Enrico Ravas ECM-Comeback-Album “Easy Living” war eine der großen Überraschungen des letzten Jahres. Das Album wurde sowohl von der Kritik als auch vom Publikum begeistert gefeiert und im Laufe des Jahres mit einer ganzen Reihe von Preisen bedacht. Nun reiste der international prominenteste italienische Trompeter gemeinsam mit Stefano Bollani, dem jungen Pianisten seines Quintetts, nach New York, um sich dort mit dem Schlagzeuger Paul Motian für eine spontane Aufnahmesession zu treffen. Trotz der äußerst unorthodoxen Instrumentalkombination stellte sich zwischen den drei Musikern sofort ein nahezu blindes Verständnis ein.
Das Trio beginnt dieses sehr melodische und balladeske Album mit einer Interpretation von George Gershwins Klassiker “The Man I Love”. Das folgende “Birdsong”, eine Komposition Paul Motians, klingt wie eine Kreuzung zwischen Thelonious Monk und Erik Satie. Weitere Highlights sind Ravas wunderschönes Titelstück und “Cornettology”, ein Stück, das die musikalischen Welten Charlie Parkers und Ornette Colemans aufeinanderprallen läßt, sowie die Interpretation von Puccinis “E lucevan le stelle” aus der Oper “Tosca”. Die Neuinterpretierung von Opernarien ist mittlerweile eine Spezialität Ravas geworden.
Enrico Rava war einer der ersten europäischen Jazzmusiker, die in der New Yorker Szene wirkliche Akzeptanz fanden. Mitte der 60er Jahre war er in den Big Apple gezogen und arbeitete dort regelmäßig mit progressiven Jazzmusikern wie Steve Lacy, Roswell Rudd und Carla Bley. 1969 gründete er seine erste amerikanische Band mit einem damals noch nahezu unbekannten jungen Gitarristen namens John Abercrombie. Abercrombie spielte 1975/76 auch auf Enrico Ravas ersten beiden ECM-Alben “The Pilgrim And The Stars” und “The Plot” mit, denen im Laufe der nächsten zehn Jahre noch drei weitere exzellente ECM-Alben folgen sollten: 1978 “Enrico Rava Quartet” (mit Roswell Rudd, Jean-François Jenny-Clark und Aldo Romano), 1981 “Opening Night” (mit einem rein italienischen Quartett) und 1986 schließlich “Volver” (mit u.a. Dino Saluzzi). Erst 18 Jahre nach “Volver” kehrte Enrico Rava mit dem Album “Easy Living” wieder in den Schoß der ECM-Familie zurück.
Stefano Bollani hat auf dem neuen Rava-Album “Tati” reichlich Gelegenheit zu zeigen, warum ihn der Trompeter als “ein Phänomen” und einen “wirklichen Poeten am Klavier” bezeichnet. Bollani ist als blitzgescheiter Musiker bekannt, der seinen Lyrizismus bisweilen mit einem feinen Hauch von Ironie würzt. Er hat schon mit so unterschiedlichen Musikern wie Pat Metheny, Lee Konitz, Phil Woods und dem Free Jazz-Veteranen Han Bennink zusammengearbeitet. Seine für das französische Label Bleu eingespielten Soloalben wurden in Italien und Frankreich mit glänzenden Kritiken bedacht und brachten ihm im Jahre 2000 in seiner Heimat den “Django D’Or”-Preis ein.
Paul Motian braucht man dem Jazzpublikum nicht mehr groß vorzustellen. Nachdem er in den 50er Jahren zunächst Thelonious Monk und Lennie Tristano begleitet hatte, schrieb er als Schlagzeuger des legendären Bill Evans Trios Jazzgeschichte mit. Nicht weniger aufsehenerregend war auch sein darauf folgendes Zusammenspiel mit zwei anderen brillanten Pianisten: Paul Bley und Keith Jarrett. Auf seinen eigenen Platten, von denen er viele für ECM aufnahm, konnte Motian stets auch seine Talente als Komponist und Bandleader entfalten. Zu den letzten Einspielungen, die Motian für ECM machte, gehören die Alben “I Have The Room Above Her” (mit Bill Frisell und Joe Lovano), Marilyn Crispells “Storyteller” und “Goodbye”, das jüngst veröffentlichte neue Album des schwedischen Pianisten Bob Stenson.
Am 6. November wird Enrico Rava mit dem “Easy Living”-Quintett (Posaunist Gianluca Petrella, Bassist Rosario Bonaccorso und Schlagzeuger Roberto Gatto – lediglich Bollani wird durch Andrea Pozza ersetzt werden) im Rahmen des JazzFest Berlin im Haus der Berliner Festspiele auftreten.