Es gibt viele Künstler, die stolz von sich behaupten “the hardest working man in show business” zu sein. Der Pianist Chick Corea könnte es sicher tun, aber das verbietet ihm seine Bescheidenheit. Erst letztes Jahr absolvierte er zu seinem 75. Geburtstag ein beinahe acht Wochen langes Gastspiel im New Yorker Blue Note, wo er mit mehr als einem Dutzend verschiedener Bands einen Beweis seiner unglaublichen Kreativität und Vielseitigkeit erbrachte. Ähnliche Konzertmarathone hatte er auch schon 2001 zu seinem 60. und 2011 zu seinem 70. Geburtstag hinter sich gebracht. Der erste wurde auf der 2003 erschienenen Doppel-CD “Rendezvous In New York” dokumentiert, die Chick Corea seinen zwölften Grammy einbrachte (seitdem konnte er seiner beeindruckenden Grammy-Sammlung noch zehn weitere hinzufügen!). Bei den Konzerten, die 2011 im Blue Note über die Bühne gingen, wurde nicht nur Aufnahmen für drei prallvolle Live-CDs mitgeschnitten, sondern zusätzlich auch noch ein abendfüllendes Filmporträt des Pianisten gefertigt. Unter dem Titel “The Musician” wurden die CDs im April 2017 zusammen mit dem Dokumentarfilm auf einer Blu-ray Disc in einer Deluxe-Hardcover-Edition veröffentlicht. Zu erleben ist Corea hier u.a. mit Co-Stars wie Herbie Hancock, Bobby McFerrin, Wynton Marsalis, John McLaughlin, Bobby McFerrin, Gary Burton, seiner Elektric Band und einer akustischen Neuausgabe der legendären Fusionband Return To Forever (mit Gründungsmitglied Stanley Clarke und Lenny White). “The Musician” illustriert wunderbar, weshalb der amerikanische Jazzjournalist und Musiker Mike Zwerin Chick Corea einmal als eine Art musikalisches Chamäleon beschrieben hat: “Als Bandleader und Solist hat Corea zwischen elektrischen und akustischen Bands, akustischen und elektrischen Keyboards, improvisierten Solokonzerten und Post-Bop-, Latin-, Elektro-Pop- und Funk-Stilen hin- und hergewechselt. Er hat auch Kinderlieder geschrieben und aufgenommen sowie Recitals klassischer Musik aufgeführt und eingespielt.”
Tatsächlich ist Corea von all den großartigen Jazzpianisten, die in den 60er und 70er Jahren zu Weltruhm aufstiegen, schon früh der wohl vielseitigste gewesen. Auch wenn er zu manchen Experimenten, wie Miles Davis in seiner Autobiographie berichtete, erst überredet werden musste. Als dieser Corea 1968 in seine Band holte, um Herbie Hancock zu ersetzen, war der Pianist nämlich erst einmal gar nicht glücklich mit seiner Rolle: “Am Anfang war Chick sich nicht sicher, ob er das Fender überhaupt mochte, aber ich brachte ihn dazu”, erzählte Miles gewohnt bescheiden. “Es passte ihm zunächst gar nicht, dass ich ihm sein Instrument vorschrieb, bis er es schließlich draufhatte. Danach liebte er es fast und machte sich sogar einen Namen damit.” Wie zahlreichen anderen Musikern auch diente Chick Corea die zeitweilige Zugehörigkeit zur Band von Miles Davis als das große Karrieresprungbrett.
Am 12. Juni 1942 als Armando Anthony Corea in Chelsea/Massachussetts geboren, erhielt Chick schon als Vierjähriger Klavierunterricht und wurde von klein auf zum musikalischen Eklektizismus erzogen. Bereits im Kindesalter setzte er sich nicht nur mit der klassischen Musik von Beethoven und Mozart auseinander, sondern auch mit Swing, Bebop und Hard-Bop. Als große Vorbilder dienten ihm – wie auch anderen Pianisten seiner Generation – zuerst Bud Powell und Horace Silver, später vor allem Bill Evans und McCoy Tyner.
Mit 23 Jahren nahm Corea als Begleiter des Trompeters Blue Mitchell seine ersten eigenen Kompositionen auf. Oft spielte er in den frühen 60er Jahren auch mit Latin-Jazz-Größen wie Cal Tjader, Herbie Mann, Mongo Santamaria und Willie Bobo zusammen und entwickelte so recht früh sein Faible für lateinamerikanische Rhythmen. Sein erstes Album unter eigenem Namen, “Tones For Joan’s Bones”, erschien 1966 und verblüffte damals die Jazzwelt. So wie das 1968 erschienene Trio-Album “Now He Sings, Now He Sobs” galt es schon bald als absoluter Klassiker des Jazz.
1968 holte ihn dann Miles Davis in seine Band und nahm mit ihm im Laufe von drei Jahren so epochale Alben wie “Filles De Kilimanjaro”, “In A Silent Way”, “Bitches Brew” und “Miles Davis At The Fillmore” auf. Nach dem Ausstieg bei Miles bildete der Pianist etwas überraschend mit Anthony Braxton, Dave Holland und Barry Altschul ein Ensemble namens Circle, das sich ganz der freien Improvisation verschrieb und ein Live-Album, “Paris Concert”, für das blutjunge ECM-Label aufnahm. Unter der Ägide des ECM-Produzenten entstanden in den frühen 70er Jahren noch weitere wegweisende Aufnahmen des Pianisten: darunter zwei Alben mit “Piano Improvisations”, das Album “Return To Forever” (das die Geburtstunde der gleichnamigen All-Star-Fusion-Band dokumentierte) und die erste Duett-Einspielung mit Gary Burton, “Crystal Silence”, der in den Jahrzehnten danach noch einige Alben folgen sollten (2012 feierten die beiden ihr 40-jähriges Jubiläum mit einem neuen Album namens “Hot House” und einer ausgedehnten Welttournee).
Mit der Ursprungsbesetzung von Return To Forever (RTF) – mit Saxophonist/Flötist Joe Farrell, Bassist Stanley Clarke, Perkussionist Airto Moreira und der Sängerin Flora Purim – spielte Corea auf “Return To Forever” und “Light As A Feather” noch von brasilianischer Rhythmik geprägten luftigen Latin-Jazz. Dann mauserte sich das Ensemble, das seit der zweiten Platte bei der Polydor unter Vertrag stand, nach einer Umbesetzung zu einer der maßgeblichen Fusion-Bands neben Weather Report, Herbie Hancocks Headhunters, John McLaughlins Mahavishnu Orchestra und Tony Williams’ Lifetime. Nachdem er RTF 1975 aufgelöst hatte, präsentierte sich Chick Corea auf seinen Alben in munterem Wechsel mit immer wieder neuen (mal akustischen, mal elektrischen) Ensembles, als Piano-Solist oder mit Duo-Partnern wie Herbie Hancock, Béla Fleck (“The Enchantment”, 2007, und “Two”, 2015), Hiromi Uehara (“Duet”, 2009) und Stefano Bollani (“Orvieto”, 2011). Mit Bassist Eddie Gomez und Schlagzeuger Paul Motian, zwei prominenten ehemaligen Sidemen des großen Bill Evans, spielte der schier unermüdliche Corea die Evans-Hommage “Further Explorations” (2012) ein.
Gelegentlich knüpft der Pianist bei seinen Projekten auch an alte Arbeiten an. Etwa in den frühen 1980ern, als er für zwei vielbejubelte ECM-Einspielungen (“Trio Music” und “Trio Music Live”) sein legendäres Trio mit Miroslav Vitous und Roy Haynes wiederauferstehen ließ. An seine spanischen Wurzeln, die er erstmals 1976 auf dem Doppelalbum “My Spanish Heart” so richtig offenbart hatte, erinnerte er 2006 noch einmal mit “The Ultimate Adventure” und der DVD “Live In Barcelona”. Eine Reunion mit Originalmitglieder von Return To Forever feierte er auf “Return To Forever Returns” (2009) und dem Doppelalbum “Forever” (2011). In die aufwühlende Zeit der Fusionjahre tauchte er 2009 erneut gemeinsam mit John McLaughlin und den anderen Stars der Five Peace Band ein (“Five Peace Band Live”). Für die Deutsche Grammophone nahm er zudem ein neues Werk auf, auf dem er – wieder einmal – zwischen Jazz und Klassik pendelte: “The Continents: Concerto for Jazz Quintet & Chamber Orchestra” (2012).
Mit einer neuen, international besetzten Band (mit dem französischen Bassisten Hadrien Feraud, dem brtischen Saxophonisten Tim Garland sowie den US-Amerikanern Marcus Gilmore und Charles Altura an Schlagzeug und Gitarre) präsentierte Corea 2013 auf dem Album “The Vigil” einen mal akustischen, mal elektrisch gespielten Mix aus Corea-Klassikern und neuen Originalen. Noch im selben Jahr folgte das drei Live-CDs umfassende Album “Trilogy” mit Bassist Christian McBride und Schlagzeuger Brian Blade, für das Corea wieder mal zwei Grammys einheimste. Ganz allein war der Pianist dann 2014 auf den beiden erneut live mitgeschnittenen CDs von “Solo Piano – Portraits” zu hören, auf denen er Werke einiger Lieblingskomponisten interpretierte: von Thelonious Monk und Bill Evans über Stevie Wonder und Paco de Lucía bis hin zu Alexander Scriabin und Béla Bartók.
Ein stilistisches Chamäleon ist Corea bis heute geblieben. Und wie guter Wein ist der Pianist über die Jahre weitergereift und immer besser geworden. Ein Beleg dafür: seit dem Beginn des neuen Millenniums heimste er vierzehn (seiner insgesamt 22) Grammys und zwei Latin-Grammys ein.
Stand: April 2017