John Eliot Gardiner | News | Booklettext: Gardiner Monteverdi Marienvesper CD & DVD - 15.5.2020 (VÖ)

Sir John Eliot Gardiner
Sir John Eliot Gardiner

Booklettext: Gardiner Monteverdi Marienvesper CD & DVD – 15.5.2020 (VÖ)

29.04.2020
DIE VENEZIANISCHE VESPER
John Eliot Gardiner
»So prächtig sind die Konzerte, die in unserer Kirche S. Marco an den hohen Festtagen unter Teilnahme fast der gesamten Stadt mit soviel öffentlicher Würde aufgeführt werden, dass wir alles daransetzen müssen, sie zu erweitern und noch größer auszubauen.« (Aus dem Anstellungsbescheid der Prokuratoren für einen dritten Kapellorganisten im Jahre 1588.)
I. DIE VESPER AN SAN MARCO
Die offizielle Staats- und Festmusik war für das Ansehen Venedigs von entscheidender Bedeutung, besonders in der Zeit des allmählichen Niedergangs um die Wende zum 17. Jahrhundert. Die Basilica S. Marco war der religiöse und musikalische Mittelpunkt der Stadt und zugleich auch die Privatkapelle der Dogen. Musikalische Einschübe in die Liturgie der Basilika – mehrchörige Motetten und instrumentale Canzonen unter den Gabrielis — waren seither zur ständigen Besonderheit geworden. Als die Prokuratoren von S. Marco darüber entschieden, ob Monteverdi die nötige Eignung besaß, bei ihnen Kapellmeister zu werden, musste er sich im August 1613 gründlichen Proben unterziehen, und zwar besonders in Hinblick auf seine Fähigkeit, große und großartige Kirchenmusik zu schreiben.
Darüber hätten sich die Herren allerdings nicht sorgen müssen. Monteverdi blieb zwar keine Zeit, für diese prova etwas Neues zu komponieren; aber er konnte sicher sein, sich von seiner besten Seite zu zeigen, wenn er unter anderem seine Vesper für die Hl. Jungfrau vorwies, die erst kürzlich in Venedig gedruckt worden war und sich vorzüglich für das Fest Mariae Himmelfahrt (15. August) eignete. Monteverdi musste seine Geschicklichkeit unter Beweis stellen, für das gesamte Fest Musik zu liefern. Man hatte zusätzlich zu den ungefähr 30 besoldeten Musikern an S. Marco noch 20 weitere engagiert. Vier Tage später, am 19. August, zeigten sich die hochherrschaftlichen Patrizier in Bezug auf die Qualitäten und Vorzüge Monteverdis in ihrer Meinung bestärkt »aufgrund seiner [musikalischen] Werke, die gedruckt vorliegen und derer, welche die erlauchten Herren zu ihrer völligen Befriedigung heute in der Kirche S. Marco von ihren Musikern zu hören ausgewählt hatten«. Einstimmig wählten sie Monteverdi zum maestro di cappella.
Diesen Beleg habe ich im Staatsarchiv Venedig entdeckt (San Marco, Procuratia de Supra, Chiesa, Registro 140, fol. 148v–149). Natürlich ist er kein Beweis dafür, dass die Vesper ihre erste Aufführung in S. Marco erlebte; aber er stützt doch meine langgehegte Ansicht, dass Monteverdi bei der Komposition dieser Vesper in Mantua sich schon nach venezianischem Geschmack und Gebrauch richtete, in der Absicht, sich von den unerträglichen Anforderungen und Intrigen des Gonzaga-Hofes zu befreien. Das Zitat unterstreicht die Bedeutung des Vesper-Druckes Venedig 1610 und dessen, was Monteverdi als Nachweis seiner Befähigung für den Kapellmeisterposten am 15. und 19. August aufführte (wozu er mehrere zusätzliche Instrumentalisten und Sänger benötigte). Dabei könnte es sich unter Umständen um die Aufführung eben dieser gedruckt vorliegenden Vesper gehandelt haben. Für Monteverdi bedeutete die Anstellung an S. Marco den Beginn eines neuen Lebens in Venedig, wo, wie er Jahre später einmal schrieb, »il servitio poi e dolcissimo«.
Es ist durchaus denkbar, dass Teile dieser Vesper schon vorher in Mantua erklungen waren. Aber alle archivalischen Nachforschungen haben für die Zeit zwischen 1606 und 1610 auch nicht eine einzige Gelegenheit ausfindig machen können, bei welcher Monteverdis Vesper, die eigens für die Feste der Hl. Jungfrau Maria geschrieben ist, dort hätte aufgeführt werden können. Monteverdi war beim Hof beschäftigt, nicht in der herzoglichen Kapelle Santa Barbara, und, wie Iain Fenlon festgestellt hat, es ist »nicht eine einzige Note seiner Musik in Santa Barbara in den Inventaren aus dem 17. Jahrhundert festgehalten worden, … auch nicht in der Bibliothek selbst, die sich so gut wie vollständig erhalten hat.«
Das erste dokumentarische Zeugnis, das wir vom Vorhandensein der Vesper besitzen, ist also der Amadino-Druck von 1610, um den es unter den Gelehrten unseres Jahrhunderts so viel Streit gegeben hat. Abgesehen von der offensichtlichen Eigentümlichkeit, dass zwei stilistisch, ästhetisch und funktionell unterschiedliche Werke, eine Messe und eine Vesper, hier zusammengestellt sind, ist es überdies auch merkwürdig, dass erst die Rückseite des Orgel-Stimmbuches ein Inhaltsverzeichnis enthält, aus welchem die Ordnung der einzelnen Stücke im Vesper-Offiziun zu ersehen ist. Die vier Motetten und die Sonate (diese »geistlichen Concerti« sind in Kleindruck auf dem Titelblatt erwähnt) finden sich hier zwischen die Psalm-Vertonungen eingeschoben. Allein die Tatsache, dass die Titelseite nahelegt, man könnte diese Einschiebsel ohne Weiteres auch für sich in einem nichtliturgischen Zusammenhang aufführen (und sie haben in der Tat eine überraschende Ähnlichkeit mit Monteverdis weltlichen monodischen Werken aus dieser Zeit), hat die Aufmerksamkeit einiger Experten völlig von der Frage abgelenkt, welche Rolle Monteverdi ihnen in diesem Zusammenhang zugedacht hat – als Ersatz nämlich für die gregorianischen Antiphonen, die von Fest zu Fest variieren und auch als wesentliche Verbindungsstücke in dieser grandiosen Großform einer vollständigen marianischen Vesper, die eher wie ein »Kirchenkonzert mit liturgischer Begleitung« wirkt (wie Otto Ursprung einmal die Messe charakterisiert hat). Jeffrey Kurtzman hat die Ansicht vertreten, selbst die Mehrdeutigkeit des Titelblattes könnte Absicht gewesen sein, um »die Rolle der sacri concentus als möglichen Antiphon-Ersatz vor einem zufälligen Betrachter, z. B. einem geistlichen Zensor, zu verschleiern.« Neun Jahre später hat ein anderer Komponist, Paolo Agostini, zu einer ähnlich »leichten Irreführung« gegriffen, indem er im Inhaltsverzeichnis der Druckausgabe seiner marianischen Vesper von 1619 die Antiphonen und Motetten nicht nach der liturgischen Reihenfolge in den Stimmbüchern anordnete, sondern sie erst nach den Psalmen, Hymnen und Magnificatvertonungen geschlossen aufführte. »Ironischerweise sind die Streitereien um den liturgischen Zweck dieser Motetten noch im 20. Jahrhundert der beste Beweis dafür, wie erfolgreich diese List gewesen ist« (Kurtzman).
Bis vor ungefähr zehn Jahren galt es als liturgisch und künstlerisch befriedigend, Monteverdis Vesper so aufzuführen, wie er sie hatte drucken lassen. Seitdem ist eine Flut von Versuchen hereingebrochen, um irgendein Sonderformular für die Vesper im Italien des 17. Jahrhunderts ausfindig zu machen oder eines zu rekonstruieren, um Monteverdis Musik bündig einpassen zu können. Das führte zu einem Hin- und Hergeschiebe mit Monteverdis Druckordnung, weil sie »doch mit Gewissheit nicht so sehr die Aufführungspraxis getreulich spiegelt, sondern sich vielmehr an Auge und Verstand wendet« (Blazey); und dass somit Umgruppierungen erlaubt seien, »um die damaligen liturgischen Praktiken zu berücksichtigen« (McCreesh). Welche liturgischen Praktiken?
Was mich befremdet, ist die Kritiklosigkeit, mit welcher ein vermeintlicher liturgischer Kontext, z. B. »der normale nachtridentinische römische Ritus der Zweiten Vesper des Festes Mariae Himmelfahrt« (Keyte und Parrott) zu einer Bedeutung erhoben wird, die wichtiger erscheint als das eigentliche Zeugnis in Gestalt des Druckes von 1610, an dem nichts richtiggehend »normal« ist, wie die Forschungsergebnisse von Bonta, Armstrong, Moore und Kurtzman überzeugend beweisen. Allein schon die Vielfalt angebotener Lösungsmöglichkeiten sollte argwöhnisch machen, da sie nicht nur die Reihenfolge der Stücke drastisch verändern, sondern überdies noch Stücke von anderen Komponisten und gregorianische Antiphonen zusätzlich einbeziehen. (Wenn wir den gregorianischen Choral in der für Monteverdi charakteristischen Mischung von Altem mit Brandneuem schon so glänzend eingekleidet vor uns haben, weshalb sollten wir ihn auch noch sozusagen »nackt« hören wollen?) Und wenn es sich als so schwierig erweist, ein nachprüfbar existierendes Vesper-Formular zu finden, dem Monteverdis Marienvesper entspricht – warum muss man dann die im Druck vorliegende Anordnung des Komponisten derart außer Acht lassen? Bisher hat sich kein Zeugnis dafür vorbringen lassen, dass sich Monteverdi oder sein Drucker Amadino geirrt hätten, und gegenteilige Vermutungen, so interessant sie auch sein mögen, sind doch eben nichts weiter als Vermutungen. Die Beweislast liegt bei den Herausgebern und Musikern, die die einzelnen Stücke willkürlich umordnen und liturgische Rücksichten über alles stellen. Das einzig unbestreitbare Zeugnis, das wir besitzen, ist Amadinos Druck von 1610, und solange das so ist, sehe ich jedenfalls keinerlei Anlass, weshalb ich Monteverdis Vesper nicht auch weiterhin so aufführen sollte, wie es die gedruckte Reihenfolge der Stücke vorschreibt, um die aus der künstlerischen Vielfalt entstehenden Beziehungen von Kontrast und Zusammenhang dabei zu genießen*.
Besonders in venezianischem Ambiente. Denn die Prokuratoren von S. Marco legten nicht nur Wert auf üppige musikalische Feierlichkeiten; sondern sie wachten auch eifersüchtig über eine quasi-unabhängige Liturgie und waren bereit, bei der Einverleibung nicht-liturgischer Musik in das Hl. Offizium durchaus ein Auge zuzudrücken. Um 1639 setzten die Provveditori de Comun fest, dass »zwischen den Psalmen in der Vesper Motetten mit frommen, andächtigen Texten aus den heiligen Büchern« gesungen werden durften. Um 1647 lieferte der deutsche Reisende Paul Hainlein begeisterte Beschreibungen über die »Motetten und Sonaten«, die »zwischen den einzelnen Psalmen« gesungen wurden.
Monteverdis Vesper wies einen neuen Weg. Sie war die erste Druckveröffentlichung dieser Art, die Psalmen mit außerliturgischen Motetten vermischte und eine passende marianische Hymnen- Vertonung mit aufnahm. Monteverdi vertonte Texte, die für alle 14 weitverbreiteten Marienfeste brauchbar waren und achtete darauf, dass die liturgischen Anforderungen erfüllt wurden (der Priester rezitiert, während die Motette gesungen wird, die entsprechende Antiphon sotto voce). Er schuf so eine einzigartige, symmetrisch gebaute Folge von »öffentlicher« und »privater« Musik, die durch dramatische Klangkontrastierung und überraschende Vielfalt von Struktur und Stimmung von großartiger Wirkung ist. Dieser Aufbau war auch noch aus mindestens drei anderen Gründen einzigartig: Diese Vesper ist die einzige, die systematisch auf Psalmtönen aufgebaut ist (»composta sopra canti firmi«, wie eine Überschrift im Continuo-Stimmbuch lautet), und diese Psalmtöne werden als einheitsstiftendes Strukturierungsmittel benutzt; es war sodann der früheste Druck einer Vesper, der obligate Instrumente vorschrieb und diese in weltlicher, ganz moderner Weise behandelte; und drittens hatte diese Vesper mit ihrer Aufführungsdauer von eineinhalb Stunden in Größe, Pracht und Vielfalt nicht ihresgleichen.
Gerade diese letzten beiden Merkmale haben wahrscheinlich die Prokuratoren von S. Marco ganz besonders beeindruckt, die 1613 drauf und dran waren, 16 Instrumentalisten mit fester Besoldung anzustellen. Die von Monteverdi vorgeschriebenen obligaten Instrumente umfassen die typische Basilika-Besetzung mit Zinken, Posaunen und Streichern. Selbst seltenere Instrumente wie flauti und piffari waren auch in anderen venezianischen Kirchen verfügbar. Zudem war die Widmung an die Hl. Jungfrau angemessen und bedeutsam: War doch Venedig nach der offiziellen Legende am Fest Mariae Verkündigung gegründet worden und nahm deshalb die Stadt für sich die Tugenden und Attribute der Jungfrau in Anspruch: unverletzte Reinheit und Unsterblichkeit. In Kriegszeiten nahmen die Anrufungen der Jungfrau zu, wie auch die Zahl der Motetten wuchs, die auf marianische Texte komponiert und gesungen wurden. Venedig war die »stella maris«, der Meeresstern: eine typisch venezianische Assoziation, die Monteverdi nicht entgangen ist.
Vor allem aber wird die Prokuratoren der Glanz und die Pracht der Musik Monteverdis begeistert haben, die nach meiner Meinung ihren natürlichen Rahmen im reich verzierten, geheimnisvollen Raum der Markuskirche findet.
Bei den beiden Mitschnitten (vom 10. und 11. Mai 1989), die der vorliegenden Aufnahme zugrunde liegen, hatten wir uns als Ziel gesetzt, die musikalischen Ensembles so zur Entfaltung kommen zu lassen, wie es nach zeitgenössischen Dokumenten, Gemälden und Beschreibungen von Feierlichkeiten an bedeutenden Festtagen üblich war. Zu Monteverdis Zeit wurde der Beginn der Vesper durch das Läuten der Glocken des Campanile auf der Piazza verkündet, gewöhnlich eine Stunde nach Sonnenuntergang. Bei allen großen Festen, besonders aber in Anwesenheit des Dogen und der Signorie, wurde die Pala d’oro – das riesige, mit Gold und Edelsteinen besetzte Altarbild, das gewöhnlich verdeckt war – der Gemeinde geöffnet, und bei solchen Anlässen wurde die Vesper doppelchörig gesungen. Man hat früher geglaubt, die Chöre hätten antiphonal von den beiden Orgelemporen, den cantorie, gesungen; aber neuere Untersuchungen der zeitgenössischen Quellen haben ein ganz anderes, vielfältigeres Bild ergeben. Wenn der Doge die Kirche besuchte, saß er anscheinend entweder im Chor oder in der sechseckigen Kanzel rechts von den Stufen zum Altarraum. Verschiedentlich wird sie bigonzo genannt (wörtlich: der Kübel), pergola dei musici oder pulpitum magnum cantorum. Saß der Doge im »Kübel«, sangen die Sänger vom zweistöckigen Pult gegenüber (dem pulpitum novum lectionum), »obwohl es sehr eng ist darin«; und »wenn er im Chor sitzt, sind die Sänger im großen Pult«, d. h. im bigonzo. Bei wieder anderen Gelegenheiten standen die Sänger in zwei Chören am Hochaltar oder in medio ecclesiae auf den Stufen zum Altarraum. Oder aber, wie beim Besuch der vier japanischen Prinzen im Jahre 1585, »es war ein neues Podium für die Sänger gemacht worden«, vermutlich ebenfalls in medio ecclesiae.
Diese letzte Lösung haben wir für unsere Aufführungen übernommen. Wir stellten die Hauptgruppe der Sänger (doppelchörig geteilt) und Spieler (Streicher links, Zinken und Posaunen rechts) auf das Podium, und die Gesangssolisten (und die giovani di coro) in den bigonzo. David Bryant hat überzeugend nachgewiesen, dass die achtstimmigen salmi spezzati von zwei von Monteverdis Vorgängern an S. Marco, Willaert und Croce, responsorial von vier Vokalsolisten in einer Gruppe und den übrigen Sängern in einer zweiten vorgetragen wurden. Er sieht darin einen »Präzedenzfall für die systematisierte Kontrastierung von Solo- und Ripieno-Stimmen, wie sie Monteverdi in einer Nummer seines Vesper-Psalms benutzte«. Diese Aufteilung ist übrigens im Druck von 1610 nicht angegeben: wie so viele andere, heikle Dinge in der Aufführungspraxis muss man sie aus stilistischen Gegebenheiten erschließen.
Für die Solo-Motetten wurden beide Pulte benutzt; die Solisten wurden von Lauten oder Chitarroni (ihrem »beweglichen« Continuo) und von den Portativen begleitet, die im Kirchenschiff standen. Die drei »Seraphim« sangen von den gegenüberliegenden nicchie (Nischen) hoch oben im Obergaden. Auf diese Weise waren die privaten und die öffentlichen Dimensionen der Monteverdischen Musik auch räumlich berücksichtigt, denn die Akustik von S. Marco gestattet auf wunderbare Weise beides: Intimität und Großartigkeit. Beim Hymnus Ave maris stella mit seinen vielfachen Möglichkeiten für kontrastierende Stimm- und Instrumental-Ensembles gingen wir von dem eigenartigen Gemälde im Museo Correr (vgl. Abbildung S. 51) aus, das die Aufstellung der Musiker bei einem Papstbesuch in Venedig im späten 17. Jahrhundert zeigt: Die Chöre auf den gegenüberliegenden Orgelemporen, Instrumentalensembles und Consort-Sänger auf den Balkonrängen am Lettner – eine theaterähnliche Zurschaustellung des Musikapparates in der Privatkapelle des Dogen, der das Publikum im Kirchenschiff mitlauschend beiwohnen darf. Für das abschließende Magnificat wurden die Musiker wieder auf dem Podium aufgestellt, wobei die »Echo«-Solisten (vokal und instrumental) in einiger Entfernung aufgebaut waren, unsichtbar. Ihre Töne brachen sich an jedem Quadratzentimeter der herrlich reflektierenden Flächen der Basilika und ließen kein Fleckchen ungenutzt.
Die einmalig prächtige Akustik in S. Marco bietet ganz andere, grundverschiedene Aufführungsmöglichkeiten im Vergleich zu dem, was normalerweise möglich ist. Selbst bei den dortigen langen Nachhallzeiten bleibt die klangliche Klarheit erhalten, es gibt keine Unregelmäßigkeiten beim Abhall oder partiellen akustischen Ausfall. Die räumlichen Entfernungen scheinen die Töne nicht abzudämpfen. Für die Zuhörer einer Live-Aufführung ist S. Marco schon ein Gewinn an sich: ein architektonischer Rahmen, in welchem die der Musik innewohnenden theatralischen Dimensionen sich völlig verwirklichen können und wo Auge und Ohr höchste Befriedigung finden. Max Beerbohm hat einmal S. Marco mit einem »Östlichen Garten« verglichen, »der durch ein christliches Wunder versteinerte, als die Blumen zu verblühen begannen; ein Garten, in dem Mohammed sich ergangen hatte, dessen Geist dort noch immer lustwandelt.« Mir scheint, dass etwas von diesem orientalischen Geist in Monteverdis Vesper zu spüren ist und dass in der Basilica S. Marco die Musik ihre vollkommene, ihre natürliche Heimstatt hat.
II. ZUR FRAGE DER AUFFÜHRUNG
Die Druckausgabe von 1610 lässt für die gesamte Komposition wie für einzelne Teile verschiedene Möglichkeiten offen, die je nach Gelegenheit, Örtlichkeit und instrumentaler Besetzung durchaus ihre Berechtigung haben. Alle Entscheidungen, die für die vorliegende Einspielung in Bezug auf Notentext und Aufführungspraxis zu treffen waren, hatten eine grundlegende Voraussetzung: Monteverdis Vesper sollte möglichst so aufgeführt werden wie seinerzeit bei der prova in der Markuskirche. Diese Aufführung beruht also auf persönlicher Entscheidung und Überzeugung und kann und will deswegen in keiner Weise als ein exemplarisches Muster betrachtet werden. Angesichts der verwirrenden stilistischen Vielfalt und Vielschichtigkeit des Werks und der widerstreitenden Zeugnisse über damalige Aufführungsweisen, die sich aus zeitgenössischen Berichten eruieren lassen, muss man als Praktiker sehr rasch erkennen, dass sich jeglicher Dogmatismus bezüglich einer alleingültigen Lösung aufführungspraktischer Fragen umso mehr verbietet, je mehr man den Quellen nachspürt!
Zur Vorbereitung dieser Aufführungen in Venedig habe ich erst einmal Monteverdis Besetzungsvorschriften (z.B. zwölf obligate Instrumente im siebenstimmigen Magnificat) mit den Besetzungsmöglichkeiten verglichen, wie sie aus den Besoldungseinträgen in den Akten der Basilika für den 15. und 19. August 1613 und auch aus anderen Belegen über die Zahl der angestellten Marco-Instrumentalisten zu entnehmen sind. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Instrumentalkapelle aus 16 Instrumentalisten, die nur bei besonderen Festlichkeiten auf 22 erweitert werden konnte. Monteverdis Besetzungs-Minimum (wenn man jede Stimme nur einfach besetzt) entspricht dem typisch venezianischen Ensemble von sieben Streichinstrumenten: 2 violini, 4 viole da brazzo (von verschiedenem Tonumfang) und ein contrabbasso da gamba; dazu der übliche Bläsersatz aus drei cornetti und drei tromboni. Er verlangt außerdem zwei flauti und zwei fifari, die sich nicht in den Besoldungslisten von S. Marco finden. Wir haben für unsere Aufführung noch drei Blockflöten als Ergänzung zu einem fünfstimmigen Stimmwerk vorgesehen (für eines der ritornelli im Ave maris stella). Die Continuo-Gruppe – Monteverdi verlangt nur eine Orgel – haben wir ebenfalls um eine zweite Orgel zur Verdopplung des Cembalos, drei Instrumente der Lauten-Familie und einen Dulzian (das Renaissance-Fagott) erweitert. Alle diese Continuo-Instrumente werden in zeitgenössischen Aufführungsbeschreibungen der venezianischen Vesper hervorgehoben und waren an S. Marco um diese Zeit auch immer verfügbar, wobei der Einsatz des Cembalos für die Karwoche und besondere Feste vorbehalten blieb. In seinem Buch Del sonare sopra ’1 basso con tutti li stromenti (1607) empfiehlt Agostino Agazzari diese Instrumente noch zusätzlich »zu keinem anderen Zweck als dem, das Ensemble zu zieren, zu verschönern und also zu würzen.«
Der Klang dieses großen, vielfältigen Ensembles, in dem die Instrumente entweder allein, in passender Zusammenstellung oder alle gemeinsam spielen, wie es für Monteverdis virtuose Satztechnik so typisch ist, trägt sehr zur Pracht seiner grandiosen Vesper bei. Jedoch ist eine solche grundsätzliche Rekonstruktion erst in den letzten 25 Jahren möglich geworden. 1964 noch, als ich die Vesper zum ersten Mal aufführte, waren die Zinken zwar kräftig zu hören, neigten aber zur Unreinheit. Inzwischen sind junge, erfahrene Künstler herangewachsen, welche dieses magische, eindrucksvolle Instrument völlig beherrschen, dessen Klang für mich mehr als jedes andere charakteristisch ist für Monteverdis Instrumentalstil um 1610. Ebenso können heutzutage Streicher mit zeitgenössischen Instrumenten und früh-italienischen Bögen (die ungefähr nur zwei Drittel so lang sind wie die modernen und sich durch rascheren Ansatz und, wegen der dünneren Bespannung, durch einen erstaunlich intensiven Ton auszeichnen) Monteverdis ungemein verzierungsreichen Melodielinien völlig gerecht werden; und auch unter den Lautenisten gibt es jetzt mehrere, die stilgerecht improvisieren und mit Fantasie und Gespür Generalbass spielen können.
Bei den Sängern liegen die Dinge etwas schwieriger. Bestimmte Stimmen-Typen des 17. Jahrhunderts gibt es nicht mehr. Die Kirchenchöre bestanden damals ausschließlich aus Sängern. Die beiden Oberstimmen wurden von Knaben gesungen (die später als heute in den Stimmbruch kamen), von erwachsenen Falsettisten und von Eunuchen oder soprani eunuchi allein oder von allen zusammen. Auch im Venedig des 17. Jahrhunderts herrschte Mangel an männlichen Altisten. Monteverdis Alt-Partien liegen jedoch mehr oder weniger im Umfang heutiger Tenöre und seine Tenor- Partien im Bereich heutiger Bariton-Stimmen. Es mussten also kleine Umverteilungen vorgenommen werden, um die vokalen Partien in den Umfang unseres Monteverdi Choirs zu bringen, eines modernen gemischten Chores mit 28 Sängern; der Chor an S. Marco bestand damals aus ungefähr 22 Sängern und konnte bei Bedarf auf 34 erweitert werden. Wir haben an bestimmten Stellen, die besonders für die giovani del coro des Domes geeignet sind, noch 13 Sänger aus dem London Oratory Junior Choir dazugenommen. Und schließlich kommen noch acht von Monteverdi vorgeschriebene Solostimmen dazu.
Auch der Gesangsstil hat sich in den letzten 25 Jahren sehr verändert. Herrschte früher bei Monteverdi-Aufführungen in England immer ein unbefriedigender Kompromiss zwischen Opernattitüde und Rücksicht auf die kirchlichen Gegebenheiten, so ließ sich in den 70er Jahren allmählich eine größere historische Annäherung erreichen durch die Berücksichtigung leichterer, gerader, beweglicher Stimmen, die für Verzierungen besonders gut geeignet sind. Das brachte allerdings zuweilen die Gefahr mit sich, in leere Gesangsakrobatik auszuarten, anstatt den Textausdruck zu vertiefen. Schon 1608 hatte der Florentiner Komponist Marco da Gagliano im Vorwort zu seiner Oper La Dafne geschrieben: »Wo es der Sinn nicht verlangt, lasse man lieber alle Verzierungen beiseite, damit es einem nicht geht wie dem Maler, der Zypressen malen kann und sie nun überall anbringt.« (Monteverdis ausgeschriebene Verzierungen sind viel blühender und ausführlicher als die seiner Zeitgenossen, nur in den Kadenzen ließ er den Sängern alle Freiheit zu eigenen, geschmackvollen Fiorituren.) Stattdessen, fährt Gagliano fort, »bemühe man sich, jede einzelne Silbe ganz deutlich auszusprechen, sodass jedes Wort verständlich ist, und das sei da Hauptziel jedes Sängers beim Vortrag …« Wir jedenfalls haben dieses Ziel zu dem unseren gemacht und darüber nicht den Rhythmus und jene »gewisse vornehme, natürliche Ungezwungenheit des Singens vergessen (»una certa nobile sprezzatura di canto«), wie sie auch der Gesangsvirtuose Giulio Caccini empfahl.
III. ZU DEN EINZELNEN TEILEN
1. Deus in adiutorium / Domine ad adiuvandum
Wie aus dem Nichts beginnen die flehenden Anrufe des Zelebranten, und der Chor antwortet in akkordischem Satz mit der inständigen Bitte: »Herr, eile mir zu Hilfe!« Dagegen erklingt eine jubelnde Fanfare – die aus der Eröffnungs-Toccata zu Monteverdis erster Oper L’Orfeo (1607), vielleicht die eindrucksvollste, auf jeden Fall die knappste Opernouvertüre, die je geschrieben wurde. Monteverdi aber geht noch weiter: Zunächst hängt er einen neuen antiphonalen Abschnitt für Zink und Violine an (und schafft damit die Form Duett-Dialog, wie sie für die gesamte Vesper charakteristisch wird), und setzt sodann ansteckend tänzerische Ritornelle im Dreiertakt zwischen die Verse. Zum Schluss rundet er diesen grandiosen Eröffnungsteil ab mit dem Halleluja als Chortanz.
2. Dixit Dominus
Aus dem tiefen, rhythmisierten Choraleinsatz baut Monteverdi ein dramatisches Porträt des rachsüchtigen alttestamentarischen Gottes. Der volle Chor hat Partien im Falso-bordone-Satz (unmensurierte Chor-Deklamation), die zu vielfältigen tanzartigen, melismatischen Formen führen, denen die Streicher ein eigenes Nachspiel (ad libitum) anhängen. Die Solisten antworten mit melismatischen Duetten auf die einfache Intonation des Chorals, der zur Bassstimme der Klänge wird oder zur Gegenmelodie. Die düstere Stimmung des »Zorns und der Vernichtung« erreicht ihren Höhepunkt auf »conquassabit«, und Trost und Linderung erscheinen nun beim »de torrente«, Freude beim »propterea exaltabit«. Nach der Chor-Euphorie wird das Gloria unvermittelt in einer gänzlich anderen Tonart angestimmt, es klingt, als ob man den Priester oder Zelebranten in einer Seitenkapelle seinen Text in frommer Andacht beten hörte.
3. Nigra sum
Dies ist die erste Motette, die als Antiphon-Ersatz dient, offensichtlich eine geistliche Monodie auf einen Text aus dem Hohelied zum Fest der Heiligen Jungfrau. Kein Wunder, dass dieses Buch aus dem Alten Testament mit seinen stark erotischen Anspielungen später vom Patriarchen von Venedig als Textquelle für Motetten-Texte verboten wurde. Monteverdis rhetorische Textbehandlung verläuft ganz frei zwischen rezitierenden und ariosen Partien; kennzeichnend sind abrupte Übergänge zwischen Intensivierung und Ritardando. Beim Wort »surge« (»Steh auf«) misst der Tenor-Solist den gesamten Tonumfang seiner Stimme aus, während die melodische Linie zuweilen hart an den Grundfesten der Harmonik der Continuo- Gruppe rüttelt. Es ergibt sich ein deutlich hörbares Auf und Ab von emotionaler Spannung und eine vollkommene Übereinstimmung zwischen Text und Musik.
4. Laudate pueri
Der Satz trägt die Überschrift: »a 8 voci sole nel organo«, eine doppelte Vorschrift, die, im Gegensatz zur Solo-Tutti-Teilung, Solostimmen verlangt und Orgelbegleitung, d. h. Verzicht auf Verdopplung mit anderen Instrumenten. Wir müssen aber vorsichtig sein: Monteverdis Überschriften, so detailliert sie zuweilen sein können, sind inkonsequent. Sie schreiben nicht vor und schränken nicht ein. Mir scheint, dass er hier ein Mindestmaß von Musikern verlangt, kein Klangideal, sondern etwas, was für Kirchen, die nicht so üppig ausgestattet waren wie S. Marco, noch möglich ist. Stilistisch passt sich die Psalm-Vertonung vollendet den responsorialen Aufteilungen zwischen ausgeziertem Solo-Gesang und robusteren Chor-Einwürfen an. Auf ausgedehnte, virtuose Duette folgen rhythmisch vielfältige Cantus-firmus-Sätze, in denen der Choral vom Bass und durch zwei Transpositionen in die Oberquinte aufsteigend auch zur Biegsamkeit der Harmonik beiträgt. Der Choral erklingt in der Oberstimme des Vokalsatzes bei dem Vers »Der Herr ist erhaben über alle Völker«. Um diese Bewegung des durch den Tonraum wandernden Chorals zu verdeutlichen, haben wir, wie auch bei allen anderen Psalmen, die Instrumente behutsam verdoppelt. Monteverdi behandelt den Choral von Psalm zu Psalm jeweils verschieden, immer auf einfallsreiche und überraschende Weise. Und doch wirkt allein die Gegenwart der Psalm-Töne (an sich ein altehrwürdiger Kunstgriff) als das Vereinheitlichende in allen fünf dieser grandios gebauten Sätze.
5. Pulchra es
Auch dieser Text ist aus dem Hohelied genommen – Monteverdi behandelt ihn ungescheut als Liebes-Duett für zwei Sopranstimmen. Er gibt erst die Melodie der einen Stimme und führt dann die zweite ein, um den sinnlichen Ausdruck zu erhöhen. Jedes affektive, gefühlsbetonte Wort wird entsprechend mit einer Dissonanz oder einer Verzierung hervorgehoben. Aber jede Klangveränderung wird durch die Strukturwiederholungen und die parallel verlaufenden Bass-Ostinati zusammengehalten. Die Freiheit, mit der Monteverdi seine Soli behandelt, wirkt auffälliger, als sie in Wirklichkeit ist: Immer wieder wird sie in diesen »geistlichen Konzerten« von einem äußerst streng konzipierten Formaufbau im Zaum gehalten.
6. Laetatus sum
Die außergewöhnliche Leistung Monteverdis, diese umfangreiche Folge einzelner Sätze in seiner Vesper zusammenzuhalten, ist für uns schwer fassbar. Das Werk umfasst eine erstaunliche Vielfalt musikalischer Strukturen, und das zu einer Zeit, als es nur wenigen Komponisten gegeben war, einen musikalischen Gedanken auch nur länger als ein paar Seiten durchzuführen. Eine seiner Lösungen für dieses Problem ist es, Variationen als vereinheitlichendes Mittel zu benutzen und diese in einer Form oder Gestalt auf alle Sätze anzuwenden. Die Vertonung des Laetatus sum ist ein gutes Beispiel dafür. Monteverdi erweitert die Technik der sog. Strophenvariation, wie er sie in L’Orfeo eingeführt hatte, und entwickelt eine Reihe selbstständiger »Stufenbässe«. Sie sind es, und nicht etwa ein Cantus firmus (der nur ab und an erscheint), welche die Form dieser Psalm-Vertonung in der Abfolge von ABAC, ABAC, ABC (mit zusätzlichen Orgelpunkten für zwei melismatische Zwischenspiele zwischen den Abschnitten) regieren. Während er jedoch in L’Orfeo von der dramatischen Handlung profitieren konnte, die seiner Komposition eine Gesamtform verleiht, sah er sich hier einer Reihe liturgischer Texte gegenüber und, nach eigener Wahl, einer melodisch statischen Gruppe von Choralgesängen als Bindegliedern, was seine Leistung umso staunenswürdiger macht.
7. Duo Seraphim
Dieses ist die einzige Motette in der Vesper mit einem nicht-marianischen Text, der im frühen 17. Jahrhundert überaus beliebt war (Jeffrey Kurtzman hat noch weitere 22 Vertonungen außer Monteverdis entdecken können, die zwischen 1600 und 1615 gedruckt wurden), und mich stört sie in diesem marianischen Zusammenhang nicht. Es handelt sich um die bei Weitem am stärksten ausgearbeitete und anspruchsvollste aller vier Solo-Motetten; sie schafft eine einzigartige Aura mystischer Feierlichkeit, besonders wenn die Dreifaltigkeit durch einen Dreiklang versinnbildlicht wird, der sich »realistisch« in einen Einklang auflöst. Bei unserer Aufführung in S. Marco sangen die drei Tenöre, jeweils von einem eigenen chitarrone begleitet, von verschiedenen Bogen im Obergaden unterhalb der Kuppel, die mit Mosaiken der Seraphim geschmückt ist; ihre Stimmen schwebten hernieder in das Kirchenschiff, von dem aus der »irdische Chor« respondierte: »Von seiner Herrlichkeit ist die ganze Erde erfüllt.«
8. Nisi Dominus
Der Psalm ist angelegt für zwei Chöre mit jeweils eigenem Cantus firmus in der zweituntersten Stimme. Das allein setzt ihn schon ab von der responsorialen Haltung üblicher venezianischer cori spezzati. Die strenge, engführungsartige Imitation der beiden Chöre gleicher Stimmlage legt es nahe, zwei gleichartige antiphonale Chorgruppen einzusetzen. Um einen Farbunterschied in den Außenabschnitten zu erreichen, haben wir dem Chor I Streicher beigegeben und dem Chor II Zinken und Posaunen, während in den homophonen Binnenabschnitten die Stimmen nur mit Continuo- Begleitung singen, wobei allein der Cantus firmus in beiden Chören seine verdoppelnde Instrumentierung (Viola und Posaune) beibehält. Dadurch wird die herrliche Gegenrhythmik bei »surgite postquam sederitis«, »Domini filii: merces« und »inimicis suis« hervorgehoben, Einzelheiten, die üblicherweise unbeachtet untergehen. Diese Psalmvertonung, im Grunde relativ altmodisch, enthält jedoch eine auffällige Vorahnung auf Monteverdis späteren stile concitato (»kriegerischer« oder »erregter« Stil) bei dem Höhepunkt auf »non confundetur« im Mittelteil. Darauf folgt unmittelbar das brillante Gloria in c-Moll und die Wiederkehr des F-Dur bei der wörtlichen Wiederholung »Wie es war im Anfang …«
9. Audi coelum
Echo-Stücke waren im Italien des 17. Jahrhunderts in der Oper ebenso beliebt wie in der Kirche. Marco da Gagliano schrieb ein langes monodisches Stück mit solchen Wortspielereien in seiner Oper La Dafne, die zusammen mit Monteverdis Arianna 1608 in Mantua aufgeführt wurde. Vielleicht hat das Monteverdi auf den Einfall gebracht, den ersten Teil seiner hinreißenden Motette ähnlich zu beginnen. Die Assoziation Maria, Meer und Venedig (die »porta orientalis«) wird hier stark evoziert. Bezeichnenderweise stammt die einzige andere Vertonung dieses Textes, die uns in einem Druck von 1609 erhalten ist, von einem venezianischen Komponisten, von Ercole Porta. Entsprechend Monteverdis eigenem Beispiel in seiner späteren Vertonung desselben Textes haben wir die Textunterlegung so eingerichtet, dass das Wortspiel »mária« (die Meere) und »Maria« (Maria) ganz deutlich hervortritt. Die melismatisch ausgezierte Ermahnung des Tenors »Omnes« schien uns ein genügsam hinreichender Wink zu sein, hier den gesamten Klangkörper einzusetzen. Dem folgt dann ein ruhiges Meditationsgebet zur Hl. Jungfrau – das erste Mal, dass sie innerhalb dieses Werkes unmittelbar bei Namen genannt wird, und zugleich das gefühlsstarke Herzstück der gesamten Vesper-Komposition.
10. Lauda Jerusalem
In dieser Psalm-Vertonung verleiht Monteverdi der venezianischen Mehrchörigkeit noch eine Besonderheit. Wiederum ist die Behandlung des Cantus firmus der entscheidende Faktor. Er findet sich in stark rhythmisierter Gestalt in den beiden Tenor-Stimmen und nimmt damit gleichsam den Mittelgrund ein, während die beiden dreistimmigen Chöre durch einen lebendigen Motivaustausch aufeinander bezogen sind. Dadurch wird diese Komposition viel anregender als die üblichen Stücke im spezzato-Kontrapunkt. Die Tessitura der Sopranstimmen liegt hier höher als gewöhnlich und wird die gemischten Gruppen aus soprani eunuchi und Falsettisten damals gehörig gefordert haben; unseren Sopranistinnen bereitete sie keinerlei Schwierigkeiten. Dem Sopran ist in der folgenden großartigen Doxologie der Cantus firmus in langen Notenwerten anvertraut. In den jubelnden »Amen«-Rufen und -Antworten durch alle sieben Stimmen findet die Doxologie ihren Höhepunkt. Um zwei Jahrhunderte scheint Monteverdi damit einen kompositorischen Kunstgriff vorwegzunehmen, den erst Beethoven in seiner Missa solemnis ähnlich benutzt.
11. Sonata sopra Sancta Maria
Dieses außergewöhnliche Stück für acht instrumentale Einzelstimmen und Generalbass wird zuweilen mit den Canzoni e sonate von Giovanni Gabrieli verglichen, die 1615 postum in Venedig gedruckt wurden. Charakteristisch für Monteverdi erscheint es, dass er ein einziges melodisches Bruchstück (eine Doppelschlag-ähnliche Figur), bestimmte Schlüssel-Intervalle sowie eine Basslinie mit vielerlei Skalenbewegung als einheitsstiftende Grundlage für die gesamte motivische Entwicklung dieser Sonate benutzt – eine Technik, die Gabrieli völlig fremd ist. Gabrieli arbeitet sehr gern mit raschem antiphonalem Motivaustausch zwischen den Chören und geht deutlich von den einzelnen Abschnitten aus; Monteverdi dagegen ist mehr am melodisch-harmonischen Fluss des Ganzen interessiert, über die einzelnen Abschnitte in wechselnden Metren hinweg. Im Gegensatz zu Gabrieli gilt Monteverdis Hauptaugenmerk den Problemen der Verbindung von Text und Musik. Selbst in dieser Sonata gibt es, trotz aller Virtuosität im Instrumentalsatz und der offensichtlichen Sorgfalt in der Behandlung der Klangfarben, noch eine Vokalstimme (die wir von den giovani del coro singen ließen). Elfmal kommen sie mit ihrer Heiligen-Litanei zu Wort, jeweils ohne Rücksicht auf den Formaufbau der Sonata.
12. Ave maris stella
Hymnen-Vertonungen wurden im 17. Jahrhundert nur selten in die Drucke von Vesper-Musik aufgenommen. Dass Monteverdi diese grandiose Vertonung des Ave maris stella im Druck berücksichtigt, verrät seine Absicht, ein vollständiges musikalisches Offizium vorzulegen. Der erste Vers ist für Doppelchor gesetzt, mit dem Choral in der Oberstimme, ganz im traditionellen Stil der Musik des 16. Jahrhunderts. Die beiden folgenden Verse werden von den Chören einzeln gesungen, aber der Choral erklingt jetzt in Dreier-Mensur, mit den reizvollen Hemiolen, wie sie für die weltliche Musik so typisch sind. Diese Verse wirken wie die »Galliarde« nach der »Pavane« des ersten Verses. Ein instrumentales Ritornell im Tanzrhythmus trennt nun den Gesang der zwei abwechselnden Solisten, welche die Melodie der folgenden Verse vortragen, ehe der volle Chor mit der Musik der Eröffnungsstrophe zum letzten Vers wieder einsetzt. Die Instrumentalstimmen sind von Monteverdi nicht eigens bezeichnet. Aus Gründen wirkungsvollen Farbwechsels haben wir sie zwischen den verschiedenen Gruppen der Streicher, der Zinken und Posaunen, der Schalmeien mit Dulzian und der Blockflöten aufgeteilt. Nach einem Vorschlag von Praetorius, der übrigens die Erklärung dafür bietet, weshalb Monteverdi das Ritornell zwischen dem sechsten und siebten Vers auslässt, lassen wir im Schlussvers diese Instrumente allesamt die Vokalstimmen verdoppeln.
13(a). Magnificat a 7
In der Weise, wie Monteverdi Altes und Neues miteinander verbindet, ist die Vertonung des Canticums der verklärende Höhepunkt des gesamten Werkes. Wie die fünf Psalmen, der Hymnus und die Sonata erhält auch das Magnificat seine formale Einheitlichkeit durch den gesungenen gregorianischen Choral. Hier aber ist der Choral allgegenwärtig. Im ersten Abschnitt erklingt das »Magnificat« zu Beginn dreimal mit steigernder Intensität; das folgende »anima mea Dominum« wird vom ersten Sopran-Solisten über einem ganz einfachen »gehenden« Bass gesungen. Es folgen verzierte Duette für Tenöre, Soprane und Bässe; eine Reihe jubelnder Instrumentaleinwürfe; ein Dialog zwischen Ober- und Unterstimmen; opernhafte Szenen, die an L’Orfeo erinnern (mit paarweise besetzten obligaten Zinken und Violinen) und ein Chor-Schluss größten Ausmaßes.
Dies ist fraglos die üppigste und zugleich heterogenste Vertonung des Magnificat zu ihrer Zeit. Zwei Charakteristika erfordern noch besondere Erwähnung. Einmal die ungewöhnlich hohe Lage der obligaten Violinen, die in der vierten Lage spielen müssen, was Monteverdi sonst nie in seinen Violin-Stimmen verlangt. Das könnte bedeuten, dass er hier an violini piccoli gedacht hat, wie er sie in L’Orfeo vorschreibt. Andererseits wäre das die Lösung und zugleich die angemessene Klanglichkeit für das »Quia fecit« wie auch für das »Deposuit«. Und damit sind auch die Argumente entkräftet, die zur Unterstützung der modischen Theorie der Herunter-Transposition des ganzen Canticums vorgebracht werden. Zweitens sind zwar die anderen Doxologien der Vesper jede auf ihre Weise sehr eindrucksvoll; das abschließende Gloria des Magnificat aber ist das erhabenste überhaupt. Zwei Tenöre tauschen ihre verschlungenen Melodielinien über die ganze Länge des Kirchenschiffes aus. Vor diesem Hintergrund erklingt die reine Linie des Chorals, der von den giovani del coro auf den Altarstufen vorgetragen wird. Die Zeitlosigkeit des Chorals steht in lebendigem Gegensatz zu dem Hier-und-Jetzt der virtuosen Gesangsverzierungen, und dieser Kontrast schafft eine Atmosphäre, in der sich der vokale Höhepunkt des tiefsinnigen und großartigen Chorwerks voll entfalten kann.
13b. Magnificat a 6
Dieser Satz ist nicht die Coda, sondern eine Alternativ-Vertonung, die Monteverdi für den Fall vorgesehen hat, dass ein festliches Vesper-Offizium erforderlich ist und keine obligaten Instrumente zur Verfügung stehen. Verschiedene formale Eigenheiten lassen vermuten, dass dieser Satz die ursprüngliche Fassung war, zu der die siebenstimmige Vertonung eine »Parodie« darstellt. Man vergleiche zum Beispiel die beiden Basslinien beim »Quia respexit«. In der siebenstimmigen Fassung schaffen die sukzessiven Einsätze der jeweils paarweise geführten Schalmeien, Posaunen und Blockflöten zeitweise gewisse Verschiebungen im harmonischen Fluss. So entsteht der Eindruck, als ob diese Instrumente hinzugefügt worden seien, um das größere Magnificat zu bereichern und nicht umgekehrt, dass das kleinere Magnificat durch Reduktion aus dem größeren hervorgegangen sei. Ähnlich ist beim »Fecit potentiam« die siebenstimmige Fassung mit obligaten Violinen in der Tat eine kunstvollere Variante des Sopran-Duetts über derselben Basslinie in der kleineren Fassung. Allerdings hat Monteverdi bei zwei der bedeutendsten Sätze der sechsstimmigen Vertonung, »Et misericordia« und »Deposuit potentes«, kein musikalisches Material in die siebenstimmige Version übernommen. Beide Sätze verlangen virtuose Sopranisten, denen ebenso üppige Fiorituren zugeteilt sind wie den Tenören in der größeren Fassung. Die sechsstimmige Version aber ist alles andere als ein ärmliches Seitenstück zum überwältigenden siebenstimmigen Magnificat; sie ist in sich eine großartige und überaus erfindungsreiche, originell gearbeitete Komposition.
Text aus der originalen Veröffentlichung von 1990
 
* Es sieht beinahe so aus, als ob allein schon der Gedanke an ein »Meisterwerk« für die Anhänger der »Frühen Musik« fluchwürdig sei: er riecht wohl nach übertriebener Verehrung, nach etwas, was sich vom ursprünglichen Kontext entfernt und Gefahr läuft, unversehens sich späteren Aufführungspraktiken anzupassen. Diese an sich gesunde Bilderstürmerei hat unter anderem dazu geführt, den Messias zu entmythologisieren, eine ungigantomanische h-Moll-Messe, ein nicht länger saccharinsüßes Mozart-Requiem und überhaupt ein bewussteres Eingehen auf den Kontext zu schaffen, was unser Verständnis dieser Werke stark erweitert hat. Wenn es aber um Monteverdis Vesper geht, ein Werk, das in den 1960er und 70er Jahren großes Aufsehen erregte, dann nimmt diese Entmythologisierung besonders aggressive Formen an – man reißt das Werk Glied um Glied auseinander und setzt es sodann in kaum wiedererkennbarer Form neu zusammen. Ich stelle ernsthaft infrage, ob unser historisches oder ästhetisches Verständnis für diese Musik dabei gewonnen hat.

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