Andrè Schuen | News | Booklettext: Andrè Schuen - Schuberts "Schwanengesang" - 18.11.2022 (VÖ) (DE/EN)

Andrè Schuen
Andrè Schuen

Booklettext: Andrè Schuen – Schuberts “Schwanengesang” – 18.11.2022 (VÖ) (DE/EN)

10.10.2022
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KEINE NOTE ZU VIEL
Auf die unglaubliche Anzahl von rund 600 Liedern hat Franz Schubert es gebracht, und damit steht er wie ein Solitär unter den Liedkomponisten des 19. Jahrhunderts. Noch wenige Monate vor seinem Tod am 19. November 1828 erreichte die Produktivität des Liederfürsten erneut einen Höhepunkt. Zentrale Werke wie die C-Dur-Messe, die Klaviersonaten D 958–960 und das Streichquintett in C-Dur entstanden, dazu vertonte Schubert sieben Lieder auf Texte von Ludwig Rellstab und sechs auf Gedichte des gleichaltrigen Heinrich Heine. Nach Schuberts Tod verkaufte sein Bruder Ferdinand diese dem Verleger Tobias Haslinger, der sie – ergänzt um Die Taubenpost nach Johann Gabriel Seidl – unter dem Titel Schwanengesang veröffentlichte: Schuberts gleichzeitig resümierendes wie visionär in die Zukunft gerichtetes Schlusswort zu der von ihm so reich beschenkten Gattung Lied.
Als seine »größte Liebe unter den Schubert-Liedern« bezeichnet Bariton Andrè Schuen den Schwanengesang. »Besonders die Heine-Vertonungen, die berühren mich mit am meisten!« Dabei reicht seine Bewunderung für diesen Zyklus zurück in eine Zeit, als er selbst noch gar kein professioneller Sänger war: »Es ist eines der ersten Lied-Werke, die ich als Hörer auf CD kennengelernt habe. Ich erinnere mich an eine Aufnahme mit Dietrich Fischer- Dieskau, die ich rauf und runter gehört habe.« Allerdings ist das Wort »Zyklus« in diesem Zusammenhang anders zu bewerten als etwa bei der Schönen Müllerin oder der Winterreise. Während diese von Schubert dezidiert als Zyklen konzipiert wurden, die eine Art zusammenhängende Geschichte erzählen, ist die gleichsam lockere Fügung des Schwanengesang dem verlegerischen Zuschnitt von Tobias Haslinger geschuldet.
Auch für Andrè Schuen erzählt »der Schwanengesang als Ganzes keine zusammenhängende Geschichte. Die Rellstab-Lieder sind für mich vor allem zusammengesammelte Lieder nach einem Dichter.« Anders sieht es allerdings bei den Heine-Vertonungen aus: »Da gibt es schon Parallelen zur Winterreise oder der Schönen Müllerin, denn auch hier finden wir eine verlassene Gestalt, die ausgezogen ist und in emotionale und psychische Grenzbereiche vorstößt. Manchmal verschwimmen dabei Realität und Fiktion wie in Ihr Bild.« Die disparate Vielgestaltigkeit des Schwanengesang spiegelt sich auch in den verschiedenen Formen der Lieder, die vom einfachen Strophenlied (Ständchen) über variierte Strophenlieder (Liebesbotschaft) bis hin zu einem durchkomponierten Lied wie Kriegers Ahnung reichen, in dem die Musik in freier Form der Aussage des Textes folgt.
Vor allem aber unterscheiden sich die Rellstab- von den Heine-Vertonungen durch ihren unterschiedlichen Stil: Bei Rellstab geht es vor allem um Liebessehnen und Liebesverlust, um das romantische Schwärmen des lyrischen Ich, changierend zwischen freudigem Optimismus und schwermütiger Melancholie. Die schlägt in den folgenden sechs Heine-Liedern um in einen beängstigenden Ton von abgrundtiefer Verzweiflung: Weltschmerz und äußerste Zerrissenheit brechen sich Bahn. Drastisch direkt und schockierend illusionslos sind diese Kompositionen, der sängerische Ausdruck reicht vom kaum wahrnehmbaren Flüstern bis zum gellenden Schrei, etwa in Der Atlas, dem die ganze Welt der Schmerzen aufgebürdet wird und an dessen Ende sich die Singstimme in dreifachem Forte in die Höhe aufschwingt.
»Schubert hat am Ende seines recht kurzen Lebens noch mal eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Gerade die Heine-Vertonungen sind sehr speziell, wenn wir sie mit anderen Liedern von Schubert vergleichen«, fasst Andrè Schuen die Bedeutung des Schwanengesang zusammen. Neben eher traditionellen Liedern wie dem Fischermädchen stehen neuartige Kompositionen wie Der Doppelgänger. »Es sind zwar nur zwei Notenseiten, dazu mit total reduzierten Akkorden«, so Andrè Schuen, »aber es findet so unfassbar viel statt in diesem Lied, obwohl so wenig notiert ist. Das macht die Heine-Lieder aus, dass sie so komprimiert sind. Da ist keine Note zu viel!«
Trotz dieser radikalen Reduktion der musikalischen Mittel führt Schubert uns in seinem Schwanengesang immer wieder in Ausdrucksextreme: mit den opernhaft-dramatischen Ausbrüchen in Der Doppelgänger, die in dynamische Extreme vorstoßen; oder mit der fast impressionistisch anmutenden Vision einer am Horizont aus waberndem Nebel aufleuchtenden Stadt, von der Dissonanz eines verminderten Septakkords in eine schmerzlich-mystische Stimmung getaucht. Das persönliche Highlight von Andrè Schuen ist jedoch Am Meer, »das ist mein Lieblingslied aus dem Zyklus, vielleicht sogar mein Lieblingslied von Schubert überhaupt. Diese unglaubliche Lyrik am Anfang, verbunden mit der Dramatik des Mittelteils: Das ist eine perfekte Symbiose von Text und Musik, von Heine und Schubert.«
Wie schon bei der Aufnahme von Die schöne Müllerin kann Andrè Schuen auch hier auf die Unterstützung seines langjährigen Klavierpartners Daniel Heide zählen. »Er ist nicht nur ein fantastischer Pianist«, schwärmt der Bariton, »sondern auch ein versierter Stimmenkenner. Das macht für mich sehr viel aus, diese Begeisterung für Farben, für die Ästhetik einer Stimme, immer auf der Suche nach dem magischen Moment zu sein, das Risiko nicht zu scheuen. Außerdem verstehen wir uns auch abseits der Bühne sehr gut, haben gemeinsame Interessen, Sport, Geografie und gutes Essen!«
BJØRN WOLL
 
 
NOT ONE NOTE TOO MANY
Franz Schubert managed to turn out an incredible body of some 600 lieder, making him a nonpareil among 19th-century lied composers. Just a few months before his death on 19 November 1828, his productivity again reached a climax. Alongside such central works as the Mass in C major, the three piano sonatas D 958–960 and the C major String Quintet, he wrote seven lieder on words by Ludwig Rellstab and another six on poems by his age-mate, Heinrich Heine. After his death, his brother Ferdinand sold them to the publisher Tobias Haslinger, who added another lied, Die Taubenpost after Johann Gabriel Seidl, and issued them in print with the title Schwanengesang (Swan Song). At once a summa summarum and a vision of the future, it was Schubert’s final word on the genre he had so richly cultivated.
Baritone Andrè Schuen calls Schwanengesang “my greatest love among the Schubert lieder. Especially the Heine settings; they move me the most!” His admiration for the cycle dates back to a time before he had even become a professional singer: “It’s one of the first lied compositions I got to know, listening to it on CD. I remember a recording with Dietrich Fischer-Dieskau that I played over and over again.” Yet the term “cycle” in this context must be viewed differently from Die schöne Müllerin or Die Winterreise, which Schubert definitely conceived as cycles and which tell a sort of cohesive story. In contrast, the loose-limbed miscellany of Schwanengesang owes its existence to the editorial ministrations of Tobias Haslinger.
Andrè Schuen, too, feels that “Schwanengesang, taken as a whole, does not tell a cohesive story. To me, the Rellstab lieder are basically a compilation of songs by a single poet.” But things look different with the Heine settings: “There are indeed parallels with Die Winterreise and Die schöne Müllerin. Here, too, we find an abandoned figure who has left home and forged his way into emotional and psychological borderlands. Sometimes, as in Ihr Bild, reality and fiction begin to blur.” The protean diversity of Schwanengesang is also reflected in the various forms of the lieder themselves, ranging from simple strophic songs (Ständchen) and varied strophic songs (Liebesbotschaft) to through-composed lieder, as in Kriegers Ahnung, where the music freely follows the meaning of the poem.
But the Rellstab settings differ from the Heine lieder most of all in their contrasting style: Rellstab’s poems deal mainly with love’s longing and loss – with romantic effusions of the lyric persona, vacillating between joyous optimism and despondent melancholy. In the six Heine settings that follow, the melancholy rises to a frightening pitch of measureless despair: Weltschmerz and extreme inner turmoil burst on to the scene. These pieces have a shattering immediacy and a shocking lack of illusion: the vocal expression extends from a barely perceptible whisper to a piercing scream, as in Der Atlas, burdened with the entire world of sorrow and ending with the voice soaring into the heights at triple forte.
“At the end of his quite short life, Schubert struck out yet again in a wholly new direction”, says Schuen, summing up the significance of Schwanengesang. “Compared to other Schubert songs, the Heine settings in particular are very special.” Alongside rather traditional pieces, like Das Fischermädchen, are such novel creations as Der Doppelgänger. “True, it’s only two pages long and has completely skeletal chords”, he adds, “but so unfathomably many things happen in this lied, although so little is written down. What distinguishes the Heine lieder is that they are so compressed. There’s not one note too many!”
Despite this radical reduction of musical means, Schubert, in Schwanengesang, leads us time and again to extremes of expression, whether in the operatic outbursts of Der Doppelgänger, which probes extremes in dynamics, or the almost impressionistic vision, in Die Stadt, of a town gleaming on the horizon amidst swirling strands of fog, bathed in a dolorous, mystical mood by the dissonance of a diminished seventh chord. Schuen’s personal highlight, however, is Am Meer: “It’s my favourite song in the cycle, perhaps my favourite Schubert song altogether. The incredible lyricism at the beginning, joined by the drama of the middle section: it’s a perfect symbiosis of words and music, of Heine and Schubert.”
As on his recording of Die schöne Müllerin, here Andrè Schuen can rely on the support of his longstanding accompanist Daniel Heide. “Not only is he a fantastic pianist”, Schuen raves, “he’s also a seasoned connoisseur of the human voice. To me this makes all the difference, his enthusiasm for colour, for the aesthetic of a voice, always in search of the magical moment and never avoiding risks. Besides, we also get along fabulously outside the concert hall and share some common interests: sport, geography and good food!”
BJØRN WOLL  

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