Please scroll down for English version
Abenteuer in klassischer Romantik
Rafał Blechacz hat sich seit jeher für Frédéric Chopin begeistert. Als der Pianist 2005, als erster Pole seit Krystian Zimerman drei Jahrzehnte zuvor, den Ersten Preis beim Internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau gewann, wurde er praktisch über Nacht in der ganzen Welt bekannt. Doch seine Beziehung zur Musik des berühmtesten Komponisten seines Heimatlandes begann natürlich schon viel früher, und die Zweite und Dritte Klaviersonate – schon immer Eckpfeiler seines Repertoires – lagen ihm dabei stets ganz besonders am Herzen.
»Ich habe diese Werke bereits lange vor dem Wettbewerb gespielt«, erklärt er in einem Telefonat, bei dem ich ihn zuhause in Polen erreiche. »Beide Sonaten habe ich schon in meinen Jugendjahren einstudiert. Und ich denke, dass jetzt die Zeit reif war, sie auch einzuspielen. Ich wollte einfach nicht länger warten.« Die Aufnahmen fanden im September 2021 im Teldex Studio in Berlin statt.
Und es war der richtige Zeitpunkt: Der berühmte Trauermarsch aus der Zweiten Sonate berührt uns heute mehr denn je, ist Blechacz überzeugt. »Ich denke, in der schwierigen Zeit, in der wir leben, hat er eine ganz besondere Wirkung auf uns: Erst hatten wir die Pandemie, jetzt tobt der Krieg in der Ukraine. So viele Menschen sterben und sind gestorben. Deshalb habe ich diese Sonate mit besonderer Innigkeit gespielt.«
Chopins 1839 bzw. 1844 komponierte Sonaten op. 35 und 58 stehen in mancherlei Hinsicht am Übergang zwischen zwei Epochen. »In formaler Hinsicht wirken sie noch recht klassisch«, erklärt Blechacz. »Beide bestehen aus vier Sätzen, und ihre Allegro-Kopfsätze mit jeweils zwei kontrastierenden Hauptthemen entsprechen der klassischen Sonatenform. In emotionaler Hinsicht sind sie jedoch bereits vom Geist der Romantik durchdrungen. Es ist nicht einfach, dafür die richtige Balance zu finden. In der Sonate Nr. 2 war es mir wichtig, vor allem den ersten und zweiten Satz besonders dramatisch anzulegen, doch in Anbetracht der zugrunde liegenden klassischen Form wollte ich gleichzeitig den Kontrast zwischen dem dramatischen ersten Thema und dem zweiten, lyrischeren Motiv deutlich machen.«
Dabei sucht Blechacz stets nach Möglichkeiten, seine Interpretationen frei zu gestalten, wobei sich seine langjährige Konzerterfahrung mit diesen Werken auszahlt. Heute habe er das Gefühl, dass er bei der Gestaltung der unterschiedlichen Stimmungen auf seine Intuition vertrauen könne, ohne dabei Chopins Stil untreu zu werden, erklärt der Pianist.
»An manchen Tagen spiele ich Chopin eher klassisch, an anderen erweckt er romantischere Gefühle in mir. Was ich mache, hängt häufig nicht nur davon ab, wie ich mich gerade fühle, sondern auch von der Atmosphäre im jeweiligen Konzertsaal. So fällt jede Aufführung ein wenig anders aus. Das finde ich wunderbar, denn keine Interpretation gleicht der anderen. Insgesamt gehe ich heute freier mit dem Rubato, den dynamischen Kontrasten und emotionalen Extremen um, und vielleicht wage ich an manchen Stellen auch mehr.«
»An Studioaufnahmen mache ich mich erst, wenn ich in vielen Konzerten Erfahrungen mit einem Stück gesammelt habe, also wenn ich es vor Zuhörern in der ganzen Welt, in unterschiedlichen Konzertsälen und auf diversen Flügeln gespielt habe. So habe ich bereits viele Abenteuer mit einem Werk erlebt, bevor ich es einspiele.«
Wenn eine der Sonaten auf seinem Konzertprogramm steht, spielt Blechacz in der Regel erst etwas Kürzeres von Chopin, um sich im Anschluss dem längeren Werk zuzuwenden. »Bisweilen ist es schwierig, zu Beginn der Sonate die richtige Stimmung zu treffen«, erklärt der Pianist. »Während einer Studioaufnahme kann ich Teile eines Stücks mehrfach wiederholen, doch bei einem Konzert kann ich es nur einmal spielen, und alles muss vom ersten Ton an hundertprozentig passen. Deshalb kombiniere ich meist die Sonate Nr. 2 mit dem Nocturne op. 48/2 und die Sonate Nr. 3 mit der Barcarolle oder einigen Mazurken.«
Auf dem vorliegenden Album stellt Blechacz den Sonaten eben dieses Nocturne und die Barcarolle gegenüber. Dabei verweist er auf eine Harmoniefolge, die sowohl im ruhelosen, von düsteren Vorahnungen erfüllten Nocturne als auch an einer Stelle im ersten Satz der Zweiten Sonate zu finden ist (»Ein Takt ist in beiden Stücken fast identisch«). Die Sonate Nr. 3 und die Barcarolle wiederum sind beide stark vom italienischen Belcanto beeinflusst, der für Chopin seit seiner Studienzeit in Warschau und seiner damaligen Liebe zu einer jungen Sängerin prägend war: Zeit seines Lebens begeisterte sich der Komponist für die Oper. »Dieser Einfluss ist sehr deutlich zu hören, zum Beispiel im zweiten Thema des ersten Satzes und im dritten Satz, diesem herrlichen Largo«, so Blechacz.
Am deutlichsten zeigt sich der italienische Einfluss in der Barcarolle: »Dieses Stück ist erfüllt von der sonnigen Atmosphäre Venedigs«, erklärt Blechacz. »Ich habe diese Stadt oft besucht und die Barcarolle auch schon im Teatro La Fenice gespielt. Das Stück bedeutet mir sehr viel, weil ich damit so viel erlebt habe, und aufgrund seines italienischen Charakters passt es gut zur Sonate Nr. 3.«
»Mir war es wirklich wichtig«, betont der Pianist zum Abschluss unseres Gesprächs, »dem Publikum die Schönheit dieser Werke zu vermitteln.«
Jessica Duchen
Adventures in Classical Romantism
Rafał Blechacz has always been devoted to Frédéric Chopin. The pianist shot to fame in 2005 when he became the first Pole to take first prize at the Warsaw International Chopin Competition since Krystian Zimerman three decades earlier. But his relationship with the music of his homeland’s most celebrated composer naturally began much earlier, and the Second and Third Sonatas have always been central to his repertoire and close to his heart.
“I have been playing these works since well before the competition,” he says, speaking to me from his home in Poland. “I learned both sonatas while still in my teens. Now I think it was the right moment to record this programme. I didn’t want to wait any longer.” The sessions took place in the Teldex Studio in Berlin in September 2021.
It was a timely decision. The famous Funeral March movement of Sonata No. 2 has extra resonances today, Blechacz suggests. “I think it has a special meaning in this difficult time: we’ve had a pandemic, and now there is a war in Ukraine. So many people have died. There was a sense of dedication as I recorded this sonata.”
In some ways Chopin’s Op. 35 and Op. 58, which date respectively from 1839 and 1844, are poised on a cusp between eras. Says Blechacz: “Formally, both these works are quite classical. Each has four movements, the first of which is a typical sonata allegro, with two main contrasting themes. Emotionally, however, the spirit is very romantic. It’s quite difficult to find the right balance. In the Sonata No. 2, I wanted especially the first and the second movements to be very dramatic, but thinking about the underlying classical structure, I wanted to show the contrast between the dramatic first theme and the second, more poetic idea.”
In addition, Blechacz is on a quest for freedom in his interpretations, and here his long experience of performing these works in recital is paying dividends. He says he has grown to feel that he can allow his intuition to guide the music’s ebb and flow while being faithful to Chopin’s style.
“On some days I’ve played Chopin more classically, but other times I feel it is more romantic. This often depends not only on my own mood, but on some special atmosphere in the audience during the concert. Each performance is a little different. I think this is beautiful because the interpretation is never the same. In general, I am freer today regarding the use of tempo rubato, dynamic contrasts and emotional extremes, and maybe I’m braver with certain ideas.
“I’m going to the studio only after many recitals and many experiences with this programme, playing it for audiences all over the world, in different concert halls and on different pianos. I feel that I have had some adventures with these pieces before recording them.”
When Blechacz gives a recital involving either sonata, he usually begins with some smaller Chopin pieces before plunging into the larger work. “Sometimes it’s challenging to catch the right atmosphere at the beginning of the sonata,” he says. “During a recording session you can repeat some parts of a composition many times, but in a concert you have just one performance and you have to be a hundred per cent ready from the first note. Therefore I generally combine the Sonata No. 2 with the Nocturne Op. 48/2, and the Sonata No. 3 with the Barcarolle or some mazurkas.”
On the present album he complements the sonatas with the Nocturne and the Barcarolle. He points to a particular harmonic progression which is shared by the restless, foreboding Nocturne and a moment in the Sonata No. 2’s first movement (“One bar is almost exactly the same in both,” he says). As for the Sonata No. 3 and the Barcarolle, these share the powerful influence of Italian bel canto, which had been crucial to Chopin ever since his student days in Warsaw, when he fell in love with a young singer. He remained passionate about opera for the rest of his life. “You can hear this influence very clearly, for instance in the second theme of the first movement, and in the third movement, that beautiful Largo,” Blechacz says.
It is in the Barcarolle that the Italianate strand is clearest of all: “This piece is filled with sunny Venetian atmosphere,” Blechacz says. “I have visited Venice many times and I’ve played the Barcarolle in the Teatro La Fenice. This piece means a lot to me because I have had so many personal experiences with it, and because of its Italian quality it fits well beside the Sonata No. 3.”
Last, but by no means least, he says, “I really wanted to share the beauty of these compositions with the audience.”
Jessica Duchen