Benjamin Bernheims neuestes Album Boulevard des Italiens dokumentiert mehr als 100 Jahre italienischer Oper in Frankreich. Musik zwischen Spontinis La Vestale und Mascagnis Amica singt der Tenor hier auf Französisch, in seiner Muttersprache. »Wir wollten die Geschichte der französischen Sprache in den Pariser Opernhäusern nachzeichnen durch all diese italienischen Komponisten, die ihre Stücke dort aufführen ließen«, sagt Bernheim. »Zwischen der Opéra Garnier und der Opéra-Comique wurde diese Geschichte zu Musik – der Boulevard des Italiens ist ihr Schauplatz.« Das Album erscheint am 8. April 2022 bei Deutsche Grammophon.
Vom Beginn des 19. bis hinein ins 20. Jahrhundert war Paris die Opernhauptstadt Europas. Insbesondere italienische Komponisten zog die Metropole an, denn sie war weltoffen und ihre Städter liebten den Bühnengesang. So entwickelte sich zwischen der französischen und der italienischen Theatertradition ein intensiver Austausch. Stücke wurden, unabhängig vom Land ihrer Entstehung, fast ausnahmslos auf Französisch aufgeführt; und indem die italienischen Komponisten ihre Musik der Klanglichkeit der französischen Sprache anpassten, erschlossen sich ihnen zugleich neue Bereiche melodischer Kreativität.
Auf Boulevard des Italiens singt Bernheim eine charakteristische Auswahl der jeweils markantesten Werke. Das Repertoire hat er zuvor gründlich recherchiert, fachkundig beraten vom Palazzetto Bru Zane, einer Stiftung für französische Musik der Romantik. Nicht nur inspirierende Gedanken und Vorschläge kamen von dort, sondern auch »handfeste Hilfe in der Bearbeitung der Gesangspartien, aber auch der Orchesterpartituren«, sagt Bernheim.
Gaspare Spontini war es, der das neue Zeitalter der Romantischen Oper in Paris einläutete mit seiner bahnbrechenden La Vestale im Jahr 1807; eine leidenschaftliche Szene daraus ist die älteste Musik auf Boulevard des Italiens. Bernheim singt außerdem Musik von Spontinis Zeitgenossen Luigi Cherubini: eine Arie aus der wenig bekannten Oper Ali Baba (1833), in der das hohe C ertönt, das zu diesem Zeitpunkt bereits zum stimmlichen Rüstzeug eines jeden Tenors gehörte.
Vom Anfang des 19. Jahrhunderts an wurde der Zustrom italienischer Komponisten beständig größer. Einer der erfolgreichsten von ihnen war Gaetano Donizetti. Bernheim hat Auszüge aus drei seiner Opern ausgewählt, die in Paris ihre Welturaufführung feierten – aus dem eher selten gespielten Dom Sébastien, seinem letzten Beitrag zur Gattung, sowie aus La Fille du régiment und La Favorite.
Geht es um den alle überragenden Giuseppe Verdi, wartet Bernheim mit noch größeren Überraschungen auf. Die beschwingte Tenorarie aus Jérusalem, Verdis eigener französischer Fassung von I lombardi, ist zu hören. »Bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet«, wie der Komponist selbst anmerkte, ist sie eine ebensolche Enthüllung wie eine Arie für den Heldentenor in seinem Epos Les Vêpres siciliennes, die als absolute Seltenheit gelten kann. Diese Nummer wurde nicht für die Premiere geschrieben, sondern als Ersatzarie in einer späteren Wiederaufnahme. In einer frühen Ausgabe der Partitur fand sie sich im Anhang versteckt. Verdis Don Carlos ist für Bernheim »ein zentrales Stück«, wie er sagt. Er hat daraus die wunderschöne Auftrittsarie des Helden ausgewählt und das bewegende Duett für Tenor und Bariton in der längeren, nuancenreicheren französischen Originalfassung; Florian Sempey singt es mit ihm.
Giacomo Puccini ist auf vielfältige Weise und sehr eng mit Paris verbunden – nicht zuletzt wegen der 1906 in der Opéra-Comique erstaufgeführten Fassung von Madama Butterfly, auf die die gültige Partitur der Oper zurückgeht. Noch bis in die 1960er-Jahre war es üblich, Puccini auf Französisch zu singen. Mit zwei der bekannteren Arien aus Madama Butterfly und Tosca belebt Bernheim diese Tradition und demonstriert plastisch, wie »die französische Sprache, mit ihren ganz eigenen Betonungen und den vielen Nasalen, dieser Musik eine neue Klanglichkeit verleiht.«
Ergänzt wird der historische Überblick durch eine längere Szene aus Pietro Mascagnis selten zu hörender tragischer Oper Amica, die 1905 in Monte Carlo uraufgeführt wurde. Hier gibt sich Bernheim dem Klang des Französischen im Amalgam mit tief empfundenem italienischem Verismo hin.
Die Aufnahmesitzungen mit dem Dirigenten Frédéric Chaslin und dem Orchestra del Teatro Comunale di Bologna fanden im April 2021 statt – »als die Welt gerade wieder aufmachte«, sagt Bernheim. »Das war, persönlich wie musikalisch, ein wunderbares Gefühl. Wir schwelgten geradezu in der ›Italianità‹.«
Benjamin Bernheim erhielt große Anerkennung für seine Bühnenauftritte und sein Debütalbum, das 2019 bei Deutsche Grammophon erschien, wo er unter Exklusivvertrag steht. Auf Boulevard des Italiens gibt der »neue Startenor« (Diapason) nicht nur eine Vorführstunde in französischem Operngesang mit einer Diktion von »kaum fassbarer Klarheit«, wie die Kritiker schreiben, sondern auch einen faszinierenden Überblick über die symbiotische Beziehung zwischen Paris und Generationen von italienischen Komponisten.