Seit über einem Jahrzehnt treffen sich Yannick Nézet-Séguin und das Chamber Orchestra of Europe (COE) allsommerlich im mondänen Kurort Baden-Baden. 2021 führte ihre Arbeit dort zu einer viel beachteten Einspielung der Symphonien Beethovens für Deutsche Grammophon. Grundlage für die Aufnahme des Zyklus war erstmals die neue wissenschaftlich-kritische Gesamtausgabe der Werke des Komponisten (»Eine unglaubliche Energie geht von Nézet-Séguins Dirigat aus … im Minutentakt bricht sich die Vitalität Bahn, das Gefühl für Elan und Optimismus ist schlicht unwiderstehlich« – Forum Opéra).
Im folgenden Sommer wurde Nézet-Séguin Künstlerischer Leiter von La Capitale d’Été. Das von Festspielhaus-Intendant Benedikt Stampa initiierte Festival erinnert durch seinen Namen an die Blütezeit der Stadt im 19. Jahrhundert, es ist nach einer Beschreibung im damaligen Reiseführer des französischen Autors Eugène Guinot benannt. Europa habe zwei Hauptstädte, schrieb Guinot – Paris im Winter, Baden-Baden im Sommer. 2022 und 2023 widmeten sich Nézet-Séguin und das COE während ihrer Aufenthalte in Baden-Baden dem Komponisten Brahms und spielten seine vier Symphonien ein. Deutsche Grammophon veröffentlicht nun am 12. Juli 2024 Johannes Brahms: The Symphonies digital und als 3-CD-Set. Der dritte Satz der Zweiten Symphonie ist ab dem 7. Juni als Stream erhältlich, der dritte Satz der Dritten Symphonie erscheint am 21. Juni. Beide werden von Performance-Videos begleitet.
Den Fokus auf Brahms zu legen war passend. Der Komponist verbrachte mehrere Sommer in dem Dorf Lichtenthal vor den Toren Baden-Badens, unweit des Hauses seiner Freundin Clara Schumann. In diesen Jahren arbeitete er an vielen seiner bekanntesten Kompositionen, darunter auch die ersten beiden Symphonien. Die Erste kostete ihn Jahre der Auseinandersetzung, der Riese Beethoven saß ihm im Nacken. Die Zweite floss ihm leichter aus der Feder. Aufgrund der engen Verbindung von Werk und Ort übertrug das Festival die Aufführung des COE auf einer Leinwand im Innenhof der Abtei Lichtenthal.
Wohl inspiriert durch die musikhistorische Bedeutung des Ortes verleiht Nézet-Séguin seiner Lesart aller vier Werke eine bemerkenswerte Vitalität. Er verjüngt das Repertoire, indem er auf schnellere Tempi setzt, und zwar so, dass er die gewohnte Aufführungszeit um mehrere Minuten verkürzt. Doch geht es Nézet-Séguin nicht um Geschwindigkeit um der Geschwindigkeit willen, sondern um die emotionale Wirkung der Musik. Im gelungenen Kontrast hierzu stehen seine Interpretationen der langsamen Sätze, insbesondere des Andante der Dritten, in dem er eine idyllische Landschaft beschwört, als flöße er der Musik eben jene »Art von Sehnsucht« ein, die Brahms einmal für Baden-Baden empfand.
In der Aufnahme spiegelt sich auch die enge und produktive Beziehung zwischen Nézet-Séguin und dem COE. 2008 arbeiteten sie erstmals an einem Projekt zusammen, 2017 wurde der Dirigent Ehrenmitglied des Orchesters. Johannes Brahms: The Symphonies ist die jüngste Ergänzung einer DG-Diskografie, in der sich bereits hochgelobte Gesamteinspielungen der Symphonien von Schumann, Mendelssohn und Beethoven finden sowie fünf Mozart-Opern (Così fan tutte, Die Entführung aus dem Serail, Le nozze di Figaro, La clemenza di Tito und Die Zauberflöte), außerdem Prokofjews Violinkonzerte Nr. 1 und 2 und Mozarts Klavierkonzert Nr. 20.
Orchester und Dirigent sind auf dem Festival La Capitale d’Été 2024 zu erleben, das vom 13. bis 21. Juli stattfindet: Am 16. Juli dirigiert Nézet-Séguin die Sommergala und gibt damit sein Bühnendebüt am Pult des London Symphony Orchestra, mit dem er den gefeierten Soundtrack zum oscarnominierten Bernstein-Biopic Maestro von Bradley Cooper aufgenommen hat. Zu erleben ist auch Mezzosopranistin Joyce DiDonato, die überdies am 19. Juli zusammen mit Mitgliedern des COE in »Yannick Nézet-Séguin & Friends« auftritt und am 20. Juli mit dem gesamten Orchester unter Leitung des Dirigenten ein Mahler-Konzert gibt. Zum Abschluss des Festivals spielen das COE und Nézet-Séguin am 21. Juli Beethovens Klavierkonzerte Nr. 4 und 5 mit dem Solisten Seong-Jin Cho sowie Schuberts »Unvollendete«.