Es gibt einen Moment auf “Reflektor”, dem vierten Album von Arcade Fire, es ist der sechste Song auf der ersten der zwei CDs, da wird die Band in dem Song “You Already Know” quasi aus dem Off begrüßt. “The fantastic Arcade Fire” sagt eine leicht angezerrte Stimme, und sie klingt in ihrer Aufregung ein wenig wie die eines amerikanischen Fernsehmoderators aus den Fünfziger Jahren. Es folgt ein Song, der viel, viel Twang hat und zu dem sich, wäre er der Soundtrack zu einem alten Film, Matrosen prügeln könnten. Am Ende hören wir Applaus. Die Kanadier, das wird hier klarer denn je, haben Humor und das ist eine durchaus beruhigende Nachricht… Denn betrachten wir die bisherige Laufbahn der kanadischen Band, so wurde meistens Ernsthaftes verhandelt.
Das Debütalbum “Funeral” (2004) war eine Platte über diverse Schicksalsschläge, eine Art verzweifelter Notruf aus den Privaten und wurde von Kollegen wie David Byrne oder David Bowie hoch gelobt. “Neon Bible” schwankte zwei Jahre später zwischen nihilistischer Weltbeobachtung und eskapistischen Träumen und bedeutete für Arcade Fire den endgültigen Durchbruch. “The Suburbs” (2010) war so eine Art Reader zum Vorstadtleben als Sinnbild für den in die Jahre gekommenen American Way Of Life. In den USA und in England schoss das Album sofort an die Spitze der Hitparaden und zementierte den Ruf Arcade Fires als gleichermaßen erfolgreiche Künstler und Kritikerlieblinge: Große Hymnen verfasse die Band, so stand etwa bei Pitchforkmedia, ohne dabei so zu klingen, als würde sie das gesamte Gewicht der Welt tragen. Der NME stellte fest, Arcade Fire vereinten Massenkompatibilität mit großer Ambition, das alles sei “ganz schön perfekt”. Am Ende gab’s sogar noch einen Grammy in der Kategorie “Album des Jahres” und, quasi als Zugabe, zwei Brit Awards. Wer die Band im Sommer 2011 bei einem der “The Suburbs”-Konzerte sah und Zeuge war, wie Menschenmassen zu Songs wie “Rebellion (Lies)”, “No Cars Go” oder “Ready To Start” in gemeinsame Glücksgefühle kippten , kam nicht umhin, festzustellen: Das alles war mehr als die kollektive Aufregung der üblichen Bescheidwisser. Das hatte Hand und Fuß. Arcade Fire waren plötzlich die beste Rockband der Welt.
Aber wie macht man da weiter? Wie behält man seine Relevanz, stellt seine Fans zufrieden, vermeidet aber Wiederholung und kreativen Stillstand? Arcade Fire taten das einzig Richtige. Sie ließen sich erst einmal Zeit. Dann trafen sie eine sehr kluge Personalentscheidung, die rasch ihren Weg an die Öffentlichkeit fand. James Murphy, so sickerte durch, würde ihre neue Platte produzieren. Murphy ist ein Mann, der die aktuelle Popmusik mehr beeinflusste, als man denken mag. Er wurde vor allem doch seine eigene Band LCD Soundsystem bekannt, arbeitete aber auch mit Künstlern wie den Gorillaz oder den YeahYeahYeahs zusammen und prägte mit seinem Label DFA den Klang der frühen Nullerjahre. Murphy ist ein Mann aus dem Club. Einer, den man eher mit Tanzmusik, mit verschwitzten Underground-Discos in Verbindung bringen würde als mit der größten Rockband der Welt. Als die Band bei Murphy anfragte, war der zunächst entsprechend skeptisch: “Ich dachte mir, das sind alles supertalentierte Typen. Brauchen die wirklich einen, der auch noch seinen Senf dazu gibt?” Letztendlich aber habe die Arbeit sehr viel Spaß gemacht und sei von einem großen gegenseitigen Respekt geprägt gewesen. Ach ja, er habe mit Arcade Fire übrigens keine Rockoper aufgenommen.
Ein Statement, das von der Vorabsingle eindrucksvoll unterstrichen wird. “Reflektor” verzichtet auf jene Folklore, auf jenen Bombast, den man mit Arcade Fire verbindet. Stattdessen läuft der Song entlang einer fast schon unverschämt treibenden Basslinie, die von nervöser Percussion und Synthie-Tupfern unterstützt wird und über ihre gesamten siebeneinhalb Minuten einen Sog entwickelt, dem man sich nur schwer entziehen kann. Am Ende singt David Bowie. Der, so die Mär, hörte den Song bei einem Besuch im Studio – und wollte ihn eigentlich für seine eigene Platte. Klappte nicht, also übernahm er die Background Vocals. So einfach kann das manchmal sein.
Gleichzeitig war die Entscheidung der Band, ausgerechnet diesen Song als erste Single auszukoppeln, eine sehr bewusste. Denn als typisch für das ganze Album kann der Titeltrack nicht gesehen werden. Wo “Reflektor” doch sehr deutlich nach James Murphys bisherigen Arbeiten klingt, wo der Beat sich irgendwo zwischen Studio 54 und dem DFA-Sound von Murphys bisherigen Produktionen herumtreibt, sind die folgenden Tracks deutlich vielfältiger und zeugen von einem Kreativprozess, bei dem man nur allzu gerne dabei gewesen wäre. Auf knapp 76 Minuten loten Arcade Fire zusammen mit Murphy und Markus Dravs, der auch schon bei den beiden Vorgängeralben mitwirkte, hier die Grenzen ihres eigenen Klangkörpers aus. Da trifft bei “We Exist” leicht unterkühlter 70er-Jahre-Schlepprock auf große Chöre, da schießen Siebziger-Jahre-Disco-Synthies an Dub-Patterns vorbei (“Flashbulb Eyes”). Da schält sich bei “Here Comes The Night Time” aus freidrehender Kraut-Psychedelic plötzlich doch noch ein erhabenes Lied, da ist im Song “Here Comes The Night Time II” aber auch Platz für Cello und Kirchenorgel. Und der Gesang? Zwei, drei Mal hören wir das elegante Französisch von Régine Chassagne. Win Butler klingt mal nach David Bowie, mal nach Gordon Gano von den Violent Femmes, aber immer nach sich selbst. Am Ende der ersten CD ist er kurz der traurige Punk. “You Had A Vision” singt er in “Joan Of Arc” .
Der Band-Chef selbst wirft übrigens eine der interessantesten Assoziationen in den Ring: Voodoo-Musik aus Haiti, so sagt er, habe bei der Entstehung des Albums eine wichtige Rolle gespielt, zwei Perkussionisten von der Insel seien an den Aufnahmen der Platte beteiligt gewesen. Bei einem Geheimkonzert in Montréal Anfang September, auf dem die Band erste Songs vorstellte, herrschte ein entsprechender Dresscode: Nur kostümierte Besucher wurden in den Club gelassen, in dem die Band auftrat. Butler soll eine Tigermaske getragen und anschließend wild zu Salsa-Musik getanzt haben.
Das unterschwellige Gefühl der Angst, das das Werk der Kanadier in der Vergangenheit stets prägte, ist jedoch geblieben. “Feels like it never ends. Here comes the nighttime again”, heißt es, später: “It’s never over”. Interessant ist, dass die Band und ihr Produzent die herkömmlichen Strukturen der Pop- und Rockmusik zwar benutzen, ihre Ästhetik aber nach Belieben ändern. Selten ist es so, dass sich Strophe, Bridge, Refrain so wiederholen, wie man das aus dem Radio kennt. Stattdessen biegen die Songs gerne genau dann, wenn man sie zu kennen meint, in eine völlig neue Richtung ab oder wechseln unvermutet die Geschwindigkeit. Zudem wird aus einem immens umfangreichen Instrumentenpark geschöpft und so ein Variantenreichtum geschaffen, das für Arcade Fire neu ist und sich verblüffend gut mit der großen Geste verträgt, die die Band seit jeher transportiert. Programmatisch dafür mag “Afterlife” stehen: “Let it go. Where do we go?”, fragt Butler hier, und dazu tönen Synthies, die in einem früheren Arcade-Fire-Leben vermutlich Streicher gewesen wären und geradezu danach schreien, von einer Festivalbühne aus über’s Feld, über’s Land, über die Welt geschickt zu werden. Wo Win Butler hingeht, wissen wir natürlich nicht. Aber eines ist nach dem Hören von “Reflektor” klar: Wir gehen sehr, sehr gerne mit.