Clare Maguire
“Light After Dark”
Nichts ist so wichtig wie die Stimme. Sie ist das zentrale Element. Bei Clare Maguire steht sie ganz klar im Mittelpunkt: Diese große, laute, unglaublich satte Stimme. Eine Stimme, die durchaus schon ein wenig gelebt und bereits die eine oder andere Erfahrung gemacht hat; in der dank ihrer rauchigen Note auch etwas Mysteriöses, Rätselhaftes mitschwingt. Diese Stimme war es auch, der (wie dem Gesang der Sirenen) letztlich keiner widerstehen konnte: sie lockte immer mehr Leute auf ihre MySpace-Seite, die Zugriffszahlen explodierten förmlich. Und dann dauerte es nicht lange, bis die ersten Produzenten bei ihr anklopften und mit Clare arbeiten wollten. Womit jedoch keiner von ihnen gerechnet hätte: Dass diese unfassbar große Stimme einem absolut schmächtigen Mädchen aus Birmingham gehört, dessen Familie ursprünglich aus Irland stammt.
“Ich hatte schon immer die lauteste Stimme von uns allen”, berichtet Clare Maguire lachend. “Ich bin früher immer auf unseren Familienfesten aufgetreten. Ich fand das großartig. Und wenn ich in der Schule gelangweilt war, bin ich einfach aufgestanden, hab mich auf den Tisch gestellt und etwas gesungen. Die Lehrer dachten manchmal schon, dass ich nicht alle Tassen im Schrank hab, aber so drücke ich mich nun mal aus: Ich erzähle meine Geschichten in Songs und schaue dann, wie die Leute darauf reagieren. Wenn ich einfach nur spreche, habe ich viel größere Schwierigkeiten damit, meine Gefühle auf den Punkt zu bringen.”
Ihren ersten eigenen Song komponierte Clare bereits als Siebenjährige; sie kann sich nicht daran erinnern, jemals einen anderen Traum gehabt zu haben. Allerdings war die Musik für sie keine Karriereoption, die man sich einfach so aussucht oder anpeilt. Es war keine Abkürzung zum Ruhm. Die Musik war kein Berufswunsch für Clare. Sie war Berufung.
Ihre irischen Großeltern (väterlicherseits) waren irgendwann in die englischen Midlands gezogen, die Gegend um Birmingham also, und hatten dort ein Bauunternehmen gegründet. Die Eltern ihrer Mutter hingegen waren Clubbetreiber und veranstalteten Konzerte in der Gegend. Dazu hatten ihre Großeltern jeweils fünf Kinder – was bedeutet, dass Clare bestimmt gut 50 Cousinen und Cousins in Birmingham und im Süden von Irland hat. “Ja, meine Familie ist ganz schön groß”, meint sie. „Das bedeutet aber auch, dass unsere Familienfeste ganz schön groß angelegt sind: viel Alkohol und viel, viel gute Musik! Sie alle sind in irgendeiner Form kreativ: Die meisten machen Musik, aber manche spielen auch Theater oder sind Geschichtenerzähler, Schauspieler oder Autoren."
Ihr Vater hörte im Auto früher stets dieselben kitschigen Popnummern; die vermeintlichen Hits liefen rauf und runter, und der kleinen Clare blieb somit, genau wie ihrem großen Bruder und ihrer kleinen Schwester, mit denen sie sich die Rückbank teilte, keine andere Wahl, als diese Einflüsse in sich aufzusaugen. Zugleich wuchs sie jedoch auch mit dem traditionellen irischen Liedgut ihrer Mutter auf – diese Stücke bilden gewissermaßen das Fundament des düsteren, poetischen Einschlags ihrer heutigen Kompositionen. Schon als 13-Jährige war Clare in den Plattenläden der Stadt ein Stammgast; hier entdeckte sie zum Beispiel Johnny Cash, Bob Dylan, John Lennon, Howlin’ Wolf oder auch ihr absolutes Idol, die Gospel-Queen Sister Rosetta Tharpe. “Ich trug damals Zeitungen aus, und jeden Pfennig, den ich damit verdiente, investierte ich sofort in die CD-Empfehlungen der Plattenverkäufer. So nahm das mit der Musik, diese ganze Leidenschaft also, noch ganz neue Dimensionen an.”
Nach dem 17. Geburtstag wurde ihr in der Schule jedoch ins Gewissen geredet: Sie solle ihren Traum vom Durchbruch als Sängerin doch bitte endlich aufgeben und sich stattdessen lieber mal auf die anstehenden Prüfungen konzentrieren. Anstatt diesen Rat zu befolgen, stapfte Clare wütend ins Büro des Schulleiters, um sich bei dem zu beschweren und daraufhin die Schule zu schmeißen. Für sie war das die einzig vernünftige Entscheidung: Sie wusste einfach zu genau, wo sie hinwollte, und sie war bereit, alles dafür zu geben, um an diesen Punkt zu gelangen.
Kein leichter Weg übrigens: Tagsüber jobbte Clare in irgendwelchen Läden, Bars und Restaurants, um genügend Geld für den geplanten Umzug nach London zu verdienen, wo sie sich vollkommen auf ihre Musik konzentrieren wollte. Nachts saß sie stundenlang vorm Rechner und knüpfte Kontakte über MySpace – bis ihre Seite schließlich unglaubliche 1,5 Millionen Zugriffe verzeichnete, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bloß erste Demoversionen ihrer Songs hochgeladen hatte. Nach einigen Monaten mit wenig Schlaf und vielen nächtlichen Klicks vor dem Screen meldeten sich auch die ersten Produzenten und andere Musiker bei ihr: Sie wollten mehr hören und mit Clare ins Studio gehen, also pendelte sie ab sofort zwischen den Midlands und London hin und her, übernachtete in schäbigen Absteigen, schlief auf Fußböden, lernte immer neue Leute kennen und feilte zeitgleich an ihrem Können als Songschreiberin und Sängerin. Eine recht einsame und deprimierende Zeit, wie sie heute zu berichten weiß: “Und doch kam mir ein Gedanke dabei niemals in den Sinn: Dass es nicht klappen könnte. Schon als kleines Mädchen war mir klar, dass nur dieser Weg der richtige für mich sein würde.”
Das wiederum erkannten auch diverse Vertreter der Musikindustrie, nachdem sie die eingangs erwähnte Stimme von Clare gehört hatten. Genau genommen lieferten sich die unterschiedlichen Labels eine regelrechte Gebotsschlacht, bis die damals 20-Jährige schließlich bei Universal unterzeichnete. In den meisten Märchen und bei sämtlichen Talentshows im Fernsehen wäre damit wohl der Punkt gekommen, an dem die Geschichte endet: Eine Woche später steigt die Single dann in die Charts ein und das war’s. In der Wirklichkeit jedoch, sprich: im Leben einer Künstlerin, die mehr vorhat, als ein paar Stücke aus der Konserve einzusingen, beginnt die harte Arbeit an diesem Punkt erst.
Bei Clare sah das so aus: Sie reiste zwei Jahre lang um die Welt, komponierte immer wieder neue Songs, machte Aufnahmen und suchte permanent nach demjenigen Sound, der zu ihren Stücken passte. In Los Angeles traf sie sich mit Rick Rubin, der ihr zunächst unveröffentlichte Demo-Aufnahmen von Johnny Cash vorspielte, um sie danach zur Konzertprobe von Leonard Cohen einzuladen. In New York wurde sie daraufhin von Jay-Z in dessen Restaurant auf ein paar Drinks eingeladen und erfuhr von ihm, dass sie “das Zeug zum absoluten Star” habe, das könne er an ihren Augen ablesen…
Wieder andere Vertreter der Popwelt boten ihr Songs an: Jarvis Cocker zum Beispiel, oder auch der Rapper/Sänger Plan B. Und so dankbar sie für diese Angebote auch war, konzentrierte sich Clare doch lieber darauf, den richtigen Partner zu finden, mit dem sie ihre eigenen Stücke umsetzen konnte: “Das waren schon sehr schmeichelhafte Erfahrungen, das auf jeden Fall, und es war toll, all diese Leute zu treffen”, so ihr Kommentar. “Trotzdem musste ich letzten Endes einfach das tun, was sich für mich persönlich richtig anfühlte. Nichts ist wichtiger, als sich selbst treu zu bleiben.”
Als sie mit Fraser T. Smith (bekannt für seine Arbeit mit Britney, Cee-Lo, Tinchy Stryder, Ellie Goulding und James Morrison) dann schließlich den geeigneten Kreativpartner gefunden hatte, sprudelten die Songideen für “Light After Dark”, ihr kommendes Album, förmlich aus ihr heraus: Manche der Stücke entstanden innerhalb eines einzigen Tages, und was die Gesangsaufnahmen betraf, hielten die beiden oftmals sogar einfach an der ersten Version fest, um die einzigartige Energie dieser Sessions zu bewahren.
“Mir geht es immer nur um das jeweilige Gefühl”, sagt Clare, die ihre Songs schließlich als Co-Produzentin gemeinsam mit Smith aufnahm. “Ich wollte ein Album aufnehmen, bei dem einen jeder Song auf ganz unterschiedliche Art anspricht und bewegt: mal ein Stück für den Kopf, dann ein Song fürs Herz oder einer, der direkt in die Beine geht, wenn man dazu tanzen muss. Ich wollte etwas kreieren, das für jeden etwas bereithält.”
Auch inhaltlich ist die Palette groß: Mal ist es der Tod ihres Helden Michael Jackson (“The Last Dance”), der sie inspiriert hat; dann geht es um die Magie der Kindheit (“The Happiest Pretenders”) oder, ganz konkret, um die Einsamkeit ihrer ersten Monate in London (wie im Fall des dennoch optimistisch klingenden Gospel-Stücks “Break These Chains”). Insgesamt hat Clare Maguire auf “Light After Dark” Songs versammelt, die absolut zeitgemäß und zugleich vollkommen zeitlos klingen.
Das melancholische Echo des irischen Liedguts, mit dem sie einst aufwuchs, ist deutlich zu vernehmen, wie auch die Spuren all der unterschiedlichen Künstler, die ihr Songwriting im Laufe der Jahre geprägt haben: die keltischen Einflüsse einer Sinead O’Connor, der unverwechselbare Gesang von Annie Lennox, die eigentümlichen Einlagen von Kate Bush oder auch der Ansatz eines Johnny Cash. Doch kein Zweifel: In erster Linie begegnet man auf “Light After Dark” einer jungen Musikerin, die ihren eigenen Sound geschaffen hat. Clare selbst wusste es schließlich schon immer: Nichts ist so wichtig wie die Stimme. Bei ihr sowieso.