Das Hexagon — oder auch die Bienenwabe — ist die stabilste Form in der Natur. Das Album „Hexagon“ der Berliner Band ABBY beginnt mit einem Gitarrenmotiv, das für einen kurzen Moment die Doors, „The End“, beschwört (und somit auch die Eröffnungssequenz aus Francis Ford Coppolas Film „Apocalypse Now“), um von hier aus abzudriften ins Dort, in einen Sog von Musik, wie wir ihn schon lange nicht mehr durchleben durften.
Die unfassbare Intensität der Songs auf „Hexagon“ ist kein Resultat eines Zufalls oder besonderer Anstrengungen. Tatsächlich wurde Musik weitergedacht, und das, mit Verlaub, passiert jenseits von Keiji Haino, James Blake und Kode9 heutzutage nur noch sehr, sehr selten — und schon gar nicht auf einem Album, das sich mit jedem abermaligen Hören zunehmend als hypnotisch, als ohrenschmeichelnd, als Pop in seiner Reinform definiert.
Die Band beschreibt es so: „Wir alle sind sehr unterschiedlich mit Musik aufgewachsen. Darüber reden wir, und das ziehen wir uns alles rein. Wenn einer von uns nach der melancholischen Poesie von Arvo Pärt süchtig ist, und ein anderer voll auf die stoischen Wiederholungen Steve Reichs abfährt, und wir alle im Berghain morgens in der After Hour selig zu Jamie XX grinsen, dann sind das für uns alles Patterns und Elemente, die früher oder später in unserer Musik auftauchen, die heute übrigens viel mehr elektronische Elemente aufweist, als wir selbst es je für möglich gehalten hätten.“
Tatsächlich ist die Musik von ABBY ein geiles Hybrid, erinnert in Spurenelementen mal an Talk Talk, mal an Siebzigerjahre-Psychedelik. Viel dominanter allerdings ist die selbstgemalte Gegenwart, und somit das, was Lore als „Patterns“ bezeichnet: Man adaptiert die Idee, nicht die Umsetzung. Sprich: Die Repetitionen Steve Reichs finden sich auch in der Musik ABBYs wieder, nur klingt es eben nicht nach Neuer Musik, stattdessen erlebt das Modell Popsong dank der Wiederholung interessanter musikalischer Figuren eine so erfrischende Grundüberholung, dass uns die Musik wie ein freundlicher Spuk zu verfolgen beginnt.
Filou, der Sänger von ABBY, genoss eine Ausbildung als Sänger, sein Lehrer mochte Kunstlieder in englischer Sprache. Er singt oft mit hoher Stimme, wie Jimmy Sommerville, und somit unverwechselbar, prägnant, dominant. „Wir alle können uns auf die Abstraktionen und das Gemeinschaftsgefühl von Techno einigen“, sagt Filou: „Wir alle feiern gerne, uns allen vieren wurde bald bewusst, dass Berlin nicht nur eine Behauptung ist, sondern tatsächlich ein Lebensgefühl darstellt, dem man mit Respekt begegnen muss. Als Band haben wir uns weiterentwickelt seit unserem Debütalbum ‘Friends and Enemies’ von 2013: Zu den Elementen Psychedelic-Rock und Klassik kam zunehmend der Techno.“
Und Kollaborationen gab es auch: Da das Quartett sich in einer Ecke des renommierten Berliner Riverside-Studios eingenistet hat, entstehen neue Songs als collaborative efforts, aus Jams und ohne Zeitdruck. Befreundete Musiker gehen ein und aus, und gelegentlich führen solche spontanen Treffen zu Features. „Hexagon“ weist zwei Zusammenarbeiten auf: Zum einen wurde der Titeltrack gemeinsam mit Brandt Brauer Frick eingespielt, zum anderen wirkten Pan-Pot in dem Song „Birth“ mit.
Erwähnt werden muss eine Besonderheit im Zuge des Aufnahmeprozesses: „Wir haben keine Demos aufgenommen“, sagt Lore. Die Musik entstand im Studio, sie wurde en passant aufgenommen, arrangiert und gemischt. Ein seltsamer Begleiteffekt war, dass das Album plötzlich, nach über 16 Monaten Arbeit, eines Tages im späten Frühling dieses Jahres fertig war. Es musste noch nicht einmal mehr groß gemischt werden, da die Band stets eine Finalversion ihrer eigenen Vision von Musik vorangetrieben hat — wie einen Tunnel durch Gestein und somit ebenfalls ein Akt, bei dem es kein Zurück mehr gibt, stattdessen vollendete Tatsachen.
Alles bleibt im Fluss, wenn man zur Gleichung hinzuzieht, dass ABBY neben dem grandiosen, erfrischend kompakten neuen Album auch spektakulär live unterwegs sind. Alle Songs auf „Hexagon“ erlauben es der Band, sie in der Live-Situation zu dehnen, zu verlängern, in Grateful-Dead-artige Improvisationen zu erweitern. „Wir sind ja auch als Techno-Live-Act unterwegs, können ohne dieses Element der Wiederholung eines Motivs gar nicht mehr denken.“
Als Resultat ist die Musik ABBYs ganz klar Musik des 21. Jahrhunderts, verankert in der Gegenwart, in die Zukunft blickend. „Wir sind eine Band, die aus vier Songwritern besteht. Das unter einen Hut zu bringen, hat lange gedauert. Uns war es wichtig, dass ‘Hexagon’ von einer inneren Schwerkraft zusammengehalten wird, trotz aller Diversität eine durchgängige Stimmung hat. Das ist uns, glaube ich, mit viel Zeitaufwand aber eigentlich ohne große Mühe gelungen. Der einzige Kollateralschaden dabei ist, dass wir unser erstes Album im Rückblick nur noch wie eine Skizze sehen.“
Die eigentliche Geschichte ABBYs beginnt jetzt. „Hexagon“ ist ein Paukenschlag von einem Album, schier unerschöpflich in seinen tausend Ebenen von Musik, dabei nie verzettelt, verfrickelt oder abschweifend. Das Album ist ein Sog, wie wir ihn schon lange nicht mehr durchleben durften.
Max Dax
ABBY:
Gesang, Gitarre: Filou
Gitarre, Cello: Tilly
Keyboards, Sounddesign: Lorenzo
Schlagzeug: Henne
Diskografie:
2009 – „Since We Moved On” (Eigenvertrieb)
2011 – „Welcome Home“ (Snowhite)
2013 – „Friends and Enemies“ (Island/Universal)
2015 – „Hexagon“ (Island/Universal)