Pierre-Laurent Aimard wird eine große künstlerische Reise beginnen. Der französische Pianist widmet sich in den nächsten zwölf Monaten der Musik von Johann Sebastian Bach und ergründet eines der größten Werke des Komponisten. Seine Bach-Tournee mit 34 Aufführungen des ersten Teils des Wohltemperierten Klaviers umfasst 15 Länder auf vier Kontinenten. Das Projekt ist eine bedeutende Station in der Entwicklung eines Künstlers, der weltweit für den fantasievollen Ausdruck und die poetische Einfühlung seines Musizierens berühmt ist. Aimards jüngstes Album bei Deutsche Grammophon, das im August 2014 erscheint, präsentiert seine reife Interpretation des ersten Teils des Wohltemperierten Klaviers – von der erhabenen Ruhe des Eingangs-Präludiums in C-dur bis zu den labyrinthischen Windungen der letzten Fuge des Werks in h-moll.
Der erste Teil wurde aller Wahrscheinlichkeit noch gegen Ende von Bachs Weimarer Zeit begonnen, also spätestens 1717. Der berühmte Musiklexikograf Ernst Ludwig Gerber berichtet 1790: »So hat er nach einer gewissen Tradition, sein Temperirtes Klavier […] an einem Orte geschrieben, wo ihm Unmuth, lange Weile und Mangel an jeder Art von musikalischen Instrumenten diesen Zeitvertreib abnöthigte.«
Dieser geheimnisvolle Ort war vermutlich die Arrestzelle, in der Bach vier Wochen vom 6. November bis zum 2. Dezember 1717 verbringen musste, nachdem er seinen Dienstherrn, den Grafen Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar, in wohl unangemessener Weise gedrängt hatte, ihn aus dem Dienst zu entlassen. Es ist schwer zu sagen, wie weit der erste Teil des Wohltemperierten Klaviers zu diesem Zeitpunkt gediehen war, aber die erhaltenen Handschriften deuten darauf hin, dass die 1722 in Köthen angefertigte Reinschrift das Ende eines längeren Kompositionsprozesses markierte.
Man sagt, Bach habe im Wohltemperierten Klavier die Natur perfektioniert. Der erste Teil des Werks präsentiert 24 jeweils aus Präludium und Fuge bestehende Satzpaare in den 24 Dur- und Molltonarten. Ihr Inhalt lässt sich als kreativer Dialog zwischen Tradition und Modernität beschreiben: Bach zeigt hier sein Genie für Erfindung und Umgestaltung in der überlieferten Form der Fuge, deren klare Themen anhand mehr oder weniger fester Regeln wiederholt und variiert werden, und in seinen verschiedenen Präludien. Aimards Interpretation, in der sich die Menschlichkeit von Bachs Kunst offenbart, basiert auf genauer Kenntnis der einzelnen Sätze des ersten Teils des Wohltemperierten Klaviers und dem Verständnis dafür, wie sie sich zu einem unendlichen musikalischen Kosmos zusammenfügen.
Diese Veröffentlichung ist Aimards zweites Bach-Album. 2008 war seine DG-Aufnahme von Die Kunst der Fuge ein phänomenaler künstlerischer und kommerzieller Erfolg.
»Am Tag der Veröffentlichung«, so die Los Angeles Times, »war Pierre-Laurent Aimards Einspielung von Bachs Kunst der Fuge die meistverkaufte klassische Aufnahme bei iTunes. Eine Woche später debütierte sie auf der Klassik-Hitliste von Billboard sofort als Nr. 1. Die CD – vollendete Aufführungen von nie ganz auszuschöpfenden Fugen aus Bachs letzten Erdentagen – ist genau da, wo sie hingehört.«
Die Zeitschrift The Gramophone kommentierte: »Wieder einmal demonstriert Pierre-Laurent Aimard, dass er nicht nur einer der technisch versiertesten Pianisten unserer Zeit ist, sondern auch einer der intelligentesten. Musikalischer Verstand zeigt sich in jedem Takt seiner Interpretation von Die Kunst der Fuge, wobei Aimard in seiner schnellen, wachen Aufführung jeden schwelgerischen Zug vermeidet. Es klingt so natürlich, dass man am Ende doch überrascht ist, wenn man feststellt, wie berührend das alles ist … Dies ist ein Bach, wie man ihn täglich hören möchte, frisch, lebhaft und gut moduliert … Vielleicht hat kein Pianist seit Charles Rosen so überzeugend gezeigt, dass diese Enzyklopädie des Kontrapunkts nicht nur zum Lesen, sondern auch zum Hören bestimmt ist.«
Vor der Veröffentlichung dieser Aufnahme des ersten Teils des
Wohltemperierten Klaviers wird Pierre-Laurent Aimard das Werk unter anderem am 21. Juli bei den Salzburger Festspielen aufführen. Seine große Bach-Tournee wird fortgesetzt bei den Berliner Festspielen (Berliner Philharmonie) und später mit Recitals in berühmten Spielstätten wie der Wigmore Hall (London), Kioi Hall (Tokio), Carnegie Hall (New York), Cité de la Musique (Paris), Concertgebouw (Amsterdam) und Alte Oper (Frankfurt). Ausgewählte Stücke von Bach spielt er zudem im Pekinger Nationalen Zentrum für darstellende Künste, in der Library of Congress (Washington D. C.) und im Wiener Musikverein. Aimard wird über den Verlauf seiner Reise mit dem
Wohltemperierten Klavier in einem WTC Journal berichten, das bald nach Erscheinen seiner DG-Aufnahme auf der Website des Künstlers (
www.pierrelaurentaimard.com) zu lesen sein wird.
Pierre-Laurent Aimard bereitete sich auf diese Aufnahme während eines Aufenthalts am Wissenschaftskolleg in Berlin vor. Ziel des 1981 gegründeten Instituts ist es, »Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit zu geben, sich frei von Verpflichtungen für ein akademisches Jahr auf ein selbstgewähltes Arbeitsvorhaben zu konzentrieren«. Neben seiner Vorbereitung der Bach-Aufführungen nutzte Aimard die Gelegentheit dieses Sabbaticals, um sich intensiv mit der Schaffung einer großen interaktiven Online-Datenbank zum Werk des ungarischen Komponisten György Ligeti zu befassen. 2015 wird sie von der Stiftung Klavier-Festival Ruhr ins Leben gerufen. Aimard, der vor genau 20 Jahren als Solist in Ligetis Klavierkonzert seine erste Aufnahme für Deutsche Grammophon machte, war der bevorzugte Interpret des Komponisten für seine Klavierwerke.