“On The Wing” ist Stephan Micus' erste ausschließlich instrumentale CD seit 1990. Anders als in “Life” (2004), das einen japanischen Zen-Koan in Musik faßte, gibt es hier kein “Libretto”, keine durchgehende Geschichte. Wenn die Titel der Stücke auch die enge Verbundenheit des Musikers mit der Natur zu erkennen geben, so sind sie doch eher assoziativ als beschreibend zu verstehen. Dabei ist “On The Wing” durchaus als zusammenhängendes Ganzes konzipiert. “Für mich ist das wie eine Reise: Eine Bewegung, die anfängt, sich mehrfach verwandelt und schließlich zum Ende kommt”, sagt Stephan Micus über seine aus zehn Kompositionen zusammengefügte Suite. So leiten etwa die ersten vier Stücke vorbereitend zu dem groß besetzten fünften, “The Bride”, hin, das auch auf Grund seines zeremoniellen Gestus' eine zentrale Position einnimmt.
Unter den Instrumenten aus China, Tibet, Irak, Ägypten, Japan, Burma, Indonesien, Korea, Indien, Spanien, der Schweiz und den USA ragen drei gleichsam als Hauptakteure heraus: Sattar, das mit einer klingenden Metallsaite und zehn mitschwingenden Saiten bespannte Streichinstrument des Volkes der Uiguren aus dem Westen Chinas, Mudbedsh, ein aus dem Irak stammendes Rohrblattinstrument und schließlich die Hné, ein Rohrblattinstrument aus Myanmar (Burma), das Micus im Jahre 1974 unter schwierigen politischen Bedingungen zum ersten Mal besucht hatte und das ihm im Verlaufe von vier längeren Reisen besonders lieb geworden ist. “Die Hné ist ein sehr kraftvolles und durchdringendes Instrument, das vor allem im Freien benutzt wird. Jedes Mal wenn ich in Burma war, habe ich Unterricht bei Hné-Spielern genommen, deshalb war es mir so wichtig, die Hné nun endlich einmal in eine Komposition zu integrieren.”
Stephan Micus, geboren 1953, begann schon als Teenager seine ausgedehnten Erkundungsreisen, von denen er ein fast unüberschaubares Arsenal an Instrumenten mit nach Hause brachte. Vier von ihnen benutzt er auf “On The Wing” zum ersten Mal: Neben Hné und Mudbedsh ist dies zum einen die Mandobahar, ein sehr selten anzutreffendes gestrichenes Baßinstrument aus Indien, das Micus vor Jahrzehnten per Zufall in Kalkutta aufspürte, zum anderen das von den karibischen Steeldrums inspirierte Perkussionsinstrument Hang. Von Anfang an hat sich Micus nicht damit begnügt, sich vor Ort in die Spieltechniken der typischen Instrumente einweisen zu lassen, sondern hat immer auch versucht, die jeweiligen Kulturen in ihrer Komplexität zu begreifen und das alltägliche Leben zu erfahren.
Besonders intensiv setzte er sich während eines ausgedehnten Indienaufenthalts unmittelbar nach dem Abitur mit der Sitar auseinander. “Drei Jahre lang habe ich damals jeden Tag viele Stunden geübt”, sagt Micus. “1976 entstand dann mein Stück ‘As I Crossed A Bridge Of Dreams’ (ECM/Japo 60017), in dem ich zum ersten Mal die Sitar einsetzte, in Verbindung mit Gitarre und Gesang. Nach einer Pause von dreißig Jahren habe ich nun wieder ein Stück für das Instrument komponiert, mein erstes für Sitar solo. Das Problem für mich war immer, daß sie so eng mit der traditionellen indischen Musik und ihren größten Meistern verknüpft ist. Mir geht es aber vor allem darum, die Instrumente aus ihrem ursprünglichen Kontext zu lösen und eine ganz neue Klangwelt für sie zu schaffen. Genau dies ist bei der Sitar äußerst schwierig, da sie einen sehr eigenen, sofort erkennbaren Klang hat. Ich habe über Jahre mit unterschiedlichen Saiten und allen Arten von Umstimmungen experimentiert. Bis ich schließlich alle bis auf zwei Saiten heruntergenommen habe. Das brachte mich quasi zu den Elementarstadien der Sitar zurück, die in ihrer persischen Urform ja tatsächlich nur drei, vier Saiten hatte, ohne alle die Resonanzsaiten, die erst die Inder hinzugefügt haben.”
Häufig spielt Micus die Instrumente mit einer ganz eigenen, unorthodoxen Technik oder er modifiziert sie, um sie seinen Klangvorstellungen anzupassen. Sein besonderes Interesse gilt den unkonventionellen Kombinationen mehrerer Instrumente zu größeren Gruppen. “Sattar und Mudbedsh wurden bisher niemals zusammen gespielt, einfach weil sie aus sehr weit voneinander entfernten Ländern stammen, zwischen denen es kaum musikalischen Austausch gegeben hat. Aber da sie sich als Zusammenstellung von Streichern und Holzbläsern so natürlich miteinander verbinden, könnten sie geradezu zu einer klassischen Besetzung werden”, glaubt Stephan Micus.
Drei Jahre, von 2003 bis 2006, hat Micus in seinem Studio an “On The Wing” gearbeitet. “Das Aufnehmen meiner Stücke ist immer sehr arbeitsintensiv, da ich ja jedes Instrument selbst spiele und die Musik aus so vielen hintereinander aufgenommen Spuren besteht. Abgesehen von einigen Konzerten widme ich meine gesamte Zeit der Studioarbeit.” Nicht nur die technische Realisation der Mehrspuraufnahmen, auch Micus' Komponieren geht nach besonderen Regeln vor sich. “Ich halte meine Musik nicht in Notenschrift fest, sondern arbeite von Anfang an mit Aufnahmegeräten. Ich improvisiere so lange auf einem Instrument, bis ich auf eine Phrase stoße, die mir interessant erscheint. Eine solche Phrase wird dann zur Keimzelle von Entwicklungen und Ausarbeitungen. Durch die Präsenz der Aufnahmegeräte habe ich jederzeit einen Spiegel meiner Arbeit, auch nach einer längeren Pause. Das Liegenlassen und spätere Wiederanhören ist für mich ein ganz wichtiger Prozeß. Ich experimentiere mit Verknüpfungen und unterschiedlichen Zusammenstellungen und lasse das organisch wachsen.”
“On The Wing” ist Stephan Micus' 17. Aufnahme für ECM. Die CD-Packung enthält ein 16seitiges Booklet mit Hinweisen zu den Instrumenten und einer kompletten Diskographie.