Hommage à Pierre Boulez: Mit der doppelten bis dreifachen Autorität des Komponisten, Dirigenten, Lehrers und Essayisten entfaltete der französische Musiker, Jahrgang 1925, ein tiefgreifendes Reformwerk im internationalen Konzertleben, eine richtungsweisende und stilbildende Wirkung auf das Repertoire, die Programmpolitik, die Orchesterkultur und nicht zuletzt auf das Selbstverständnis der Pultstars. »Wir sind eine Generation, die völlig von Boulez geprägt wurde«, bekennt Simon Rattle im Einverständnis mit den meisten seiner dirigierenden Altersgenossen. »Dass ihm der Verhaltenskodex des Maestros gänzlich abgeht, macht ihn wirklich unwiderstehlich.« Den gleichwohl hartnäckigen Vorwurf, er sei und bleibe vor allem doch ein kühler Intellektueller und nüchterner Analytiker, diesen Einwand weiß Boulez elegant und humorvoll zu entkräften: »Die Analyse ist nur ein Vorstadium, eine Vorbereitung«, stellt er klar. »Eine Interpretation ist keine Demonstration. Ich bin kein Staubsauger-Demonstrator. Zuerst muss man sich klare Gedanken machen. Anschließend kann man spontan sein. Die richtige Spontaneität kommt nach der Analyse.«
Auch ein fast 50 Jahre jüngerer Komponist wie der Münchner Jörg Widmann widerspricht diesem Vorurteil: »Miles Davis und Pierre Boulez waren Idole, die gleichberechtigt über meinem Bett hingen! Für mich war nicht das eine das Verkopfte und das andere das Gegenmodell«, sagt Widmann. »Mit 15 Jahren bin ich mit meinem Vater zum Festival Musica nach Straßburg gefahren. Dort habe ich mein erstes Boulez-Konzert gehört. Das war ein Schlüsselerlebnis und hat meine Entscheidung zu komponieren ganz wesentlich beeinflusst. Wir sind mit dem Auto hingefahren, kamen ein bisschen zu spät. Als ich in den Saal kam, habe ich nur gestaunt.« Auf dem Programm standen Boulez’ Dialogue de l’ombre double für Klarinette und Tonband und Répons für sechs Solisten, Ensemble und Live-Elektronik. »Boulez hat selber dirigiert; es spielte das Ensemble intercontemporain. Es war in der Saalmitte postiert und das Publikum saß um die Bühne herum. Ich verfolgte das Konzert mit offenem Mund – wie andere ihr erstes Pop-Konzert«, erzählt Widmann. »Diese Klangfarben, diese Freiheit! Das war eine fremde, anziehende Welt für mich.«
»Da wurde mir zum ersten Mal klar, was Komponieren bedeutet und wie man mit dem Klang umgeht. Das war absolut beeindruckend«, verriet wiederum Pierre Boulez in Erinnerung an seinen verehrten Lehrer Olivier Messiaen, dem er im Sommer 1944 in Paris begegnet war, mit unabsehbaren Folgen. »Die deutsche Musik war nicht unbedingt seine Sache. Er war großartig, wenn es um Strawinsky, Ravel oder Debussy ging, und es gelang ihm, die Fantasie der Studenten anzuregen – weniger durch seine analytischen Fähigkeiten als durch seine Gabe zu staunen. […] Bei allen blinden Flecken in seinem musikalischen Weltbild muss man betonen: Messiaen besaß eine produktive Naivität. Das war der Unterschied zu einem Lehrer wie [dem Dirigenten und Musiktheoretiker] René Leibowitz. Eine Zeitlang hatte ich genug vom Unterricht bei Messiaen und ging mit einigen Kollegen zu Leibowitz, der damals gerade die Wiener Schule in Paris propagierte. Aber hier zählten wir einfach nur die Reihen von eins bis zwölf rauf und runter. Es war völlig uninspirierend.«
Als Pierre Boulez 1958 für die Encyclopédie de la Musique einen Lexikonartikel über Béla Bartók verfasste, sprach er von den »Großen Fünf« der zeitgenössischen Musik, zu denen er – außer Bartók – die Komponisten Strawinsky, Schönberg, Berg und Webern zählte. Dieselben fünf Namen nannte Boulez auch gut 40 Jahre später in einem Interview mit dem Spiegel, als er gefragt wurde: »Welche Neutöner schaffen den Sprung ins nächste Millennium?« Allerdings hatte Boulez in seinem Artikel von 1958 Bartóks Rang nach dem Maßstab der anderen vier »Neutöner« unmissverständlich relativiert: »Sein Werk besitzt weder die tiefe Einheitlichkeit und Neuartigkeit Weberns noch die strenge und intellektuelle Schärfe Schönbergs, weder die Vielschichtigkeit Bergs noch den ebenso nachdrücklichen wie beherrschten Dynamismus Strawinskys.« Insbesondere die »Verwendung der Folklore« (in Bartóks Terminologie: der »Bauernmusik«) betrachtete Boulez mit unverhohlener Skepsis. Während Bartók in der Erforschung und schöpferischen Aneignung der ungarischen, rumänischen, bulgarischen, türkischen oder arabischen Volksmusik den »idealen Ausgangspunkt für eine musikalische Wiedergeburt« erkannte, wollte Boulez in diesen folkloristischen Bekenntnissen nur ein Relikt der Nationalromantik des 19. Jahrhunderts sehen. »Die Folklore hat Bartóks rhythmische Vorstellungen stark erweitert und biegsam gemacht«, befand Pierre Boulez, »gleichzeitig aber engte sie auch den Horizont seiner Sprache bedeutend ein.« Bei seinem genauen Blick auf die Werke wusste Boulez zu unterscheiden: Er lobte die sechs Streichquartette, er bewunderte die beiden Sonaten für Violine und Klavier. Und die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta konnte er gar nicht hoch genug rühmen – »ein großer instrumentaler Glückstreffer«. Bartóks letzte Kompositionen hingegen, namentlich ab dem Zweiten Violinkonzert, bewertete Boulez als Zeugnisse eines »beginnenden Zerfalls« im musikalischen Denken: »Die Spätwerke treten auf der Stelle und enthalten allzu viele Klischees in Tonsatz und Formkonstruktion.«
Den trennscharfen intellektuellen Schwertstreich (einerseits – andererseits), mit dem er Bartóks Lebenswerk zerlegte, wiederholte Boulez auch in seinem berühmten, 1951 verfassten Aufsatz »Stravinsky demeure«. Strawinsky bleibt, doch blieb er nicht verschont von dem Verdikt der halbherzigen Revolution. Boulez analysierte Le Sacre du printemps als ein Experimentierfeld der rhythmischen Erneuerung, um jedoch zu beklagen, dass Strawinskys Sprache weit davon entfernt sei, »im tonalen Bereich eine Befreiung zu bringen«. Die Schlussfolgerungen für den zeitgenössischen Komponisten lagen auf der Hand, jedenfalls für Pierre Boulez: »Wenn auch nichts von den Mitteln des Tonsatzes im Sacre […] beizubehalten ist, weil sie überlebt sind«, befand Boulez kurz, schmerzlos und apodiktisch, »so ist doch die Rhythmik noch fast unerforscht, zumindest was ihre internen Konsequenzen anbelangt.« Keine Gnade fanden hingegen die Werke, die Strawinsky seit dem Pulcinella mit Vorliebe komponiert hatte, die Beispiele des sogenannten Neoklassizismus. Boulez sprach von »taschenspielerischen Rückwendungen, bei denen das Objekt den Zauberer verschwinden lässt«. Später gestand er sogar ein, jener berüchtigten Clique von jungen Musikern angehört zu haben, die nach dem Krieg die Pariser Konzertsäle stürmte und mit lautem Protest und Zwischenrufen ihren Unmut auslebte, wenn der »falsche«, der »neoklassizistische« Strawinsky auf dem Programm stand, dem Boulez eine übergroße Sehnsucht nach verlorenen Paradiesen vorhielt.
Was heißt dies alles in der Stunde der Interpretation? Dirigiert Pierre Boulez »seinen Bartók« oder »seinen Strawinsky« mit kritischer Reserve, aus skeptischer Distanz? Die Antwort gab Boulez selbst, als er einmal zwischen dem schöpferischen und dem nichtschöpferischen Typus unterschied: »Das Temperament eines nichtschöpferischen Musikers braucht vollständige Identifikation.« Der schöpferische Musiker dagegen muss sich nicht aufopfern. Er steht im liebevollen, wählerischen, subjektiven Dialog mit der Musikgeschichte, mit den »Großen Fünf« und anderen Vorgängern. Aber er steht nicht still, niemals. »Den Werken, über die ich mich früher geärgert habe, nähere ich mich jetzt mit Gleichmut«, erklärt Boulez, »wie Bruchstücken der Geschichte, die anderen, ganz ähnlichen Bruchstücken vergleichbar sind: Sie werden zum Dokument. Kann man sich über ein Dokument noch aufregen?«
Als Komponist aus Frankreich hat Boulez selbstverständlich auch die Frage bedacht, was die Musik seines Landes vor anderen auszeichnet. Wenngleich unter Vorbehalt: »Meiner Meinung nach ist es völlig irreführend, von einer ›französischen Tradition‹ zu sprechen«, bekannte Boulez. »Schauen wir uns einmal die Lebensdaten an: Zunächst haben wir Rameau, dann viel später Berlioz, noch viel später Debussy; das ergibt wirklich keine Abfolge.« Doch obwohl Boulez keine ungebrochene Tradition erkennen kann, ein »Charakteristikum« bemerkt er schon, und keineswegs nur am Rande: »eine gewisse Vorliebe für den Klang an sich; dies war seit dem 18. Jahrhundert eine Konstante des französischen musikalischen Ausdrucks, wenn er sich in kompetenten Händen befand«. Und bei Claude Debussy befand er sich in den allerbesten Händen. »Der Gebrauch der Klangfarbe wirkt absolut neu, zeigt eine außerordentliche Delikatesse und eine ebenso außergewöhnliche Sicherheit der Tönung«, urteilt Boulez über das Prélude à l’après-midi d’un faune. Und als er die Entwürfe zu La Mer studierte, fiel ihm auf: »Es handelt sich hier nicht bloß um die Orchestrierung einer schon völlig ausgearbeiteten Partitur wie etwa bei Ravel, im Gegenteil: Die Skizzen von Debussy, im Kompositorischen vollständig abgeschlossen, warten noch auf die Erschließung durch das Orchester, die der Komposition all ihre Dimensionen und ihr vollgültiges Relief geben soll.« Ravel hingegen habe »die verschiedenen Instrumente wie einen Klangmantel benutzt« und sei niemals über ein »verfeinertes Resultat des klassischen Orchestersatzes« hinausgelangt. Wie sich ohnehin nicht verkennen lässt, dass Boulez die beiden französischen Erneuerer mit deutlichem Abstand und in einer klaren Rangfolge behandelt. Debussy bleibt die unerreichbare Größe: »Wenn die moderne Dichtung ihre Wurzeln ohne Frage in bestimmten Baudelaire-Gedichten findet, so ist ebenso gewiss, dass die moderne Musik mit dem Nachmittag eines Fauns erwacht«, schreibt Boulez über »den einzigen universellen Musiker Frankreichs«, Claude Debussy. »Seine Position an der Schwelle zur Neuen Musik gleicht einem Pfeil, der einsam in die Höhe schießt.«
»Sie finden es vielleicht merkwürdig, was ich jetzt sage, denn man behauptet ja immer, dass die Kultur der eigenen Nation einen entscheidenden Einfluss ausübt; aber mich hat – sozusagen aus der Ferne – die deutsche Musik am stärksten beeinflusst, und zwar vom Formalen her«, bekennt Pierre Boulez. Das »Formale« stellt sich der französische Komponist freilich nicht wie ein solides Gebäude vor, in das die lachenden Erben mit ihrem Mobiliar nur noch einziehen müssten. Pierre Boulez spricht in biblischen Gleichnissen: »Für mich ist eine musikalische Idee wie ein Samenkorn: Man pflanzt es in eine bestimmte Erde und plötzlich vermehrt es sich wie ein Unkraut. Dann muss man jäten.« Als sein Vorbild im Pflanzen und Jäten benennt er Johann Sebastian Bach, aber nicht den Bach der Kunst der Fuge, sondern den Bach der Choralbearbeitungen, der für Boulez das musikalische Ideal der frei entfalteten, unvorhersehbaren Form repräsentiert: Wachstum, Verzweigung, Verästelung und Wucherung. Dieses Wort wählt Boulez ausdrücklich: Wucherung.
In Pierre Boulez’ musikhistorischer »Familie« jedoch, in seinem »Musée imaginaire«, wie er es nennt, trifft man unweigerlich auf einen Gärtner von unbeugsamer Gesinnung, dem Unkraut nur ein Graus war: Anton Webern, der selbst die banalen, scheinbar nebensächlichen Beschäftigungen des Alltags mit klösterlicher Strenge verrichtete, wie ein Mönch, dem jede Arbeit zum Gebet und jede Tätigkeit zum Gotteslob wird. Insbesondere die Gartenpflege betrieb Webern mit heiligem Ernst, nicht als körperlichen Ausgleich oder zur Bereicherung des Speisezettels, vielmehr als ein Bekenntnis zu Goethes Metamorphose der Pflanzen. Wie in seinen Werken, so gab es auch in Weberns Lebenswelt nichts Belangloses und Überflüssiges. Alles hing mit allem zusammen, atmete denselben Geist, bezeugte denselben Ursprung. Alles gehorchte einem »geheimen Gesetz«: das Wachstum der Pflanzen, die Geschichte der Musik, die Ordnung im Arbeitszimmer. »Leben heißt, eine Form verteidigen«, lautete das Credo des Anton Webern, und diese Verteidigung reichte von der Unbeflecktheit des Fußbodens (den er bei der geringsten Verschmutzung sofort eigenhändig aufwischte) bis zur Lauterkeit des Gedankens. »So schuf er eine Musik, die nach und nach auf den unmittelbaren Reiz verzichten und an seine Stelle die Faszination der bewusst gesuchten Askese setzen sollte«, resümiert Pierre Boulez. »Reinheit – der Sprache, des Ausdrucks, der Absicht: Mit diesem Begriff lässt sich wohl am besten das Wesen dieser Musik fassen, die offensichtlich karg, aber reich an vielfältigen Perspektiven ist. Für mich und viele andere Musiker war Weberns Werk ein wichtiger, entscheidender Prüfstein, der uns gewissermaßen zwang, Stellung zu beziehen und uns selbst zu entdecken. Die so zurückhaltende Persönlichkeit seines Schöpfers übte einen derart tiefgehenden, fast diktatorischen Einfluss aus, dass es schwer war, sich davon zu befreien, um weiter voranzuschreiten.«
Aber Boulez schätzt die Gegensätze, Wucherung und Kargheit, er sucht die Spannungen der Extrempositionen. »Varèse und Webern, zwei wirklich antagonistische Standpunkte.« Dem 1965 in New York verstorbenen Edgard Varèse, dem so rabiaten wie radikalen Erfinder »organisierter Klänge«, hat Boulez einen buchstäblich hymnischen Nachruf gewidmet: »Sie waren für uns, zur Zeit unserer heißspornigen Lehrjahre, ein fremdes, erratisches, entlegenes, fabulöses Wesen«, schrieb Boulez. »Sie waren ein mythischer Orkan, von dessen turbulenten Wirbeln die Erinnerung sprach […]. Sie haben sich ausgewiesen als einer der seltenen Messpunkte für unsere Generation; doch unser Bewusstseinsstand trägt ein verspätetes Datum. Adieu, Varèse, Adieu! Ihre Zeit ist vorbei und beginnt.«
Und Arnold Schönberg – ist seine Zeit (lange) vorbei? »Um die Wahrheit zu sagen: Schönberg weckt mehr Respekt als Zuneigung«, begann Pierre Boulez 1974 einen Aufsatz über »Schönberg, den Weniggeliebten«. Eine Haltung, mit der er nicht alleinstand. Auch Heinz Holliger, beispielsweise, konnte nicht verhehlen: »Ich habe für Schönberg nie die gleiche Liebe empfunden wie für Trakl, Webern oder Berg. Das ist ein Mann, der mir ein wenig Angst machte. Seine Musik ist voller Dornen, sie ist bitter und gespannt, während Bergs Musik menschliche Wärme und Großzügigkeit ausstrahlt.« Boulez erkannte einen Schlüssel zum Selbstverständnis Arnold Schönbergs in dessen Fixierung auf das Bild des Moses, des biblischen Propheten, Lehrers und Gesetzgebers, den er ins Zentrum einer »unaufführbaren« Oper gestellt hatte: »Dieser primitive Messianismus irritiert mich, ich gebe es freimütig zu – selbst wenn man mir den prophetischen Künder als Konsequenz aus Schönbergs ›Erfolglosigkeit‹ erklärt. Nachdem er sich von vielen Seiten der Feindseligkeit und der Verfolgung ausgesetzt sah, flüchtete er sich in die Prophetenhaltung; besonders der Ausspruch, er habe der deutschen Musik für die nächsten 100 Jahre die Überlegenheit gesichert, ist schwerlich anders zu erklären als durch ein unbändiges Bedürfnis nach Kompensation.«
Aber die wilden und feierlichen, visionären und verwegenen Zeiten der musikalischen Moderne wurden zweifellos von diesen starken, polarisierenden, weltfremden und widerspenstigen Charakteren geprägt: von »fabulösen Wesen«, Einsiedlern, Missionaren, Heiligen, Propheten und Pionieren. Was könnte, bei allen Gegensätzen und Extremen, ihre Gemeinsamkeit begründen, ein Ideal, das in die Zukunft trägt? »Eine einzige Grundhaltung: Freiheit«, betonte der ungarische Komponist György Ligeti. »Man soll machen, was man will, und dabei andere nicht kopieren. Eine positive Botschaft habe ich nicht. Ich bin für völlige Ungebundenheit und Originalität.« Die Freiheit. Und am Ende gar … der Fortschritt? Pierre Boulez hat diese Frage, die alte Frage nach dem Neuen, wunderbar undogmatisch beantwortet, als er sagte: »Schöpferisch sein ist wie auf einem Fahrrad. Wenn man nicht vorwärts fährt, fällt man um.«