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Pablo Heras-Casado
Pablo Heras-Casado

Pablo Heras-Casado

01.06.2015
Von Liebe, Leidenschaft und Menschlichkeit
»Komm, komm, meine Schöne, lass uns aufs Feld hinausgehen, dass wir sehen, ob die Granatbäume blühen, da will ich dir meine Liebe geben, […] denn ich verzehre mich vor Liebe.« Diese leidenschaftlichen Verse lesen sich wie eine erotische Bettlektüre vergangener Zeiten. Tatsächlich sind es aber biblische Verse des ausgesprochen sinnlichen Hohelieds aus dem Alten Testament, dem »Lied der Lieder«. Und wenn es darum ging, Lebensfreude, Sinnlichkeit und Leidenschaft in einer selbst im kirchlichen Rahmen genehmen Weise zu thematisieren, griffen natürlich auch die Komponisten des 16. und 17. Jahrhunderts gern auf diese Quelle zurück – wie auch bei dieser einzigartigen Zusammenstellung von neun Motetten, die wahrscheinlich vor allem für Hochzeitsfeierlichkeiten bestimmt waren. Sie wurden von drei Komponisten aus der Übergangszeit von Spätrenaissance zu Frühbarock verfasst: Michael, Hieronymus und Jacob Praetorius. Abgerundet wird das Album durch zwei Magnificat-Vertonungen von Hieronymus und Michael Praetorius.
Wie kam der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado mit diesem faszinierenden, aber noch immer recht unbekannten Repertoire in Berührung? »Ich war 19 Jahre alt und wollte mit meinem Ensemble für Alte Musik unbedingt ein Projekt mit protestantischer Musik aus der Zeit vor Bach realisieren, einem sehr wichtigen Teil der europäischen Musikgeschichte«, erzählt Heras-Casado. In der Spanischen Nationalbibliothek fielen dem jungen Ensembleleiter bei seiner Suche nach geeigneten Werken dann einige seltene Editionen von Stücken aus diesem Repertoire in die Hände. »Seit jener Zeit bin ich fasziniert von diesen Kompositionen. Und ihre Einspielung mit dem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble ist für mich die Erfüllung eines Traums.«
Mit dieser Anthologie zeigt Heras-Casado unbekannte Seiten der drei hier vertretenen Komponisten auf, die trotz Namensgleichheit nicht alle miteinander verwandt sind. Den Wolfenbütteler und Dresdner Hofkapellmeister Michael Praetorius kennt man heute vor allem durch seine beliebte Tanzsammlung Terpsichore (1612), und sein musiktheoretisches Werk Syntagma musicum (1614–1619) ist die wichtigste Quelle für die Aufführungspraxis der Musik seiner Zeit. Er schrieb aber auch eine große Zahl wichtiger Kirchenkompositionen. Hieronymus Praetorius und sein Sohn Jacob dagegen waren Teil einer großen Hamburger Organistendynastie, die die Musikgestaltung in verschiedenen Hauptkirchen der Hansestadt über mehr als 70 Jahre entscheidend mitbestimmte. Hieronymus war von 1586 bis zu seinem Tod 1629 Organist zu St. Jacobi, Jacob setzte die Familientradition ab 1603 an St. Petri fort. Die Motetten der drei Komponisten sind praktisch unbekannt – umso wichtiger, dass Heras-Casado sich ihnen nun gewidmet hat.
Den spanischen Dirigenten fasziniert die melodische und harmonische Direktheit dieser Chorwerke von Michael, Hieronymus und Jacob Praetorius: »Michael und Hieronymus sind sehr darauf bedacht, der Musik etwas Menschliches, körperlich Erfahrbares und Genussvolles mitzugeben. Bei ihnen kann man eine Dissonanz förmlich schmecken, die Freude, ein gegebenes Wort zu wiederholen, den Kontrast zwischen sehr unterschiedlichen Strukturen im selben Stück. Es wird deutlich, dass hier nicht nur das religiöse Empfinden, sondern auch die menschliche Seele berührt werden soll, denn beide sind eng miteinander verbunden. Hieronymus’ Sohn Jacob baut diesen manieristisch-barocken Stil dann noch weiter aus, verwendet noch mehr theatralische Effekte und recht radikale Dissonanzen.« Die spürbare Lust am Spiel mit Dissonanzen gibt diesen Kompositionen ein sehr anrührendes, tief emotionales Gepräge, das den heutigen Zuhörer direkt in den Bann zieht. Aber das Publikum um 1600 vermochte es auch zu erschrecken, so Heras-Casado: »Viele religiöse Menschen waren geradezu schockiert, dass die Künstler sich mit einem Mal diese Freiheiten herausnahmen und nach extremen Ausdrucksformen suchten.«
Der zutiefst menschliche Zug dieser Werke, ihre anrührende Intimität erklärt sich aber nicht zuletzt aus den Anlässen, für die sie geschrieben wurden. Während die beiden Magnificat-Vertonungen ihren üblichen Platz in der Liturgie hatten, waren die hier vorgelegten neun Motetten besondere, sehr persönliche Werke, die man für enge Freunde und Verwandte komponierte. So ist Jacob Praetorius’ Motette »Indica mihi« beispielsweise das Hochzeitsgeschenk eines Vaters an seine Tochter: Praetorius komponierte sie 1635 anlässlich der Verheiratung seiner Tochter Gesa mit dem dänischen Organisten Johann Lorentz.
Mit der Chormusik des 16. und 17. Jahrhunderts beschäftigt sich Pablo Heras-Casado seit mehr als 20 Jahren. Tatsächlich, so bekennt er selbst, sei sie der Grund gewesen, weshalb er sich überhaupt entschieden habe, Dirigent zu werden. Als solcher ist er heute weltweit gefragt und vielseitig wie kaum ein anderer: Große Symphonien, Opern und zeitgenössische Musik interpretiert er gleichermaßen durchdacht, detailverliebt und mitreißend, während er mit seinem Gesangsensemble in seiner Heimatstadt Granada weiterhin die Klangwelten der Renaissance und des Frühbarock erkundet. »Ganz gleich, welche Musik ich dirigiere, wichtig ist für mich immer der Einfluss der polyphonen Musik, des kantablen Vortrags, der gesanglichen Linien.« Und mit dem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble stehen Heras-Casado Künstler zur Seite, die im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis höchstes Ansehen genießen. »Auch hinsichtlich seiner Wandlungsfähigkeit passen das Ensemble und ich wunderbar zusammen«, schwärmt der Dirigent, der mit den Musikern bereits bei der Aufführung von Donizettis L’elisir d’amore in Baden-Baden beste Erfahrungen sammelte. »Von Donizetti zu Praetorius – das ist ein großer Sprung. Aber das Ensemble geht ganz natürlich damit um – genau wie ich.« Und so groß ist der Sprung letztendlich vielleicht doch nicht – denn Liebe und Leidenschaft kennen keine Zeit.
Sören Ingwersen
3/2015

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