagen wir mal ‘klassischen’ Musik und der auf Beats basierenden Popmusik ist eine Mauer hochgezogen worden. Diese Mauer existiert für mich aber nicht. In der klassischen Welt gibt es so viele Kompositionen, die ebenfalls auf rhythmischen Strukturen errichtet wurden…” Dennoch spricht man über diese Idiome immer so, als gäbe es zwischen ihnen keine Verbindungen. “Popmusik wird als eine Tanzmusik betrachtet, die den Körper anspricht, während die anspruchsvollen strukturellen Aspekte der Modernen Musik als etwas vollkommen ‘Intellektuelles’ angesehen werden.” Unbeeindruckt von dieser künstlichen kulturellen Aufteilung in “anspruchsvolle” und “anspruchslose” Musik, betrachtet Ronin Körper und Verstand weiterhin als Teile desselben Organismus. In ihrem “Zen-Funk” oder ihrer “rituellen Groove-Musik” (diese beiden Bezeichnungen stammen von Bärtsch selbst) müssen die Musiker, um es in Kaspar Rasts Worten zu sagen, “von der ersten Sekunde an supereng zusammenspielen: es ist fast schon ein rhythmischer Balanceakt, weil die ganze Band im Groove ist.” Der Rhythmus macht es – wie Sir Simon Rattle kürzlich über die Musik Strawinskys sagte -, und aus dem Rhythmus in seiner ganzen Komplexität erwachsen die Kompositionen von Bärtsch. “Wenn man sich selbst Grenzen setzt, hat man auch mehr Freiheit”, zitiert Nik Bärtsch Strawinsky. “Das klingt paradox. Natürlich kann man hören, daß unsere Musik sehr diszipliniert ist. Wir bleiben dicht an der Komposition dran, nehmen uns andererseits aber auch jede Menge Freiheiten heraus – bei der Interpretation von Mustern oder indem einer der Musiker ein Muster oder die Komposition in ein neues Licht setzt. Das sind für mich die wirklich magischen Momente, in denen ich die Freiheit und die sehr wache und aufmerksame Präsenz jedes einzelnen Bandmitglieds wahrnehme. Die Rhythmen und das Spiel entfalten sich auf einem sehr subtilen Niveau.”
Seine Beziehung zum Jazz hat Nik Bärtsch ebenso sehr in der Kunst der Interpretation wie in der Kunst der Improvisation neubewertet. “Als wir ‘Stoa’ aufnahmen habe ich das Wort Jazz oft gemieden, weil es bestimmte Assoziationen auslöst. Aber ich muß sagen, daß Jazz als Musik immer noch sehr lebendig ist, und ich denke jetzt, daß es gut ist, wenn uns die Leute – Kritiker und Hörer – manchmal in einen Jazzkontext stellen. Denn der Jazz steht auch für einen Weg zwischen allen stilistischen Richtungen und für eine Musik mit frischer Geisteshaltung. Ich bin jedenfalls noch nicht gewillt, diesen Begriff den neuen Konservativen zu überlassen.”