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GESÄNGE »AUS TIEFER VERBUNDENHEIT«
Zehn Jahre lang war Sergej Rachmaninow nach dem Premieren-Debakel seiner Ersten Symphonie dem symphonischen Genre aus dem Weg gegangen. Das folgenschwere Trauma wird ihm, als er von Juli 1907 bis Januar 1908 seine Zweite Symphonie vollendete, noch lebhaft in Erinnerung gewesen sein. Anders als damals war er allerdings inzwischen alles andere als ein unerfahrener Debütant, sondern ein berühmter Klaviervirtuose, der als Begleiter der Bass-Legende Fjodor Schaljapin sowie als gefragter Dirigent am Moskauer Bolschoi-Theater in Erscheinung trat und nach dem phänomenalen Erfolg seines Zweiten Klavierkonzerts auch als Komponist längst etabliert war.
Ende 1906 hatte er mit der Familie seine Heimat Richtung Dresden verlassen, auf der Flucht vor den politischen und gesellschaftlichen Wirren, die in Russland nach der blutigen Niederschlagung der sogenannten »Revolution« von 1905 tobten. Zudem war Rachmaninow aufgrund seiner vielen Konzertverpflichtungen nicht mehr zum Komponieren gekommen, einem »wesentlichen Teil meiner Existenz, wie Atmen oder Essen«, weshalb er im freiwilligen Exil aus der Not eine Tugend machte: »Wir sehen keinen und kennen niemanden. Und auch selbst lassen wir uns nirgends sehen und wollen auch niemanden kennenlernen. Ich arbeite sehr viel und fühle mich sehr wohl.«
Die Petersburger Premiere der Zweiten Symphonie wurde ein voller Erfolg. Hieran konnte auch der ironische Titel wenig ändern, den die russische Presse dem Werk gegeben hatte – »Mütterchen Russlands gesammelter Weltschmerz in e-Moll« –, der natürlich wenig über die Qualität der Musik aussagt, in der immer wieder aus winzigen Motiven und ihren Varianten, Imitationen und Reminiszenzen eingängige epische Melodien entstehen. Dennoch trifft er einen wahren Kern, da hier im lyrischen Tonfall spätromantischer russischer Symphonik die unterschiedlichsten Facetten der Schwermut anzuklingen scheinen – angefangen vom dramatischen Kopfsatz, dessen düstere Stimmung sich erst am Ende etwas aufhellt. Es folgen ein transparentes Scherzo, das in einem abschattierten Choral mündet, ein Adagio voller Seufzermotive sowie ein Finale, das sich nicht vollständig von der Melancholie der vorangegangenen Sätze distanzieren kann. Die monumentale Breite des Werks führte dazu, dass es lange nur mit Strichen zu hören war, die nicht nur die Expositionswiederholung im Kopfsatz betrafen: So gab es in den 1930er und 1940er Jahren bei allen westlichen Aufführungen zwischen vier und 76 Kürzungen, bei denen bis zu 300 Takte Musik dem Rotstift zum Opfer fielen. Widerwillig ließ Rachmaninow Dirigenten wie Ormandy und Stokowski gewähren – aus Angst, das Werk könnte sonst komplett aus den Konzertsälen verschwinden.
In Dresden entstand auch die im April 1909 vollendete Toteninsel nach dem gleichnamigen Gemälde des Schweizer Malers Arnold Böcklin, das Rachmaninow in einer Schwarz-Weiß-Reproduktion in Paris in die Hände gefallen war. Das Motiv war um die Jahrhundertwende äußerst populär: ein kleines Boot, auf dem eine weiß gekleidete Gestalt vor einer zypressenbewachsenen Insel zu sehen ist, in deren steil aufragenden Felsen Nischen als Grabkammern eingelassen sind. Rachmaninow teilte bei seiner musikalischen Adaption den Bildinhalt in die drei auf Steigerung angelegten Teilbereiche »Meer«, »Gedenken« und »Tod«: Zu Beginn evozieren gedämpfte Streicher, Pauken, Harfe, Horn und tiefe Holzbläser im wiegenden 5/8-Takt den ruhigen Wellenschlag des Meeres an den Felsen. Mit jedem Ruderschlag rückt in der imaginären Szenerie die Insel näher, weshalb sich auch die Dramatik der Musik allmählich steigert. Doch bevor die oder der Tote zur letzten Ruhe findet, beginnt mit einer ätherischen Trauermelodie in den hohen Streichern ein lyrischer Mittelteil als letzter, leidenschaftlicher Abschied vom Leben. Auf dem Höhepunkt bricht die Musik allerdings unvermittelt ab und mündet nach drohenden Akkordschlägen in das leise Dies irae-Motiv – jene Sequenz der katholischen Totenmesse über den Tag des jüngsten Gerichts, die zu Rachmaninows festem Vokabular gehörte. Ein letztes Mal klingt die Trauermelodie an, nun in der Solo-Oboe, bevor das Ende wieder vom gleichmäßigen Ruderschlag des Fährmanns bestimmt wird: Im ewigen Kreislauf fährt er erneut aus, um einen Verstorbenen zur ewigen Ruhe zu betten.
1917, im Jahr der Oktoberrevolution, verließ Rachmaninow Russland für immer und führte fortan ein Leben wie auf einer nie enden wollenden Konzerttournee durch ganz Europa und die USA. Nur sechs seiner 45 Werke mit Opuszahl entstanden im Exil, darunter die Dritte Symphonie, die Rachmaninow in den Sommermonaten 1935 und 1936 in seiner Villa am Vierwaldstättersee skizzierte. Überdeutlich sind die Motive und Themen von typisch russischem Melos durchdrungen, was gleich für die klanglich verhangene Klarinetten-Eingangssequenz des Kopfsatzes gilt, die anschließend vom vollen Orchester weggewischt wird: ein choralartiger Gedanke, in dem Seufzermotive und Splitter des Dies irae anklingen und der im weiteren Verlauf leitmotivische Funktion übernimmt, »ein Gesang, der sich in einer Weise erhebt, als käme er aus der Ferne, aus der Stille, aus tiefer Versunkenheit«, so der russische Musikwissenschaftler Boris Assafjew. Mit diesem Motto beginnt auch das Adagio (nun im von der Harfe begleiteten 1. Horn), dessen scherzohafter Mittelteil in opulenter Orchestrierung an die Fantastik Ljadow’scher Märchenbilder denken lässt. Abgerundet wird das Ganze von einem tänzerischen Finale, in dessen zentralem Fugato die Verbindung von Eingangsmotto und Dies irae in seiner ganzen Tragweite deutlich wird. Die Premiere mit dem von Leopold Stokowski dirigierten Philadelphia Orchestra verlief enttäuschend, was Rachmaninow nicht sonderlich beeindruckte: »Persönlich bin ich fest davon überzeugt, dass das Werk gelungen ist«.
Harald Hodeige
SONGS OF SELF-ABSORPTION
Following the debacle of the first performance of his First Symphony, Rachmaninoff spent the next decade giving the medium a very wide berth. Although he completed his Second Symphony between July 1907 and January 1908, the trauma of its predecessor’s reception continued to haunt him. But one thing had changed: no longer an inexperienced debutant, he was now a famous virtuoso who had additionally appeared as the accompanist of the legendary Russian bass Fyodor Chaliapin, as well as being a much sought-after conductor at Moscow’s Bolshoi Theatre. He had also established a reputation for himself as a composer following the phenomenal success of his Second Piano Concerto.
At the end of 1906 he and his family had left Russia for Dresden in order to escape the political and social unrest following the bloody suppression of the so-called “revolution” of 1905. Moreover, his many engagements as a concert pianist had prevented him from composing. Composition, he declared, was “as essential a part of my being as breathing or eating”. In turn, this need explains why he made a virtue out of necessity in his voluntary exile: “We are living here like real hermits: we see no one, we know no one, and we go nowhere. I am working a great deal and feeling very well.”
The first performance of the Second Symphony took place in St Petersburg, and was a total success. Not even the ironical title that the Russian press had foisted on the work – “Little Mother Russia’s Collected World-Weariness in E minor” – could detract from this success, not least because it says little about the quality of the music, music that time and again turns tiny motifs and their variants, including imitations and reminiscences of them, into memorable and epic melodies. Yet it also contains a kernel of truth, in so far as the work appears to adopt the lyrical tone of the late-Romantic Russian symphony to explore the most disparate aspects of melancholy, starting with the dramatic opening movement whose sombre mood brightens only at the end. This is followed by a translucent scherzo that culminates in a nuanced chorale, by an Adagio that is filled with sigh-like motifs and by a final movement that is unable to distance itself completely from the melancholy of its predecessors. The symphony’s monumental length meant that for a long time it was only ever performed with multiple cuts that affected more than just the repeat of the exposition in the opening movement: throughout the 1930s and 1940s, for example, all performances in the West included between four and seventy-six cuts resulting in the loss of up to 300 bars of music. Rachmaninoff reluctantly allowed conductors such as Ormandy and Stokowski to take a red pencil to his score, so afraid was he that the work would otherwise disappear completely from the concert hall.
While in Dresden, Rachmaninoff also completed his symphonic poem Isle of the Dead in April 1909 – he had come across a black-and-white reproduction of Arnold Böcklin’s similarly titled painting in Paris in the summer of 1907. The Swiss painter’s theme was immensely popular around the turn of the century: in the prow of a small boat stands a figure shrouded in white who can be seen against the background of an island covered in cypresses. The rocky cliffs of the island rise steeply out of the surrounding sea and contain niches that suggest burial chambers. Rachmaninoff’s musical adaptation translates the painting’s contents into three sections of increasing intensity: “Sea”, “Memories” and “Death”. At the beginning con sordino strings, timpani, harp, horn and low woodwinds evoke the waves beating calmly against the base of the cliffs in a gently rocking 5/8 metre. With each stroke of the oars, the music becomes more and more dramatic, as the island seems to draw closer and closer in the listener’s imagination. But, before the dead person can find his or her final resting place, a lyrical middle section begins with an ethereal funeral melody in the higher strings, suggesting a final and impassioned farewell to life. At its climax, however, the music abruptly breaks off and after a series of menacing chords it culminates in a quiet statement of the Dies irae, the sequence from the Catholic Mass for the Dead that refers to the Day of Judgement – and a motif that was a regular part of Rachmaninoff’s musical vocabulary. The funeral melody is heard one last time, now in the solo oboe, before the end of the work is once again dominated by the regular beat of the ferryman’s oars as he sets out again on his endlessly circular voyage to bring another dead soul back to the island and to its promise of rest everlasting.
Rachmaninoff left Russia for good in 1917, the year of the October Revolution, and spent the rest of his life touring endlessly and giving concerts throughout Europe and the United States. Only six of his forty-five numbered works were written in exile, and these included his Third Symphony, which Rachmaninoff sketched at his villa on Lake Lucerne during the summer months of 1935 and 1936. Its motifs and themes are clearly permeated by a typically Russian kind of melody, which is certainly true of the opening movement’s initial sequence. This is entrusted to the veiled sonorities of the clarinets before then being swept away by the full orchestra with a chorale-like passage in which sigh-like motifs and fragments of the Dies irae are heard and which gradually assumes the function of a leitmotif. It is a theme which in the words of the Russian musicologist Boris Asafyev resembles “a song that begins in a way that implies that it comes from afar, from silence and from a state of profound self-absorption”. The Adagio, too, begins with this motto, now stated by the first horn to the accompaniment of the harp. The sumptuously scored and scherzo-like middle section of this movement recalls the imaginative realm of one of Lyadov’s fairytale portraits. The work ends with a dancelike finale whose central fugato combines the opening motto and the Dies irae, revealing the latter’s full range of emotion. The Third Symphony received its first performance from The Philadelphia Orchestra under Leopold Stokowski in November 1936 and proved a disappointment – not that Rachmaninoff himself was much exercised by this reaction: “Personally I am firmly convinced that this is a good work. But – sometimes composers are mistaken too! Be that as it may, I am holding to my opinion for now!”
Harald Hodeige