Herbert von Karajan | News | Booklettext: Herbert von Karajan: Sibelius - Complete Recordings on Deutsche Grammophon (CD & Blu-ray Audio) - 16.7.2021 (VÖ) (DE/EN)

Herbert von Karajan
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Booklettext: Herbert von Karajan: Sibelius – Complete Recordings on Deutsche Grammophon (CD & Blu-ray Audio) – 16.7.2021 (VÖ) (DE/EN)

07.06.2021
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MAN FRAGE NICHT NACH DEM WARUM
KARAJANS WENIG BEKANNTE VORLIEBE FÜR SIBELIUS
Während Herbert von Karajan im englischsprachigen Raum schon seit vielen Jahrzehnten als Apologet der Werke von Jean Sibelius bekannt und geschätzt ist, so gehört seine ausgesprochen starke Affinität zu dem finnischen Komponisten in Deutschland und Österreich, seinen hauptsächlichen Wirkungsorten, zu den unbekannteren Facetten seines Schaffens. Seine Vorliebe rief mitunter selbst im direkten Umfeld Irritationen hervor: »Überraschend«, so sinnierte etwa der langjährige Intendant der Berliner Philharmoniker Wolfgang Stresemann, »dass der Österreicher Karajan sich zu dieser nordisch-harten, oftmals ungeformten, kantigen Musik hingezogen fühlt, in ihrer wuchtigen Größe, dunkel verschleierten Schönheit […].« Tatsächlich fand Karajan seinen Zugang zu dieser Musik offenbar gerade über diese begrifflich schwer fassbaren Qualitäten: »Er ist, auf seine Art, wie einer dieser erratischen Blöcke. Da liegen sie, kolossal, aus einem anderen Zeitalter; und niemand weiß, woher sie kommen. Man frage also besser nicht nach dem Warum. Das ist für mich Sibelius. Unergründlich«, bekannte er in einem Interview mit Richard Osborne.
Vor allem den späten der insgesamt sieben Symphonien von Sibelius wandte sich Karajan mit besonderem Nachdruck zu. Während ihm die Erste und die Zweite Symphonie noch »ein wenig zu nah an Tschaikowsky« schienen und er die Dritte überhaupt nie dirigierte, bezeichnete er die Vierte Symphonie in a-Moll von 1910/11 als »Meilenstein in der Musik«. Das viersätzige Werk stellt eine der expressivsten Schöpfungen von Sibelius dar und entstand in einer Zeit persönlicher Krisen, sollte aber dennoch primär musikalisch gedeutet werden: Die Symphonie sei nämlich, so Sibelius, nicht zuletzt »Protest gegen die gegenwärtigen Kompositionen. Nichts, absolut nichts von Circus um sie«. Einen gänzlich anderen Tonfall schlägt Sibelius in der Fünften Symphonie (1915–19) an, die – wie etwa Beethovens Eroica oder Bruckners Romantische – in der »heroischen « Tonart Es-Dur steht. Bemerkenswert an diesem dreisätzigen Werk ist die Genese aus einer ursprünglich viersätzigen Anlage, deren erste beiden Sätze erst in einer späteren Überarbeitung zum Kopfsatz der finalen Fassung verschmolzen wurden. Karajans erste Berliner Einspielung, die in der vorliegenden Edition enthalten ist, zählte kein Geringerer als Glenn Gould zu seinen Lieblingsplatten. Die 1923 vollendete Sechste Symphonie nimmt als das erste von Karajan öffentlich dirigierte Sibelius-Werk eine besondere Stellung ein: Nachdem er sie 1938 auf Einladung des schwedischen Rundfunks in Stockholm erarbeitet hatte, brachte er sie wenig später in Berlin mit den Philharmonikern zur deutschen Erstaufführung. Mit seiner gedehnten, mit großer klanglicher Intensität vorgetragenen Interpretation des ersten Satzes, die sich von strafferen Lesarten etwa Thomas Beechams abwendet, hat Karajan der Aufführungsgeschichte dieses Werks erstaunliche Facetten hinzugewonnen. Die Siebte Symphonie in C-Dur (1924) markiert schließlich den Höhepunkt der formalen Überlegungen des Komponisten zur Gattung: Sie ist einsätzig, obgleich in der Abfolge von rascheren und ruhigeren Abschnitten eine mehrsätzige Dramaturgie weiterhin durchscheint.
Zu den von Karajan mehrfach dirigierten Tondichtungen zählen das impressionistische Der Schwan von Tuonela (1895–1900) aus der Lemminkäinen-Suite op. 22, Finlandia (1899/1900), das ursprünglich für eine Benefizfeier zur Unterstützung der finnischen Presse entstanden war und in der Folge, vor allem durch die Hinzufügung eines Texts von Veikko Antero Koskenniemi (1941), zur inoffiziellen Nationalhymne Finnlands avancierte, sowie die Valse triste (1904), die auf Sibelius’ Bühnenmusik zu Arvid Järnefelts Drama Kuolema basiert. Diesen kleineren Kompositionen steht die späte Tondichtung Tapiola gegenüber: Als letzte große Komposition aus der Feder Sibelius’ wurde das Auftragswerk, dessen Titel sich auf den finnischen Waldgott Tapio bezieht, 1926 in New York uraufgeführt. Das durch seine konsequente, komplex ausgestaltete Monothematik und die kaum je erreichte atmosphärische Eindringlichkeit bestechende Werk gilt vielen als ein Hauptwerk Sibelius', und es nimmt ob des eingangs Gesagten nicht wunder, dass Karajan sich mit dieser Tondichtung besonders intensiv auseinandersetzte.
Das populäre Violinkonzert entstand 1903, konnte sich jedoch erst nach einer tiefgreifenden Überarbeitung, deren Letztfassung 1905 unter der Leitung von Richard Strauss in Berlin erstmals erklang, nachhaltig im Repertoire etablieren. Der spezifischen, sich über weite Strecken in tiefen Registern entfaltenden dunklen Klanglichkeit vor allem des ersten Satzes tritt im dritten Satz ein Schwung von beinahe archaischer Gewalt gegenüber, die der britische Musikschriftsteller Donald Francis Tovey einmal als »Polonaise für Eisbären« charakterisiert hat. Solist dieser Einspielung ist der französische Geiger Christian Ferras, mit dem Karajan mehrere der großen Solokonzerte (Beethoven, Brahms, Tschaikowsky) eingespielt hat.
Die Schauspielmusik zu Maurice Maeterlincks Pelléas et Mélisande, die 1905 erstmals aufgeführt und später zu einer neunteiligen Orchestersuite umgearbeitet wurde, ist das letzte Werk von Sibelius, das seinen Weg in Karajans Repertoire fand. Die Figur der geheimnisvollen Mélisande, die, erschüttert durch den Tod des vom eigenen Bruder erschlagenen Pelléas, am Ende der Erzählung selbst umkommt, hat auch andere Komponisten wie Claude Debussy oder Arnold Schönberg zu eigenen Werken inspiriert. Nicht unähnlich der Sechsten Symphonie, ist es auch hier der Beginn des Werks, an dem Karajan die vielleicht charakteristischsten Impulse seiner Interpretation gesetzt hat: Niemals zuvor hatte man den ersten Satz (»Am Schlosstor«), der vor allem einem britischen Fernsehpublikum als Titelmelodie der BBC-Sendung The Sky at Night vertraut ist, getragener und klanglich ausladender erlebt, als aus den Händen der philharmonischen Streicher unter Karajans Leitung.
Thomas Wozonig
 
 
DON’T ASK WHY
KARAJAN’S LITTLE-KNOWN LOVE OF SIBELIUS
In the English-speaking world, Karajan has for decades been known and valued as a champion of Sibelius’s music, whereas in Germany and Austria – his principal spheres of activity – his pronounced affinity for the Finnish composer is one of the lesser-known aspects of his work as a conductor. His predilection for Sibelius sometimes gave rise to bewilderment even among those who were closest to him: “It was surprising”, mused the Berlin Philharmonic’s longstanding intendant, Wolfgang Stresemann, “that an Austrian conductor like Karajan felt drawn to this harshly Nordic and often rough-tune and angular music, with its powerful grandeur and darkly veiled beauty.” But it was in fact through these conceptually largely undefinable qualities that Karajan gained access to this music, noting in an interview with Richard Osborne that Sibelius was “in his way like the erratic blocks. They are there, they are colossal, they are of another age; and nobody knows how they came there. So it is better not to ask why. This for me is Sibelius. And you never come to an end with him.”
Karajan was drawn in particular to the final four of Sibelius’s seven symphonies. The First and Second reminded him “a little too much of Tchaikovsky” and he never conducted the Third, but he described the Fourth Symphony in A minor of 1910–11 as a “milestone in music”. This four-movement symphony is one of its composer’s most expressive works. It was written at a time when Sibelius was suffering from a series of personal crises and yet it demands to be interpreted primarily in musical terms. Sibelius himself described it not least as a “protest against present-day music. It has absolutely nothing of the circus about it.” The composer struck a completely different note in his Fifth Symphony of 1915–19. Its key of E flat major is typically seen as “heroic”, as in Beethoven’s “Eroica” Symphony and Bruckner’s “Romantic” Symphony. Remarkable about this three-movement work is its genesis: it was originally in four movements, the first two of which were later reworked to become the opening movement of the definitive version. Karajan’s first Berlin recording, which is the one included in the present release, was among the favourite recordings of no less an artist than Glenn Gould. Completed in 1923, the Sixth Symphony occupies a special position as the first piece by Sibelius that Karajan conducted in public: in 1938 he was invited by Swedish Radio to prepare a performance in Stockholm and he gave its German premiere with the Berlin Philharmonic shortly afterwards. His intense and expansive reading of the opening movement sets it apart from the rather more rigid interpretations of conductors like Thomas Beecham and added astonishing facets to the work’s performance history. The Seventh Symphony in C major (1924), finally, marked the high point of the composer’s reflections on symphonic form: although it is cast in the form of a single movement, a succession of quicker and calmer sections continues to reveal a multi-movement dramaturgical structure.
Karajan conducted Sibelius’s tone poems on multiple occasions. Among these works were the impressionistic The Swan of Tuonela (1895–1900) from the Lemminkäinen Suite op. 22; Finlandia (1899–1900), which was originally written for a benefit concert in support of the Finnish press and which later, with the addition of words by Veikko Antero Koskenniemi (1941), became Finland’s unofficial national anthem; and the Valse triste, which is based on Sibelius’s incidental music for Arvid Järnefelt’s play Kuolema. In contrast to these relatively brief compositions is the late tone poem Tapiola, which was Sibelius’s last great work, a commissioned piece whose title refers to the Finnish sylvan deity Tapio. It was premiered in New York in 1926. Structured along complex lines, this rigorously monothematic piece impresses by dint of its almost unprecedented atmospheric intensity and is regarded by many as one of Sibelius’s finest works. In the light of what we noted earlier, it is no wonder that Karajan took a particularly close interest in it.
The popular Violin Concerto was composed in 1903 but it was only after far-reaching revisions that it was finally able to establish a place for itself in the mainstream repertory. This definitive version was premiered in Berlin in 1905, when the conductor was Richard Strauss. The dark sonorities of the work, more especially in its opening movement, are the result of the use of the instruments’ lower registers over long stretches but are contrasted in the final movement by a verve of almost archaic power, persuading the British writer on music Donald Francis Tovey to describe it as a “polonaise for polar bears”. The soloist in the present recording is the French violinist Christian Ferras, with whom Karajan also recorded the great violin concertos of Beethoven, Brahms and Tchaikovsky.
Sibelius’s incidental music to Maurice Maeterlinck’s play Pelléas et Mélisande was first performed in 1905 and later adapted as a nine-part suite. It was the last of the composer’s pieces to find its way into Karajan’s repertory. The character of the mysterious Mélisande is left shaken by the death of Pelléas at the hands of his own brother and dies in turn at the end of the piece. Other composers who have been inspired by the play include Debussy and Schoenberg. As with the Sixth Symphony, it is arguably at the start of the suite that Karajan left the deepest and most typical impression: never before had the opening movement (“At the Castle Gate”) – familiar to television audiences in Britain as the theme tune of the BBC’s long-running series The Sky at Night – sounded more measured or more sonorously intense than in the hands of the Philharmonic strings under Karajan’s direction.
Thomas Wozonig

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