Man muss nur einen Blick auf die Zahlen werfen, um zu erkennen, dass es sich bei den Plain White T’s nicht um irgendwelche Newcomer, sondern vielmehr um Veteranen ihrer Zunft handelt: Immerhin haben wir es hier mit einer Band zu tun, die es schon seit den späten Neunzigern gibt – Sänger Tom Higgenson drückte noch die Schulbank, als er die Band mit seinen Freunden gründete –, und die T’s hatten auf eigene Faust bzw. auf kleinen Indie-Labels bereits diverse Platten veröffentlicht, als ihnen im Jahr 2007 mit dem Song „Hey There Delilah“ der weltweite Durchbruch gelang. Alte Hasen also – oder doch nicht?
Die Bandmitglieder selbst haben eher das Gefühl, als würde es für sie jetzt erst richtig losgehen. Für sie hat die Phase des (jugendlichen) Staunens gewissermaßen gerade erst begonnen.
Das Festhalten an der eigenen Jugend, die Rückbesinnung auf diese Phase, in der man noch über die Welt staunen konnte, ist nämlich auch der rote Faden, der sich durch Wonders of the Younger, ihr drittes Album für Hollywood Records, zieht. Selbst in den Liebesliedern der neuen Platte, in denen dieses zentrale Thema ausnahmsweise nicht explizit im Vordergrund steht, dreht sich indirekt alles um Nostalgie, um die verlorene Kindheit – oder auch um wieder gewonnene Unschuld. (Im Text von „Broken Record“ bezieht sich Higgenson zum Beispiel auf „Billie Jean“ und singt folgende Zeile: „I knew it was final / Got in her daddy’s car and she was gone like vinyl.“) Die Kernaussage von Wonders of the Younger lautet daher: In jenen Tagen waren sie irgendwie schon so viel älter… und heute sind sie eher wieder dort angekommen, wo sie als Jugendliche standen.
Dabei hielt sich Higgenson gerade an einem Ort auf, den man gemeinhin nicht gerade mit zarter Unschuld verbindet, als ihm der Titel und damit verbunden das Konzept des neuen Albums einfiel: Er war zu Besuch in Las Vegas. Genauer: Am Valentinstag des Jahres 2009 geschah es dort, dass ihm die Show namens „O“ des Cirque du Soleil mal eben die Sprache verschlug – und er sich fragte, ob man dieses Gefühl der grenzenlosen Kreativität und der unbegrenzten Möglichkeiten wohl irgendwie in Songs transformieren und auf Platte bannen könnte. „Die gesamte Show bestand aus Piratenschiffen, Clowns und Karussellpferden, die irgendwo auftauchten, um dann wieder im Wasser abzutauchen, und irgendwann tauchte sogar ein Klavier im Pool auf – und dieser Moment hat mich einfach umgehauen“, erzählt er. „Ich war vollkommen baff und fühlte mich mit einem Mal wieder wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal Die Goonies oder Indiana Jones sieht. Die ganze Show war so fantasievoll, voller Abenteuer und einfach nur anders. Danach wusste ich, dass wir ein Album aufnehmen mussten, das genau dieses Gefühl in einem weckt.“
Higgenson, der bei Plain White T’s nicht nur Sänger, sondern zugleich wichtigster Songschreiber ist, hielt in den kommenden 12 Monaten an diesem Konzept fest und schrieb sämtliche Songs mit diesen Eindrücken im Hinterkopf. „Es gibt auf der LP auch Songs wie z.B. das Titelstück, ‘Welcome To Mystery’ oder ‘Circue Dans La Rue’, in denen dieser Ansatz schon ziemlich deutlich zu erkennen ist. Dabei hatte ich selbst bei einem Stück wie ‘Boomerang’, bei dem es nicht nur um die Kindheit und die Jugend geht, dieses Kernthema permanent im Hinterkopf.“
Allerdings geht es nicht nur in den Texten ums Staunen und um jugendliche Abenteuer; auch musikalisch schlägt die LP in diese Kerbe. Sowohl Fans der ersten Stunde, des härteren Punk-Pop-Sounds, den sie schon vor Jahren auf der Warped Tour präsentierten, als auch all diejenigen, die nach Akustik-Hits wie „Delilah“ und „1,2,3,4“ eher diese Art von Sound erwarten, kommen beim neuen Album voll auf ihre Kosten. Allerdings gehen Plain White T’s mit Wonders of the Younger sogar noch einen Schritt weiter: Ihr Sound klingt dieses Mal noch vielschichtiger als es auf ihren fünf Vorgängeralben der Fall war. Wenn sie in der Richtung ihrer ersten Aufnahmen weitergemacht hätten – damals wurden sie aus irgendeinem Grund noch als „Emo-Band“ bezeichnet –, wäre ein dermaßen ambitioniertes Album wie dieses definitiv zu ihrem Verhängnis geworden, weil sie sich unweigerlich verzettelt hätten. Stattdessen ist der Schritt, den Plain White T’s mit dem neuen Longplayer in Sachen Songwriting und Produktion nach vorn gemacht haben, eher mit der Entwicklung von My Chemical Romance zu vergleichen und jenem großen Sprung, den die Band aus New Jersey mit The Black Parade gemacht hat. Es klingt paradox, aber ausgerechnet mit diesem Album, bei dem sich durchweg alles darum dreht, sich dem Altern, dem Reifeprozess zu widersetzen und an der Jugend festzuhalten, ist es ihnen gelungen, unglaublich viel reifer als je zuvor zu klingen.
„Dieses Album ist sehr viel größer angelegt als alle unsere Vorgänger“, sagt Higgenson. „Unser erklärtes Ziel lautete, musikalisches Neuland zu erobern. Was jedoch nicht heißen soll, dass wir uns komplett neu erfinden oder wie eine vollkommen andere Band klingen wollten. Das sicher nicht. Vielmehr wollten wir einfach neue Wege gehen und eben nicht nur das machen, was man von uns erwarten würde: Es ging um ganz neue Arrangements, um klangliche Abenteuer; kurz: die Platte sollte in jeder Beziehung aufregend sein – sowohl inhaltlich und thematisch als auch musikalisch. Sie sollte dem Zuhörer dieses grandiose Gefühl geben und die Leute einfach nur umhauen. Selbst in unserer neuen Bühnenshow und im ersten Video zur Single schwingt dieser fast schon surreale, fantastische Vibe mit.“
„Lustig daran ist, dass wir auf unserem letzten Album Big Bad World [2008] genau das Gegenteil gemacht haben. Damals ging es uns darum, unbedingt alles zu reduzieren: Die Songs sollten sich ganz intim anhören, als wären wir mit dem Zuhörer im selben Raum. Dieses Mal sind wir in die entgegengesetzte Richtung aufgebrochen: Wir wollten alles aus uns herausholen und eine unfassbar große, epische und farbenprächtige Platte aufnehmen.“
Bereits die erste Single „Rhythm of Love“, eine absolute Mitsumm- bzw. Mitsinghymne, unterstreicht die neue Experimentierfreude der Band: Als Sänger tritt in diesem Fall nämlich nicht Higgenson, sondern Gitarrist Tim Lopez in Aktion, der den Song zudem selbst komponiert hat. Zwar hatte Lopez den Frontmann schon auf dem Vorgängeralbum bei zwei Songs am Mikrofon unterstützt; die Rolle des Leadsängers jedoch hatte er vor dieser Aufnahme allenfalls in irgendeinem Hinterhof beim Würstchengrillen übernommen…
Zugleich knüpfen sie mit „Rhythm of Love“ an eine Tradition an, in der schon „Hey There Delilah“ stand: Der Song wurde nämlich komponiert, um damit ein Mädel zu beeindrucken.
In Lopez’ Worten hört sich das folgendermaßen an: „Ich hab das Stück für dieses Mädchen geschrieben, mit der ich etwas hatte, als wir in Malibu waren, um unser letztes Album aufzunehmen. Wir kennen uns schon ewig – seit ich 11 oder 12 bin, glaube ich. Damals in Malibu war ich jedoch nicht wirklich bereit für eine Beziehung mit ihr, weil ich meine Scheidung an dem Punkt noch nicht so richtig verarbeitet hatte. Als wir dann mit der Band auf Tour gingen, sagte ich mir, dass diese Beziehung nicht das Richtige für mich ist und zog einen Schlussstrich. Erst im letzten Jahr ging mir schließlich auf, was ich da eigentlich getan hatte. So gesehen war der Song dazu bestimmt, die Wogen zu glätten und den Weg für einen Neuanfang mit ihr zu ebnen. Momentan hat sie einen anderen Freund – und das freut mich auch für sie –, aber wenn die Sache doch irgendwann in die Brüche gehen sollte… wer weiß?“
„Rhythm of Love“ klingt ausgesprochen sanft – vielleicht noch einen Tick sanfter sogar als „Hey There Delilah“, was wahrscheinlich seit mehreren Jahrtausenden der erste #1-Hit in den US-Billboard-Charts war, der gänzlich ohne Schlagzeug auskommt. „Stilistisch klingt die Nummer vollkommen anders als unsere früheren Aufnahmen“, meint Lopez, und das nicht nur, weil er in diesem Fall am Mikrofon stand. „Allein diese Gitarre, die irgendwie nach Inseln und nach Strand klingt; genau dieser Sound schwebte mir automatisch vor, als ich mich hinsetzte, um einen Song für sie zu komponieren.“
Nach der Single geht’s mit deutlich höherem Tempo weiter, und zwar mit „Irrational Anthem“, einem Song, der das zentrale Thema der Platte auf den Punkt bringt: „Dieser Songtext transportiert im Grunde genommen die Kernaussage des gesamten Albums“, meint Higgenson. „Es gibt da sogar eine Zeile, die das ganze Album auf den Punkt bringt: ‘Let your mind go anywhere it wants to.’ Bewahr dir deine Fantasie. Lass dich nicht so sehr vom Alltag einnehmen, dass du deine Träume darüber vergisst. Bleib weiterhin kreativ, kehre zu den Impulsen aus deiner Jugend zurück oder erinnere dich zumindest daran. Denn genau da liegt doch die Schönheit des Lebens. Ich habe einen ausgeprägten Hang zur Nostalgie, daher lebe ich generell sehr viel in Erinnerungen. Ich denke sehr häufig an früher zurück und muss über Dinge lachen, die mir irgendwann mal passiert sind.“
Bei so viel Experimentierfreude und einer dermaßen bunten Klangpalette stellt sich unweigerlich folgende Frage: Ob sich Plain White T’s nun nicht besser umbenennen und statt der schlichten T-Shirts vielleicht ein etwas farbenfroheres und schrilleres Kleidungsstück auswählen sollten. Doch Higgenson ist davon überzeugt, dass der Bandname heute besser denn je zu ihnen passt.
„Auch der Name Plain White T’s passt perfekt zum Thema der neuen Platte“, sagt er abschließend über Wonders of the Younger. „Denn bei einem schlichten weißen T-Shirt ist noch alles offen. Alles ist drin. Es lässt sich mit allem kombinieren. Du kannst es individuell gestalten, ganz nach dem eigenen Geschmack. Um diese Art Leinwand, diese Projektionsfläche, die noch leer ist, geht es doch gerade – wie bei einem Kind, bei dem noch alles der Fantasie überlassen ist.“