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EIN MEISTER DES SPRECHENDEN KLANGS
Was ist Musik? »Eine ruhige Mondnacht, das Rauschen der Blätter, entferntes Abendläuten. Das, was von Herz zu Herz geht, die Liebe. Die Schwester der Musik ist die Poesie – ihre Mutter: die Schwermut!« So beschrieb Sergei Rachmaninoff im Jahr 1932 seine Auffassung vom Wesen der Musik.
»Es ist wundersam«, sagt Sergei Babayan, »aber Rachmaninoff, der Musik so feinsinnig beschreiben konnte, war nicht in der Lage, auch nur annähernd die Qualität seiner eigenen Werke selbst in Worte zu fassen. Seine Palette der Emotionen ist grenzenlos. Es wäre vergeblich, die ganze heilende Kraft seiner Musik verständlich machen zu wollen – sie ist ein Frühlingsgarten der neuen Hoffnung und Wiedergeburt, der Inspiration und des Neuanfangs für die vom Weg Abgekommenen und alle, die ihren Glauben verloren haben. Wenn Rachmaninoff davon spricht, dass Musik Liebe ist, die von Herz zu Herz geht, dann kann man das wahrer gar nicht ausdrücken. Nur ein mit größten Gaben gesegneter Komponist verfügt über die Kunstfertigkeit, seine Musik wie aus dem Moment heraus geboren klingen zu lassen.«
Das Solo-Debütalbum des Pianisten bei Deutsche Grammophon ist eine innige Liebeserklärung an die Musik Rachmaninoffs mit all ihren farblichen Facetten und Stimmungen. Der 1961 in Armenien geborene Babayan fand zu Rachmaninoff in einer schwierigen Zeit. Als 13-Jähriger haderte er mit dem Klavier und hatte kaum mehr Freude am Üben. Da schenkte ihm sein Vater eine Aufnahme von Rachmaninoffs Zweitem Klavierkonzert. Es war Liebe auf den ersten Ton, wie Babayan erzählt: »Es war unvorstellbar: Von dem Augenblick an, in dem ich den Anfang des Zweiten Klavierkonzerts gehört hatte, war ich vollkommen gebannt. Ich bin nicht mehr nach draußen gegangen, habe keine Freunde mehr getroffen, bin nicht mehr ans Telefon gegangen… Ich war völlig besessen von den Melodien, den Harmonien, den komplexen chromatischen Rückungen des Kontrapunkts und der unbeschreiblichen Schönheit der inneren Stimmen. Ich habe nur noch der Musik gelauscht und bald versucht, sie selbst zu spielen. Ich kam gar nicht mehr vom Klavier weg. Die Zuversicht und Glückseligkeit, die dieses Stück in mir weckte, kann ich mit Worten nicht beschreiben, und diese tiefe Liebe zu Rachmaninoff dauert an bis heute.«
Babayans Klavierlehrer in Armenien, Georgy Saradjew, ermutigte den jungen Pianisten in seiner Begeisterung für Rachmaninoff. Später studierte Babayan am Moskauer Konservatorium bei Mikhail Pletnev, Vera Gornostayeva und Lev Naumov und wurde als Schüler der dritten Generation in der Neuhaus-Tradition ausgebildet, bevor er nach seiner ersten Auslandsreise 1989 gleich mehrere Erste Preise bei internationalen Wettbewerben wie der Cleveland International Piano Competition, der Hamamatsu Piano Competition und der Scottish International Piano Competition errang.
In seiner weiteren Pianistenlaufbahn hat sich Sergei Babayan intensiv mit verschiedenen Komponisten auseinandergesetzt, sich in das Werk von Peter Tschaikowsky versenkt, in jenes von Robert Schumann, Johannes Brahms, Maurice Ravel und immer wieder und ganz besonders in das OEuvre Johann Sebastian Bachs. Die Musik von Sergei Rachmaninoff aber sei ein Licht gewesen, das die ganze Zeit über in seinem Leben leuchtete. »Ganz gleich, was ich sonst gespielt habe – Rachmaninoff war für mich immer präsent«, so Babayan, und bis heute strahle Rachmaninoffs Musik für ihn jene heilende Kraft aus, die er schon als Jugendlicher erfahren hat. Dabei spiegeln die Werke Rachmaninoffs für den Pianisten sowohl die »tief russische Seele« des Komponisten als auch dessen Verwurzelung in der russisch-orthodoxen Tradition wider, angereichert durch den unverkennbaren Einfluss der Kultur der Sinti und Roma. »All diese Facetten machen Rachmaninoffs Tonsprache so einzigartig «, sagt Babayan.
Für dieses Album hat der Musiker verschiedene pianistische Miniaturen des romantischen Tonschöpfers nebeneinandergestellt, die ihn seit vielen Jahren begleiten und inspirieren. Darunter finden sich ausgewählte Stücke aus den Zehn Préludes op. 23 und den Dreizehn Préludes op. 32, den Études-Tableaux op. 33 und op. 39, den Sechs Moments musicaux op. 16 sowie verschiedene Transkriptionen: des dritten Satzes der Cellosonate op. 19 sowie der Lieder »Flieder« und »Melodie« aus dem Zyklus op. 21, den Babayan schon seit seiner Kindheit kennt und liebt.
In Babayans Interpretation verschmelzen diese Einzelwerke zu einer spannungsreichen und dichten Erzählung voller dynamischer Kontraste. »Durch die Kombination der verschiedenen Stücke entsteht eine ganz eigene Geschichte. Ein Stück geht in das andere über, eine Stimmung fließt in die nächste… Ich wollte für dieses Album keine fertigen Zyklen vollständiger Opera von Préludes oder Études-Tableaux spielen. Ich wollte einen eigenen Zyklus kreieren«, erzählt Babayan, und wie ein Maler, der immer wieder einen Schritt zurücktritt und aus der Distanz prüfend auf die Leinwand blickt, habe er sich nach und nach dem endgültigen Programm angenähert.
Alle Stücke auf dem Album eint der improvisatorische Grundcharakter der Tonsprache des Komponisten. »Rachmaninoff hatte eine fantastische improvisatorische Gabe, verbunden mit tiefem Wissen und einer einzigartigen Handwerkskunst«, so Babayan. »Aus einer Zelle mit nur wenigen Noten erschafft er eine Stimmung, und was er dann daraus macht, gleicht einer einzigen fließenden Phrase, einer endlos strömenden Melodie, bei der man kaum merkt, welche Arbeit dahintersteckt. Darin zeigt sich die wahre Größe eines Komponisten.« Dies sei besonders bei den Préludes zu erleben – für Babayan überragende Beispiele »absoluter Musik«, die ganz für sich wirken und wie aus dem Moment heraus entstehen, gleichzeitig aber eine »brillant entworfene innere Struktur« aufweisen.
Die Études-Tableaux sind weitere Beispiele für das schwesterliche Hand-in-Hand-Gehen von Rachmaninoffs Musik und Poesie. »Poesie ist die Natur dieser Bilder. Sie sind zwar auch pianistisch eine Herausforderung, aber ihre eigentliche Intention ist es, Visionen von atemberaubender Schönheit und Tiefe zu erschaffen.«
Sergei Babayan ist ein akribischer Perfektionist und feinsinniger Klangarbeiter, der jahrelang an seinen Programmen feilt, sie immer wieder neu durchdringt und in Frage stellt, bevor sie von ihm für konzertreif befunden werden. Dieser Anspruch spiegelt sich auch in den Aufnahmen des vorliegenden Albums, die in nur wenigen Takes eingespielt wurden und entsprechend unmittelbar und natürlich berühren. In seinem Spiel zelebriert Babayan den sprechenden Klang. Dabei fühle er sich manchmal wie ein Schauspieler, der seine Rolle übt, verschiedene Gewichtungen ausprobiert, mit jedem Satz ringt und mal diesen, mal jenen Akzent setzt. »Je mehr verschiedene Möglichkeiten des Ausdrucks man verinnerlicht hat, desto tiefer wird letztlich die Interpretation«, sagt Babayan. Folglich sei die Erarbeitung eines neuen Stücks ein langer Prozess in immer neuen Runden. Am Beginn stehe die grundsätzliche Idee eines Werks, dann gehe er in die Details und zerlege das Stück in seine einzelnen Bestandteile – verliebe sich dabei in jede einzelne Nuance –, nur um diese schließlich wieder miteinander in Beziehung zu setzen. »Ein kleines Detail, ein anders gestalteter Takt verändert das gesamte Stück«, ist Babayan überzeugt.
So lässt der Künstler auch jene Musik sprechen, als deren Schwester Rachmaninoff einst die Poesie und als deren Mutter er die Schwermut bezeichnete: warm im Grundklang, emotional vielschichtig und tiefgehend. »Die Möglichkeit, zu den Menschen durch Musik zu sprechen und sie zu berühren – das ist die Urmotivation eines jeden Künstlers«, sagt Babayan. »Ich habe die Hoffnung, dass diese Musik den Menschen helfen kann, dass sie ihre Leiden lindert und ihre irdische Existenz leichter macht. Deshalb bin ich Musiker: um anderen Hoffnung zu geben – auf ewige Erneuerung und Frühling, auf neues Licht und Liebe.«
DOROTHEA WALCHSHÄUSL
A MASTER OF EXPRESSION IN SOUND
What is music? “Music is a calm moonlit night, a rustling of summer foliage. Music is the distant peal of bells at eventide! Music is born only in the heart and it appeals only to the heart; it is Love! The sister of Music is Poesy, and its mother is Sorrow!” These are the words Sergei Rachmaninoff used to describe his conception of music.
“It is disarming,” says Sergei Babayan, “but even Sergei Rachmaninoff, with his highly sophisticated description of what music is, is not able to describe even a fraction of what his own music is. His emotional palette is limitless. It would be impossible to begin to describe what kind of healing power it has. It is a spring garden of new hopes and rebirth, new inspirations and new beginnings for those who have lost their way and their faith. One thing which cannot be closer to the truth is what he says about music being Love, being born in the heart and appealing only to the heart. Only a composer of the highest gifts can have a craftsmanship of the level where music sounds like an improvisation, born spontaneously.”
The pianist’s debut solo album on Deutsche Grammophon is a heartfelt declaration of love for Rachmaninoff’s music in all its many colours and moods. Born in Armenia in 1961, Babayan came across Rachmaninoff at a difficult stage in his life. He was thirteen years old, tussling with the piano and finding little pleasure any more in practising. Then his father gave him a recording of Rachmaninoff’s Second Piano Concerto. It was love at first note, as Babayan explains: “It was unimaginable. From the moment I heard the opening of the Second Concerto I was completely spellbound. I stopped going out, stopped meeting my friends or answering the phone… I was completely obsessed with everything: the melodies, harmonies, the complex chromatic shifts in the counterpoints and the ineffable beauty of the inner voices; all I did was listen to this music, and soon I tried to play it myself. I was glued to the piano. This piece gave me indescribable hope and happiness, and my profound love for Rachmaninoff has lasted ever since.”
Babayan’s piano teacher in Armenia, Georgy Saradjev, also encouraged the young pianist’s enthusiasm for Rachmaninoff. Later on, Babayan went to study under Mikhail Pletnev, Vera Gornostayeva and Lev Naumov at the Moscow Conservatory, where his training made him one of the third generation of students in the Neuhaus tradition. He then made his first trip abroad, in 1989, and immediately garnered first prizes in a host of international competitions, such as the Cleveland International Piano Competition, the Hamamatsu Piano Competition, and the Scottish International Piano Competition.
As his piano career developed, Sergei Babayan focused on the music of a number of composers, delving deep into the works of Tchaikovsky, Schumann, Brahms and Ravel, but returning again and again to the work of J.S. Bach above all. Nevertheless, Rachmaninoff’s music has been like an ever-present beacon in his life. “Whatever else I might be playing, for me Rachmaninoff was always there,” says Babayan, and to this day he finds the same capacity for healing in Rachmaninoff’s music that he experienced as a youngster. At the same time, Rachmaninoff’s works reflect for the pianist both the composer’s “deep Russian soul” and the way he is rooted in the Russian Orthodox tradition, with the added richness of the unmistakable influence of Sinti and Roma cultures. “It is all these elements that make Rachmaninoff’s music so special,” says Babayan.
For this album, Babayan has chosen to juxtapose a number of this Romantic composer’s piano miniatures that have been companions and an inspiration to him over many years. They include selected pieces from the Ten Préludes op. 23 and the Thirteen Préludes op. 32, the Études-Tableaux opp. 33 and 39, the Six Moments musicaux op. 16, as well as various transcriptions: the third movement of the Cello Sonata op. 19 and the two songs “Lilacs” and “Melody” from the op. 21 set, that Babayan has known and loved since he was a child.
Interpreted by Babayan, these individual works fuse into one taut, exciting narrative full of dynamic contrasts. “The various pieces combined together create a completely individual story. One piece leads into another, one mood flows into the next. I didn’t want to play any ready-made cycles of complete works from the Préludes or the Études-Tableaux for this album. What I wanted was to create a cycle of my own,” Babayan explains; and, like a painter who keeps taking a step back to check the canvas from a distance, he gradually arrived at this definitive selection of pieces.
What unites all the pieces on the album is the fundamentally improvisatory character of the composer’s musical language. “Rachmaninoff had an amazing gift for improvisation that was wedded to a great depth of knowledge and unrivalled craftsmanship,” as Babayan puts it. “From a cell of just a few notes he creates a mood, and what he then develops from it seems like a single flowing phrase, such an endless stream of melody that we are barely aware of the work that has gone into it. That is the truest sign of a composer’s greatness.” The Préludes especially bear witness to this – for Babayan, they are infinite examples of “absolute music”, each a self-contained piece that seems to emerge from the moment, but at the same time demonstrates a “brilliantly constructed inner structure”.
The Études-Tableaux are another example where Rachmaninoff’s music and her sister “Poesy” walk hand in hand. “Poetry is the nature of those pictures. Although pianistically challenging, their most important meaning is to create images of striking beauty and depth.”
Sergei Babayan is a painstaking perfectionist who works on the sound with great sensitivity, and spends years polishing up his recital programmes, going over them and re-examining them again and again before he considers them to have reached the right level of maturity to be performed in concert. The same objective is reflected in the recordings for this album, all done in only a small number of takes, and they consequently have a natural emotional directness. Babayan’s playing is a celebration of the expressive power of sound, and he thus sometimes feels like an actor rehearsing his role, trying out different emphases, grappling with every sentence, and continually shifting the stress. “The more you’ve internalized different expressive possibilities, the deeper your interpretation ultimately becomes,” says Babayan. Consequently, developing a new piece is a long process of going back over the music again and again. He starts off by laying down the fundamental ideas of a work, then goes into the details and breaks the piece down into its constituent parts – falling in love with every single nuance on the way – only to finally put everything back together again. Babayan is convinced that “one tiny detail, one bar constructed differently, changes the entire piece”.
This is how the artist gives voice to this music too – the music that Rachmaninoff once identified as the sister of “Poesy” and the daughter of “Sorrow”: with a fundamental warmth of sound, and a broad range and depth of emotion. “The opportunity to speak to people through music and to move them – that’s what basically motivates every single artist,” says Babayan. “What I hope is that this music can help people, that it can heal them of their pain and worldly existence. That is why I’m a musician: to give to others hope for eternal renewal, spring, new light and love.”
DOROTHEA WALCHSHÄUSL