Rolando Villazón | News | Booklettext: Rolando Villazón & Xavier de Maistre - Serenata latina - 2.10.2020 (VÖ) (DE/EN)

Rolando Villazón
Rolando Villazón

Booklettext: Rolando Villazón & Xavier de Maistre – Serenata latina – 2.10.2020 (VÖ) (DE/EN)

09.09.2020
Please scroll down for English version
 
DAS lateinamerikanische Liedrepertoire gehört dank der kulturellen Vielfalt Lateinamerikas und der wunderbaren Mischung einheimischer, europäischer und afrikanischer Einflüsse zu einem der reichhaltigsten der Welt. In vielen Jahrhunderten des kulturellen Austausches ist eine musikalische Tradition mit einzigartigen Melodien, Rhythmen und Erzählformen entstanden.
Aus der Verbindung der beiden kraftvollen Sprachen Musik und Dichtung im Lied konnte man im Lauf der Geschichte die verschiedenen sozialen, historischen und kulturellen Bedingungen sowie insbesondere die Entwicklung der nationalen Identität lateinamerikanischer Länder ablesen. Die Kenntnis ihrer Lieder wird zu einer wesentlichen Voraussetzung für die Entschlüsselung der Geheimnisse der lateinamerikanischen Kultur.
Zeitgleich mit dem Nationalismus haben akademisch ausgebildete Komponisten in Lateinamerika, wie ihre europäischen Zeitgenossen, in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit Vertonungen von Werken der bekanntesten Dichter jedes Landes ein umfangreiches Liedrepertoire geschaffen.
Die Komponisten, die meist zu den führenden Kreisen gehörten und aus den Salons hervorgingen, in denen europäische (notierte) Musik aufgeführt wurde, wollten die kurzlebigen Gattungen der Volks- und der populären Musik mittels musikalischer Notation bewahren. In dem Versuch, lokale Melodien und Wendungen festzuhalten, begannen sie, einen Nationalklang mit den Mitteln zu entwickeln, die die europäische Musik bot. Damit führten sie eine wechselseitige Kommunikation ein, einen Austausch zwischen der akademischen Welt und der Volksmusik/Popmusik, zwischen dem Salon und dem urbanen und ländlichen Raum. Diese Entwicklung hält bis heute an, und dank ihrer Transparenz kommt es zu einer Vermittlung zwischen den Bereichen von Volkslied, Volksmusik und gelehrter Musik. Diesen Vorgang begleiteten Auseinandersetzungen, durch die es zu einem Bereich der Konfliktbewältigung kam und die zum Aufbau einer Erinnerungskultur beitrugen.
Zunächst waren Kunstlieder vor allem stilisierte Volkslieder, in denen der Klang der Gitarre und der Saiteninstrumente vom Klavier nachgeahmt wurde. Die Praxis der Klangumwandlung wurde somit von jenen, die die Macht innehatten, beschlossen und ausgeführt. Als sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts internationale Avantgardisten in Lateinamerika ansiedelten, kamen Kunstlieder aller Stilarten auf.
Ein Beispiel für diesen Trend ist das Werk des argentinischen Komponisten ALBERTO GINASTERA (1916–1983), dessen frühe nationalistische Kompositionen folkloristisch inspiriert waren. 1938 vertonte er den Text des uruguayischen Dichters Fernán Silva Valdés (1887–1975) für »Canción al árbol del olvido«, ein Lied im Milonga-Rhythmus, in dem ferne Liebe und eine Baumlandschaft mit reizvoller Schlichtheit geschildert werden. 1943 schrieb er den Liedzyklus 5 canciones populares argentinas, der ebenfalls von Volksmusikrhythmen inspiriert ist. Aus diesem Zyklus sind »Zamba«, »Triste« und »Chacarera« hier zu hören. Ginastera schloss sich später der internationalen Avantgarde an und wandte sich von der Volksmusik ab.
Die Geschichte des argentinischen Komponisten CARLOS GUASTAVINO (1912–2000), eines der fruchtbarsten Verfasser des Kontinents von Kunstliedern, ist ungewöhnlich. In seiner Anfangszeit war er stark von der Volksmusik beeinflusst, entwickelte jedoch später einen sehr persönlichen neoromantischen Stil, der ihn von der Avantgarde abhob. Guastavino hat Gedichte vieler spanischer Dichter vertont, so z. B. »Se equivocó la Paloma« von Rafael Alberti (1902–1999). Das ursprünglich als Kunstlied geschriebene Werk wurde dank populärer Sänger international berühmt und zeigt die Flexibilität der Gattung, die vom Kunstlied zum Volkslied und umgekehrt wechseln kann, je nach dem Kontext, in dem es vorgetragen wird. Guastavino schrieb zahlreiche Lieder nach Gedichten von Luis Cernuda (1902–1963), darunter »Violetas«. Für »La rosa y el sauce«, eines seiner bekanntesten Lieder, vertonte er den Text des Dichters Francisco Silva y Valdés (1873–1940, nicht zu verwechseln mit dem ähnlich klingenden Namen von Ginasteras oben genannten uruguayischen Dichter). Dieses Album enthält auch Guastavinos Bailecito, ursprünglich ein Stück für Klavier im Volksmusikrhythmus aus dem Nordwesten Argentiniens, hier meisterhaft für Harfe adaptiert.
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine Blütezeit des lateinamerikanischen Kunstliedes. In verschiedenen Teilen des Kontinents bemühten sich akademisch geschulte Komponisten um einen National klang. In Kolumbien komponierte LUIS ANTONIO CALVO (1882–1945) »Gitana«, das an die Tradition der Serenade erinnert, mit der die Geliebte geweckt werden soll, und in Kuba erklärt EDUARDO SÁNCHEZ DE FUENTES (1874–1944) seine Liebe mit der Schilderung der sonnigen Insellandschaft in dem rhythmisch betonten »Deseo«. Die argentinische Sängerin, Pianistin und Komponistin Clara Margarita Souviron, die unter ihrem Künstlernamen YVETTE SOUVIRON (1914–2010) bekannt wurde, komponierte »Al banco solitario«, ein leidenschaftliches Lied über gemeinsam verbrachte Augenblicke mit dem fernen Geliebten. Beeinflusst vom Impressionismus evoziert hier der Klang der Harfe den Traum und den Zauber einer idealisierten Liebesbegegnung.
Aus Brasilien ist eine interessante Mischung zu hören, darunter zwei Kultstücke aus dem populären Repertoire in meisterhaften Harfenbearbeitungen: Tico-Tico no fubá von ZEQUINHA DE ABREU (1880–1935) und Brasileirinho von WALDIR AZEVEDO (1923– 1980). Von ALBERTO NEPOMUCENO (1864–1920), der als einer der ersten die portugiesische Sprache im brasilianischen Kunstlied verwendet hat, erklingt »Coração triste«, die melancholische Vertonung eines Gedichtes des großen MACHADO DE ASSIS (1839–1908).
Typisch für das lateinamerikanische Liedrepertoire sind auch Feinsinnigkeit und Qualität der Gedichte, nicht nur beim Kunstlied, sondern auch im populären Lied und im Volkslied. Beispiele großer Dichtkunst finden sich in »En estos días« und »La vida« des kubanischen Liedermachers SILVIO RODRÍGUEZ (1946). Rodríguez ist einer der fruchtbarsten Vertreter der Nueva canción (Neues Lied)-Bewegung, in deren Klängen der tiefgreifende kulturelle und politische Wandel zum Ausdruck kommt, der Ende der 1960er und in den 1970er Jahren in Lateinamerika und darüberhinaus stattgefunden hat.
Die Entstehung der stark von der populären Volksmusik beeinflussten Nueva canción und ihr Erfolg wurden von den demographischen Veränderungen begünstigt, als Millionen von Menschen vom Land in die Stadt zogen, mit allen Konflikten, Veränderungen, Verlusten und Gewinnen, die ein Wandel dieser Größenordnung mit sich bringt. Diejenigen, die vom Land in die Stadt abwanderten, verband Nueva canción wieder mit ihrer Geschichte und ihrer Vergangenheit und ermöglichte ihnen den Aufbau einer Zukunft. Diese Dialektik von Vergangenheit und Moderne materialisiert sich im Lied als Zusammenkommen von traditionellen Klangtexturen und von Elementen aus elektronischer Musik, Jazz und sinfonischer Musik.
Wie im Kunstlied steht die Symbiose von Musik und Text im Mittelpunkt der Nueva canción, und die Texte schildern (wie in der Tradition der Minstrels) ländliche und städtische Räume, Einsamkeit, Liebe, soziale Ungerechtigkeit und Schmerz. In diesem Zusammenhang wurden Lieder wie »Alfonsina y el mar« des Argentiniers ARIEL RAMÍREZ (1921–2010) zu Referenzwerken für Generationen von Lateinamerikanern, die sie zu Gitarrenbegleitung bei Familientreffen sangen. Im Volksmusikrepertoire ebenso bedeutsam sind die mexikanischen Lieder »La Bikina« von RUBÉN FUENTES (1926) und »La llorona«.
Das Programm, das hier zu hören ist, versammelt die verschiedenen Liedtypen. Wie eine Klangcollage bringt es vielfältige Traditionen, Stile und historische Momente zusammen, die sich alle im gleichen Bereich treffen und gleichermaßen geschätzt werden. Schließlich ist die Unterteilung von Kunstmusik, Folklore und populärer Musik ein relativ junges Konstrukt, das von den gebildeten Kreisen Mitteleuropas ausging und Musik außerhalb ihres Kulturraumes klassifizieren sollte. Zum Glück können lateinamerikanische Lieder diese Kategorien aufheben, wie in dieser Aufnahme zu hören ist. Dank der gelungenen Repertoireauswahl, der sorgfältigen Interpretation und Bearbeitung für Harfe dieser (überwiegend für Gesang und Klavier geschriebenen) Werke, wirkt die Musik authentisch. Zweifellos verhilft dieses Album zum Verständnis der historischen und kulturellen Vielschichtigkeit Lateinamerikas und bietet mit ihrer Schönheit Nahrung für die Seele.
Patricia Caicedo
Die Sopranistin und Musikwissenschaftlerin Patricia Caicedo ist die Autorin von The Latin American Art Song: Sounds of the Imagined Nations. Sie leitet das Barcelona Festival of Song, ein Sommerprogramm, das sich dem Studium der Geschichte und Interpretation des lateinamerikanischen und iberischen Kunstliedes widmet.
 
 
THANKS to the cultural diversity of Latin America and its wonderful mix of indigenous, European, and African influences, the Latin American song repertoire is one of the richest in the world. The many centuries of cultural exchange have created a musical tradition with its own unique melodies, rhythms and narrative forms.
By uniting two languages as powerful as music and poetry, song is a mirror in which throughout history, the different social, historical and cultural realities, and especially the development of the national identity of Latin American countries have been reflected. Learning about its song becomes an essential requirement for unravelling the mysteries of Latin American culture.
Coinciding with the nationalist period, academic composers in Latin America, like their European contemporaries, created in the last decades of the 19th century a vast repertoire of lieder, setting to music the most notable poets of each country.
The composers, mostly belonging to the elites, ventured out of the salons (where European music – music that was notated – was performed) to “capture” the ephemeral genres that were folk and popular music – capturing them through musical notation. Through this endeavour of capturing local melodies and inflections they began constructing a national sound, using the tools provided by European music. They thus inaugurated avenues of two-way communication, processes of feedback between the academic world and the folk-popular, between the salon and urban and rural spaces. These processes persist to this day, creating porous, permeable surfaces, vessels communicating between the worlds of popular song, folklore and the erudite. These processes have been inscribed within power struggles, converting themselves into spaces of conflict negotiation and the construction of memory.
At first, art songs were mainly stylisations of folk songs in which the sounds of the guitar and the stringed instruments were imitated by the piano. The practices of sound transformation were thus decided and carried out by those in power. As the 20th century progressed and the international avant-gardes settled in Latin America, art songs of all styles emerged.
An example of this trend is the work of the Argentinian composer ALBERTO GINASTERA (1916–1983) whose early nationalist works were inspired by folklore. In 1938 he wrote the “Canción al árbol del olvido” on a text by Uruguayan poet Fernán Silva Valdés (1887–1975), a song in the rhythm of milonga that describes local landscapes and speaks with delicate simplicity of absent love. In 1943 he wrote the song cycle 5 canciones populares argentinas, also inspired by folk rhythms. From this cycle, we hear “Zamba”, “Triste” and “Chacarera”. Ginastera would later join the international avant-garde, moving away from the folk motif.
Argentinian composer CARLOS GUASTAVINO (1912–2000), one of the continent’s most prolific art song writers, is an exceptional case. When he started out he was highly influenced by folk music, but he later developed a very personal neo-romantic style that set him apart from the avant-garde. Guastavino set to music texts of numerous Spanish poets and his “Se equivocó la paloma” is based on a poem by Rafael Alberti (1902–1999). Written originally as an art song, it became internationally famous in the voices of popular singers, demonstrating the flexibility of the genre of song which can change from art song to folk song and vice versa depending on the space in which it is performed. Guastavino wrote numerous songs on poetry by Luis Cernuda (1902–1963), among them “Violetas”. For “La rosa y el sauce”, one of his most famous songs, he used a text by Francisco Silva y Valdés (1873–1940, not to be confused with Ginastera’s similarly named Uruguayan poet). This album also includes Guastavino’s Bailecito, an original work for piano in folk rhythm from the northwest of Argentina, masterfully adapted for the harp.
The first half of the 20th century was a golden age for the Latin American art song. In various parts of the continent, academically trained composers went in search of the national sound. In Colombia, LUIS ANTONIO CALVO (1882–1945) composes “Gitana” invoking the traditional serenade used to awaken a beloved, and in Cuba EDUARDO SÁNCHEZ DE FUENTES (1874–1944) declares his love while depicting the island’s sunny landscape in his rhythmic “Deseo”.
The Argentinian singer, pianist and composer Clara Margarita Souviron, known by her artist name YVETTE SOUVIRON (1914–2010), composed “Al banco solitario”, a passionate song recalling moments shared with her absent beloved. Influenced by impressionism, here the sound of the harp evokes the dream, the magic of the idealised romantic encounter. From Brazil, we hear an interesting selection including two iconic works from the popular repertoire in masterful harp arrangements: Tico- Tico no fubá by ZEQUINHA DE ABREU (1880–1935) and Brasileirinho by WALDIR AZEVEDO (1923–1980). From ALBERTO NEPOMUCENO (1864–1920), a forerunner of the use of Portuguese in Brazilian art song, we hear “Coração triste”, a melancholic song set to poetry by the great Machado de Assis (1839–1908).
The Latin American song repertoire is also characterised by the delicacy and quality of its poetry, not only in art song, but also in popular and folk song. Examples of great poetry can be found in “En estos días” and “La vida” by the Cuban singer–songwriter SILVIO RODRÍGUEZ (b.1946). Rodríguez is one of the most prolific representatives of the Nueva canción (New Song) movement, the reflection in sound of the profound cultural and political changes that occurred in Latin America and the wider world in the late 1960s and throughout the 1970s.
Strongly influenced by popular folklore, the appearance and acceptance of Nueva canción benefited from the demographic movements that drove millions of people from the countryside to the city, with all the conflicts, changes, losses and gains that a shift of this magnitude could generate. For those who migrated from the countryside to the city, Nueva canción represented a reunion with their history and past life and a tool that allowed for the construction of a future. This past–modernity dialectic is materialised in the song as a meeting point between traditional sonic textures and elements of electronic music, jazz and symphonic music.
As in art song, the symbiosis between music and text is central in Nueva canción and, like the minstrel tradition, its texts describe rural and urban spaces, loneliness, love, social injustice, and pain. In this context, songs like “Alfonsina y el mar” by the Argentinean ARIEL RAMÍREZ (1921–2010) became touchstones for generations of Latin Americans who, accompanied by the guitar, performed them in family gatherings. Equally important within the folk repertoire are the Mexican songs “La Bikina” by RUBÉN FUENTES (b.1926) and the traditional folk song “La llorona”.
This programme represents a meeting point between the different types of songs. Like a collage of sounds, it brings together diverse traditions, styles, and historical moments that intersect, all in the same space and on the same level of validation. After all, the division between art, folk and popular music is a relatively recent construct that emerged from the enlightened elites of central Europe to classify music outside its axis. Fortunately, as we hear on this recording, Latin American song succeeds in breaking down these categories. Thanks to the beautiful repertoire selection, careful interpretation and arrangements of these works (mostly written for voice and piano) for the harp, the music acquires a seal of authenticity. Without a doubt, this album, in addition to nurturing the soul with its beauty, helps us understand the historical and cultural complexity of Latin America.
Patricia Caicedo
Soprano and musicologist Patricia Caicedo is the author of The Latin American Art Song: Sounds of the Imagined Nations. She is the director of the Barcelona Festival of Song, a summer programme dedicated to studying the history and interpretation of the Latin American & Iberian art song.  

Weitere Musik von Rolando Villazón

Mehr von Rolando Villazón