Der Pianist András Schiff hat die beiden Klavierkonzerte von Johannes Brahms auf einem historischen Flügel eingespielt. Sein am 4. Juni bei ECM New Series in München erschienenes Album löste lebhafte Pressereaktionen aus.
Die New York Times feiert das neue Album von András Schiff, auf dem der ungarische Pianist unter Verwendung eines um 1859 gefertigten Flügels der Firma Blüthner mit den beiden Klavierkonzerten von Johannes Brahms zu erleben ist, als eine Offenbarung. Der Rezensent erinnert an Schiffs frühere Ablehnung der historischen Aufführungspraxis. Die Haltung des Pianisten habe sich auf diesem Feld der Klavierkunst radikal gewandelt. Schiff, der Bach selbstbewusst auf einem modernen Flügel gespielt habe, mache sich heute als “eifriger Evangelist für die Verwendung historischer Tasteninstrumente” stark. Den jüngsten Ausflug des Pianisten in die Gefilde historischer Interpretation hält der Kritiker der New York Times für seinen bislang gelungensten. Gemeinsam mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment habe Schiff den selbst in “erfolgreichen Aufführungen” oft “schwerfällig und verklumpt” klingenden Klavierkonzerten von Brahms eine “intime und menschliche” Note verliehen.
Musikalische Revolte
Dass die Ambition einer lichteren Brahms-Interpretation eine musikalische Revolte einschließt, ist in vielen Besprechungen des neuen Albums von András Schiff Common Sense. So gibt der Nouvel Observateur zu bedenken, dass sich das Publikum über drei Generationen hinweg an einen von “überfüllten Orchestern” präsentierten, “schwächlichen” Brahms gewöhnt habe. “Wir sollen die ersten […] seit Generationen sein”, charakterisiert Die Welt Schiffs Anliegen, “die Brahms erleben wie seine Zeitgenossen. Einen Brahms ohne Bart und Bauch.”
Manche Beobachter sehen in dem poetischen Brahms-Ideal des Pianisten ein über die Musik hinausgehendes, kulturelles Zeichen. So wagt die Journalistin Christine Lemke-Matwey die Prognose, “dass nicht nur das olympische ‚Schneller, höher, stärker‘ in der Musik mit der Corona-Krise endgültig vorbei sein dürfte, sondern auch die Zeit der Titanen” (Die Zeit). Die britische Tageszeitung The Times weist auf Schiffs Kritik des Lärms hin, die hinter seinem Brahms-Bild steht.
Restaurative Modernität
Der Figaro zeigt sich von dem “unglaublich zarten Klang” des Blüthner-Flügels und den “magischen Hörnern” des Orchesters begeistert und lobt die dialogische Intensität zwischen Solist und Ensemble. Der Guardian lenkt den Blick auf das musikalische Ziel des Pianisten und identifiziert es als Klangbild, das mit den Erwartungen von Brahms an eine Orchesterbesetzung aus knapp 50 Musizierenden korrespondiert. Demgegenüber urteilt das Klassikmagazin Gramophone, dass es bei Schiff weniger um “Authentizität” als vielmehr um “Frische” gehe. Schiffs Arbeit sei nicht “antiquarischer” Natur, auch wenn der Pianist im Booklet seines neuen Albums von “restaurieren” spreche. Der Rezensent hebt die flexible Qualität des Blüthner-Flügels hervor, der sich wie ein “Chamäleon” an die “orchestralen Timbres und Farben” anschmiege. Wir müssten einsehen, resümiert er, “dass ‚Brahmsianer‘ nicht die Antithese zu Transparenz, Intimität, Zartheit oder Fragilität ist”.
Das neue Album von András Schiff ist am 4. Juni 2021 bei ECM New Series erschienen. Nach Schubert- und Beethoven-Aufnahmen auf alten Flügeln ist es das vierte ECM-Album, das der Klaviervirtuose einer historisch informierten Interpretation widmet.