Vladimir Ashkenazy | News | DIE CLAVIERSTÜCKE VON J. S. BACH

Vladimir Ashkenazy
Vladimir Ashkenazy

DIE CLAVIERSTÜCKE VON J. S. BACH

15.10.2014
Das nach dem Tode Johann Sebastian Bachs veröffentlichte Nekrolog befasst sich interessanterweise fast ausschließlich mit seinem Leben als Clavierspieler. Zwar werden kurz die Kantaten, Passionen und die Messe angerissen, doch dies erfolgt bei Weitem nicht so detailliert wie die Darstellung seiner Interpretenkarriere — vom Erlernen des Instrumentes als Kind bis zu seinem Werdegang als Erwachsener. Das Nekrolog berichtet in großem Umfang von seinem Erfolg als Interpret — auf dem Cembalo (er spielte für den sächsischen Regenten in Dresden), auf der Orgel (vor begeistertem Publikum) und sogar auf dem Hammerklavier (für den König von Preußen in Potsdam).  
Wie schwierig und komplex einige seiner Clavierstücke auch sind — besonders für ihre Zeit —, so bleiben sie doch wunderbar praktikabel, spielbar (mit Übung!) und sind in der Art, wie die Hände sich bewegen, physisch überaus begreifbar für die Interpreten. Es ist ein einzigartiges Repertoire. Die vier hier aufgenommenen Werke zeigen den wandlungsfähigen Clavierspieler Bach in seinen verschiedenen Rollen: als jungen Mann, der seine älteren Vorbilder imitiert (BWV 989), als tatkräftigen Arrangeur der neuen italienischen Konzerte (BWV 974) und als ausgereiften Komponisten von frappierender Originalität und Weltgewandtheit (BWV 831 und 971).
Ouverture (“Partita”) in h-Moll, BWV 831
Ouverture ist die von Bach gewählte Schreibweise, die natürlich seine ursprünglichen Käufer auf die modische französische Stilistik und Manier hinweisen sollten, welche die Tänze, Rhythmen und gesamte Ausstrahlung des Werkes prägen. Solche Käufer waren von großer Wichtigkeit für einen Komponisten, dessen Veröffentlichungen verblüffenderweise ausschließlich aus Claviermusik bestanden (keine Kantaten, Passionen, Messen, Konzerte, etc.). In seinem zweiten Band mit Cembalomusik, der Clavierübung, die er im Alter von 50 Jahren veröffentlichte, folgt die Ouverture auf das Italienische Konzert. Eine frühere Fassung, die seine Frau Anna Magdalena niederschrieb, steht in c-Moll; die Transkription nach h-Moll weist auf einen Tonartenplan hin, etwa, um so weit wie möglich vom F-Dur des Italienischen Konzertes entfernt zu sein.
Vom ersten Takt an wohnt dieser größten aller Barock-Claviersuiten eine elegische Qualität und Sinnlichkeit inne, die selbst im ungestümen Finale, dem Écho, nicht völlig abhandenkommt. Es wirkt so, als übertrumpfe Bach die französischen Meister (Couperin, Rameau), indem er ihre manière mit deutscher Intensität noch weiter verfeinert. In den charakteristischen Gesten und Rhythmen von Präludium, Fuge und Courante kommt die satte Färbung von Bachs ausgereiften Harmonien hervorragend durch, ebenso wie in den etwas leichteren beiden folgenden Tanzpaaren, den Gavotten und Passepieds (Tänzen jeweils im Zweier- oder Dreiertakt, erst in Dur, dann in Moll). Das emotionale Herzstück ist ohne Frage die Sarabande, ein überaus gefühlvolles Stück, welches ein Sehnen zum Ausdruck bringt, das kaum durch die wunderschönen Kadenzen in Schach gehalten werden kann. Darauf folgen die beiden Bourrées, von denen die erste laut und recht polternd daherkommt (eine Bourrée ist ein ländlicher französischer Tanz), die zweite leise und fließender. Der tänzerischste Tanz der Suite ist die Gigue, eine fein ausgearbeitete Studie sprunghafter Rhythmen, “französischer” als irgendetwas aus Paris. 
Aria variata alla maniera italiana, BWV 989
Bach war in seinen frühen Zwanzigern, eventuell sogar noch ein Jugendlicher, als er sich an dieser anderen fein ausgearbeiteten Studie versuchte und die zu jener Zeit bei deutschen Komponisten beliebte Air mit Variationen imitierte. Wenn man davon ausgeht, dass die von seinem älteren Bruder angefertigte Abschrift authentisch ist, dann verblüfft der italienische Titel, da sowohl die sanfte, choralähnliche Aria als auch die Verzierungen ihrer zehn Variationen typisch deutsch klingen. Die Umsetzung der Form ist überzeugend, und das Werk besitzt einen frischen, charakteristischen Klang. Interessanterweise zeigt sich die maniera italiana selbst hauptsächlich in den Titeln (Largo, Allegro, Andante, etc.), was bei Bach schon im frühen Alter normalerweise bedeutete, dass ihm ein italienisches Vorbild vorschwebte.
Konzert für Oboe und Orchester von Alessandro Marcello, transkribiert von J. S. Bach, BWV 974
Einige Konzerte von Alessandro Marcello, dem älteren Bruder des berühmteren Benedetto, waren vermutlich in dem großen Koffer voll italienischer Musik enthalten, die der junge Prinz Johann Ernst, der Halbruder des Herzogs von Weimar, für den Bach zu jener Zeit arbeitete, ca. 1713 in seine deutsche Heimat schickte. Da Bach auf diese Weise einen seiner lebensverändernden Augenblicke erlebte — die plötzliche Bekanntschaft mit Vivaldis spektakulären L’Estro-Armonico-Konzerten, die sich vermutlich im gleichen Koffer befanden — war der junge Prinz indirekt dafür verantwortlich, einige der aufsehenerregendsten Werke der westlichen Musik anzuregen: Bachs Violinkonzerte und die sechs Brandenburgischen Konzerte.
Ein erster Schritt mag die Transkription der importierten Konzerte gewesen sein: Sie bestanden aus einzelnen Stimmen, nicht vollständigen Partituren, so dass Bach sie herauskopieren musste, vermutlich Zeile für Zeile, und dabei Schritt für Schritt Solo-Clavierversionen für Spiel und Imitation erstellte. Marcellos Konzert in d-Moll wurde ursprünglich für Oboe und Streicher geschrieben und besitzt einen zurückhaltenderen ersten Satz, als es häufig bei venezianischen Konzerten der Fall war. Man könnte viele Stellen für das Werk Vivaldis halten, besonders die Harmonien in den ersten beiden Sätzen und den fließenden Schwung des dritten. Die wiederholten Akkorde und besonders die verzückte, frei fließende Melodie des Adagio lebten in Bachs Gedächtnis lange genug fort, um ihn zu etwas Ähnlichem in seinem Italienischen Konzert anzuregen. Bach besaß zu jener Zeit kein Cembalo mit zwei Manualen, und es ist heute interessanterweise eine “realistischere” Umsetzung als ursprünglich möglich, da man beim Spielen des Stückes auf einem Klavier die Solostimme herausheben kann.
Italienisches Konzert in F-Dur, BWV 971
Dies ist das erste der beiden großen Werke, aus denen Bachs Clavierübung besteht. Vor der französischen Ouverture (BWV 831) steht dieses italienische Concerto, welches die üblichen Markenzeichen des Genres mit seinen Transkriptionen der venezianischen Konzerte gemeinsam hat. Es handelt sich also um ein Solowerk (ohne Orchester), das aus drei Sätzen besteht (ein lyrisches Andante zwischen zwei überaus lebhaften esercizi) und voller Bezügen zu Vivaldi und anderen Meistern steckt, bis hin zu Details in der Notation. (Im ersten Satz gibt es beispielsweise keine Tempoangabe und er steht in 2/4: typisch italienische Konventionen.)
Es scheint, dass Bach die Prinzipien, die diesem Konzert innewohnen, seinen besseren Schülern beibrachte, doch man muss sich fragen, wie gut sie diese Eigenheiten begriffen haben mochten: ein robuster und kraftvoller erster Satz, eine einprägsame Melodie, die sich im Andante herausbildet (Melodie in der rechten Hand, repetitive linke Hand) sowie ein ziemlich draufgängerisches Finale, bei dem man sich einen virtuosen Solo-Violinisten vorstellen kann, der alle anderen antreibt. Dies ist ein bedeutendes Werk voller subtiler Anspielungen.

Weitere Musik von Vladimir Ashkenazy

Mehr von Vladimir Ashkenazy