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Musik für unsere Zeit
Es heißt, bei der Aufnahme eines Musikstücks gehe es in der Regel eher darum, einen bestimmten Moment im Leben und der Entwicklung eines Künstlers einzufangen, als für alle Ewigkeit ein definitives »letztes Wort« zu einem Werk festzuschreiben. Dieses Diktum hat einiges für sich, doch für John Eliot Gardiner scheint es nicht zu passen; schon gar nicht, wenn es um J. S. Bach geht. Bei jeder seiner Aufnahmen hat man als Musikkritiker*in das Gefühl, es handle sich dabei um die ausgereifte Frucht der langjährigen, hingebungsvollen, neugierigen Beschäftigung eines kundigen Interpreten mit seinem Sujet. Jede von Gardiners Aufnahmen ist ein Statement, und wenn er ein Werk erneut einspielt, dann nur, weil er auch etwas Neues dazu zu sagen hat.
Bei der vorliegenden Einspielung der Johannes-Passion – seiner dritten dieses Werks – liegen die Dinge ein wenig anders, denn zunächst sollte sie gar nicht aufgezeichnet werden. Trotzdem macht sie deutlich, wie viel Gardiner auch diesmal zu sagen hat. Schließlich fängt diese Aufnahme einen ganz besonderen und sehr emotionalen Moment ein: Karfreitag 2021, als Monteverdi Choir und English Baroque Soloists nach einer langen coronabedingten Pause zum ersten Mal wieder gemeinsam musizierten, für einen Live-Stream aus dem Sheldonian Theatre in Oxford, das in den 1660er Jahren und damit kurz vor Bachs Geburt erbaut wurde. Die Interpreten hielten dabei alle Abstandsregeln ein, und Solisten wie Chor sangen auswendig. Das Ergebnis wirkt hoch emotional und aufgeladen durch die Rückwirkung dieser äußeren Umstände auf ein Werk, das bereits zur Zeit seiner Uraufführung 1724 als revolutionär galt dank seiner Mischung aus opernhafter Dramatik, theologischem Kommentar und gläubiger Kontemplation.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Deutsche Grammophon an diesem Projekt interessiert wäre, als ich es in Angriff nahm. Umso mehr habe ich mich gefreut, als es zu dieser Zusammenarbeit kam«, sagt Gardiner. »Im Grunde ging es mir nur um eine Unterbrechung dieser furchtbar langen Pause, in der es keine Konzerte gab, und zwar mit Musik, die je nach Kontext ganz anders wirken kann. Darum war es auch so wichtig, den richtigen Ort für diese Aufführung zu finden. Die Johannes-Passion ist ein mitreißendes musikalisches Drama und vielleicht noch packender als die später entstandene Matthäus-Passion. Sie gehört zu einem Zweig der musikdramatischen Entwicklung, der mit Monteverdis ersten Versuchen im Musiktheater beginnt und parallel verläuft zur Geburt der Oper. Hätten wir die Passion wie üblich in einer Kirche oder einem neutralen Konzertsaal aufgeführt, wäre etwas ganz anderes entstanden. Das Sheldonian Theatre ist ein weltliches Gebäude mit eigenen Ritualen, und mit seinen in den Raum hineinragenden, einander gegenüberliegenden Emporen erinnert es ein wenig an einen Gerichtssaal. Hier konnten wir Alex Ashworth im Zweiten Teil über William Thomas platzieren, sodass Pilatus bei seinem Verhör des gefangenen Jesus wirklich auf die Anklagebank hinabschaut. Nick Pritchard stand als Evangelist auf einer der beiden Kanzeln und konnte dort entweder zu mir blicken oder sich an Jesus oder den Chor wenden. Dadurch unterstrich er die verschiedenen Zeitebenen der Geschichte, denn gerade die Wechselwirkung dieser drei Ebenen – der biblischen Zeit des Passionsgeschehens, der Epoche des Lutheraners Bach und unserer heutigen Zeit, in der wir das Werk spielen und hören – macht den Reiz und die Wirkung dieser Passion aus.« Und er fügt hinzu: »Dass die Sänger ohne Noten agierten, war ein weiterer Pluspunkt. Und dank Dolby Atmos konnten wir auch die räumliche Wirkung einfangen, sodass alles unglaublich lebendig klingt.« Und das tut es wirklich.
Dabei spielte sicher auch das Weltgeschehen zum damaligen Zeitpunkt eine Rolle, wie sich Gardiner sichtlich bewegt erinnert: »Dieses Werk an diesem Ort und aus diesem Anlass im Frühjahr 2021 zu dirigieren, wird für mich immer untrennbar verknüpft sein mit den politischen Ereignissen von 2020 und 2021. Pilatus hat in dem Prozess gegen Jesus ja eine überaus unglückliche Doppelrolle: Einerseits will er von Jesus erfahren, was seine wirklichen Absichten sind und welche Gefahr er für den römischen Kaiser und das römische Imperium darstellt. Gleichzeitig hat er es mit einem wütenden Mob zu tun, der nach Jesu Blut schreit. Während der Vorbereitung im Januar 2021 war ich schockiert und sprachlos angesichts der Parallelen zum Mob der Trump-Anhänger, die das Kapitol in Washington stürmten.« Er seufzt. »Leider ist das alles hochaktuell: Ein völlig außer Kontrolle geratener Mob richtet verheerende Zerstörungen an, und ich glaube, das haben wir musikalisch ganz gut eingefangen.« Er lacht. »Nur den Eindruck von Gedränge konnten wir nicht erzeugen, weil ja alle so weit auseinander standen. Aber wir konnten den Unterschied spürbar machen zwischen einer Gruppe aus Individuen und einer Menschenmenge.« Und er fährt fort: »Natürlich stand hinter allem die Pandemie und das Bemühen, nicht an der Welt zu verzweifeln und an diesen furchtbaren Ereignissen, die so große Auswirkungen auf uns alle haben. Doch Bachs geistliche Musik versteht es auf unvergleichliche Weise, Trost zu spenden – egal, ob man sich mit Trauer und Tod konfrontiert sieht oder gerade eine Glaubenskrise durchmacht. Bach musste viele seiner 23 Kinder schon früh begraben, und zum Thema Sterben hatte er sicher etwas zu sagen. Mitunter gelingt ihm das in ergreifender Musik voller Schmerz und Pathos, die dabei aber stets hell und optimistisch bleibt. Ich habe beobachtet, dass sich selbst die Atheisten und Agnostiker unter meinen Freunden auf unerklärliche und seltsame Weise von Bachs geistlicher Musik getröstet fühlen.« Er macht eine kleine Pause, bevor er seinen Gedanken fortführt. »Ich habe gerade die Partitur vor mir, aufgeschlagen beim Bass-Arioso Nr. 19 ›Betrachte, meine Seel‹. Dieses Stück erzählt davon, wie ein Blick gen Himmel trösten kann und dass auf den Dornen, die Jesus stechen, ›die Himmelsschlüsselblumen blühn‹. Das setzt Bach im Gesang sehr lautmalerisch und plastisch um, und begleitet wird der Solist von den beiden Viole d’amore, Laute und Gambe. Danach folgt die zentrale Arie der gesamten Johannes-Passion, die große Tenorarie ›Erwäge‹ mit dem Regenbogen als Symbol für den Bund zwischen Gott und Noah, zwischen Gott und der gesamten Menschheit. In diesem Stück scheint die Zeit stille zu stehen, es ist ein kurzer Moment des Innehaltens im erbarmungslosen Vorwärtsdrängen der Musik auf dem Weg zur Kreuzigung. Und kaum ist die Arie zu Ende, da setzen die römischen Soldaten Jesus die Dornenkrone aufs Haupt und der wütende Mob ist zurück. Ich finde das unglaublich ergreifend und treffend.«
Also: Musik von packender Dramatik im Wechsel mit Musik der Ruhe und des Zuspruchs; Musik für Bachs Zeit, aber auch für unsere; Musik für die Gläubigen, in der auch ein nicht-religiöser Mensch Trost finden kann – all das gehört (und gesehen) in einem Live-Mitschnitt, der perfekt in die heutige Zeit passt, uns aber auch in der Zukunft etwas zu sagen haben wird.
Charlotte Gardner
Music for our time
Making a recording, they say, is more about capturing a snapshot of a particular moment in an artist’s life and development than it is about stamping down their definitive “final say” on a work; and there’s a lot of sense to that attitude. Yet, from a critic’s perspective, it never feels remotely applicable to anything John Eliot Gardiner releases, and even less so when we’re talking about his J. S. Bach. Always with Gardiner there’s the sense that what he commits to disc is the fully ripened fruit of sustained, loving, fascinated, performer’s-eye scholarship. It is a statement; and, if he re-records a work, then it’s because he has something further to say.
This recording of Bach’s St. John Passion – his third recording of the work, no less – feels a little different. He didn’t originally conceive it as a recording project at all. What does remain constant, though, is that it sees Gardiner with plenty to say, because the snapshot it captures is of a very particular, very emotional moment in time: Good Friday 2021, as the Monteverdi Choir and English Baroque Soloists reunited after a hiatus of Covid-shaped separation for a socially distanced live-stream from Oxford’s Sheldonian Theatre, which was built in the 1660s, just before Bach’s birth. And the performance itself, sung without copies from memory, feels supercharged with everything that those circumstances had to bring to a work which, in its own 1724 time, was revolutionary for its blending of almost operatic theatricality with theological commentary and invitations to worshipful contemplation.
“I had no idea that Deutsche Grammophon was going to be interested when I set off conceiving the concert, but I was very pleased that they then were,” begins Gardiner. “It was really a way of punctuating this awfully long gap between concerts with a repertoire which resonates differently depending on which circumstances you’re performing it in. The choice of the building was important, too. The St. John Passion is a very powerful music drama – arguably, it’s more intense than the later St. Matthew Passion, and in a line of dramatic development that really goes back to Monteverdi’s experiments in music drama and runs parallel to the birth of opera. Had we performed it as usual in a church or a neutral concert hall, that would have been one thing, but the Sheldonian is a secular building with its own rituals, and also the feel of a courtroom thanks to its jutting, facing balconies. This meant that, for the Roman trial in Part Two, we were able to place Alex Ashworth as Pilate actually physically above William Thomas as Jesus, looking down on the prisoner in the dock. Likewise, Nick Pritchard as the Evangelist was in one of the pulpits, where he pivoted, sometimes facing me, sometimes Jesus, sometimes addressing the choir. So he was actualizing the whole story as it happens in its three time frames, and indeed it’s the Passion’s constant connecting of all these different time frames – the biblical time frame, plus the narrating of the events, then Bach’s Lutheran revivalist time, then in our time every time we recreate it – that makes it so impressive and so magical.” He adds, “The singers’ freedom from the copies was a great boon, too. And what’s then so marvellous is that we have been able to use Dolby Atmos to capture the three-dimensional impression in a way that sounds unbelievably vivid.” It does, too.
The other major contributor to this performance’s particular vividness, though, was the moment in time itself. “To me,” Gardiner says with clear feeling, “the experience of conducting and performing the piece in that building, on that occasion, is inextricably tied up in my mind with the political events of 2020 and 2021. To return to the Roman trial, you’ve got Pilate in a very awkward dual role, trying to draw Jesus out as to what his mission really was and what threat it was to the Roman emperor/empire, but then having to be confronted by the mob just baying for Jesus’s blood. When I was preparing it in January 2021, just at the time of the Trumpian mob storming the Capitol in Washington DC, I found the parallels so shocking, so arresting.” He sighs. “So topical. A completely out-of-control mob wreaking havoc, and I think that we sort of captured that in a way.” He laughs. “The one thing one didn’t get in the actual room was a sense of the corporate mob, because everyone was so far apart with the social distancing! But you did get the sense both of an assembly of individuals and of the crowd.” He continues, “Then there was the pandemic, and the struggle that a lot of us have faced in trying to make sense of the world about us and of the events that impact on our lives. One of the greatest aspects of Bach’s religious music is the way he offers ‘Trost’ – the German word for comfort or solace – to people who are grieving, or on the verge of death, or having crises of faith. Having fathered twenty-three children and seen so many of them die in infancy, Bach had something pertinent to say on the subject, and time and time again he manages to do that in music of such poignancy and pathos, but also with a kind of optimism and radiance. I’ve found that even my agnostic or atheist friends seem able to draw comfort from his religious music in an inexplicable and strange way.” He pauses, albeit only for a split second, because he’s now on a roll. “I just happen to have the score here, and it’s fallen open at the No. 19 bass arioso, ‘Betrachte, meine Seel’. This is all about how a glance heavenwards can bring refreshment, and how from the thorns that are piercing Jesus are blooming the flowers of heaven. Bach uses the word ‘Himmelsschlüsselblumen’, which in English stands for both the primrose and the cowslip, so he’s word-painting it in the most beautiful way, while instrumentally colouring it with the two viola d’amores, lute and gamba. Then this leads into the central aria of the whole St. John Passion, the huge ‘Erwäge’ rainbow aria for tenor, referring to the covenant between God and Noah, God and humankind. This is all such a moment of suspended time and tranquillity in the music’s relentless drive towards the crucifixion – and no sooner is it over than the Roman soldiers are putting the crown of thorns on Jesus’s head and the mob are back – and I just find it incredibly poignant and apposite.”
So: music of turbulent drama counterpointed by music of tranquillity and comfort; music for Bach’s time but also for our own; music for the faith-filled in which the non-religious can find solace – all heard (and seen) via a live performance that, while sounding particularly appropriate for its time, will surely still be speaking to us far into the future.
Charlotte Gardner