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EINE LEGENDÄRE CARMEN
Alan Blyth
Den Besuchern des Edinburgh Festival 1977 wird zweifellos jene Carmen unvergesslich bleiben, die mit Piero Faggionis bahnbrechender Regie, Claudio Abbados kraftvoller musikalischer Leitung und Teresa Berganzas sehr persönlicher Gestaltung der Titelrolle für Furore sorgte. Das relativ kleine King’s Theatre, in dem die Aufführung stattfand, hat gerade die richtige Größe für Bizets Meisterwerk, und alle Beteiligten gaben ihr Bestes. Der damalige Festivaldirektor Peter Diamand hatte diese Produktion von langer Hand vorbereitet und war nun mit Recht stolz auf seinen Erfolg.
Diamand brauchte mehrere Jahre, um Berganza zu dieser Rolle zu überreden – sie wollte die anspruchsvolle Partie nur in einer Inszenierung singen, die »mit dem verzerrten Carmen-Bild aufräumt, das dem Publikum ständig präsentiert wird«. Sie bestand auch darauf, dass das Spanien der Epoche gezeigt wird, in der die Handlung tatsächlich spielt. In einem im Programmheft abgedruckten Brief an Diamand schrieb sie: »Mérimée und Bizet hatten aufgrund ihrer eigenen Unkenntnis dieses Landes eine falsche Vorstellung, und die Kritik hat später nichts unternommen, die Irrtümer zu korrigieren.« Sie wünschte und erhielt, unterstützt von Ezio Frigerios atmosphärischem Bühnenbild, eine von allem Glamour befreite und eben deshalb absolut überzeugende Carmen.
Nach der letzten Vorstellung schrieb Harold Rosenthal, der damalige Herausgeber von Opera, in seiner Zeitschrift, dass die Produktion bereits zur Legende geworden sei und dass er das Werk auf der Bühne noch nie so hervorragend erlebt habe. Er fuhr fort: »Das war nicht nur der glänzenden sängerischen und darstellerischen Leistung der Protagonisten zu verdanken, sondern auch der brillanten musikalischen Leitung von Claudio Abbado und dem ausgezeichneten Spiel des London Symphony Orchestra, das den Vergleich mit den besten Opernorchestern der Welt nicht zu scheuen brauchte.«
Kurz darauf nahm die Deutsche Grammophon das Werk mit leicht veränderter Besetzung in Edinburgh und London auf. An der Einspielung wurde im Laufe der Jahre allenfalls kritisiert, dass sie auf der von Abbado bevorzugten, damals relativ neuen Oeser-Edition der Oper basierte. Darin sind einige umstrittene Passagen wieder eingefügt, die in Schlüsselmomenten den Fortgang der Handlung aufhalten und die Bizet vermutlich gestrichen hätte. Doch Abbados Interpretation ist darum nicht weniger überzeugend. Und natürlich verwendet er den Originaldialog statt der verfälschenden Rezitative, die Guiraud nach dem frühen Tod des Komponisten schrieb. Insgesamt ist Abbados Interpretation leichtfüßig, von südländischem Feuer und durchweg von großer musikalischer Präzision.
Berganza vertrat in dem oben zitierten Brief die Meinung, die traditionelle Carmen – eine Zigeunerin, die raffiniert ihre Reize verkauft – sei eine Beleidigung der spanischen Frauen. Sie gab der Figur einen gewissen Stolz, der auch in ihrem Gesang spürbar ist. Wie ich damals schrieb, vereint sie in ihrer Interpretation mehrere entscheidende Qualitäten: eine Präzision von Rhythmik, Dynamik und Diktion, wie sie selten in Einspielungen ihrer Kolleginnen zu hören ist (mit Sicherheit allerdings bei der ein Dutzend Jahre älteren, ebenfalls aus Spanien stammenden Victoria de los Angeles); eine subtile, nie übertriebene Entwicklung der Figur von der sorglosen Zigeunerin zur tragischen Frauengestalt; und immer wieder wird deutlich, dass Carmen mehr ist als nur eine Verführerin, wobei Teresa Berganza in den ersten Arien durchaus das sexuelle Flair der Titelheldin vermittelt. Ihre pointierte Aussprache trägt zur Leichtigkeit und Selbstironie der Darstellung bei.
Domingo nutzt bei der Arbeit mit Abbado seine Bühnenerfahrung (anders als bei seinem etwa ein Jahr zuvor unter Solti eingespielten Don José). Wie auf der Bühne stellt er einen Mann dar, der hoffnungslos seiner blinden Leidenschaft verfallen ist. Seine französische Aussprache ist zwar nicht immer ganz authentisch, doch das wird durch die Intensität der Deklamation mehr als wettgemacht, vor allem in den beiden letzten Akten, wo mitunter die kraftvollen Töne eines Otello gefordert sind.
In Edinburgh waren aus mehreren Gründen drei Sängerinnen in der Rolle der Micaëla zu hören. Ileana Cotrubas gehörte nicht zu ihnen, aber sie wurde – mit Recht, meine ich – für die Aufnahme engagiert. In ihrer charakteristischen Art gestaltet sie ein lebensvolles Porträt, das allein durch den Gesang die Verletzlichkeit des treuen Mädchens erkennen lässt. Ihre Arie der Micaëla ist von wahrhaft ergreifender Eindringlichkeit.
In der Partie des Escamillo trat der auf dem Gipfel seiner Karriere stehende Sherrill Milnes an die Stelle von Tom Krause, der den Torero in Edinburgh verkörpert hatte. Milnes’ feste Stimme betont die männliche Ausstrahlung der Figur. Yvonne Kenny war beim Festival die letzte Micaëla (sie sprang offensichtlich als zweite Besetzung ein); in den ersten Aufführungen sang sie eine lebhafte Frasquita, zu der sich wie bei der Aufnahme Alicia Nafé als Mercédès gesellte.
In meiner Rezension der Erstveröffentlichung dieser Einspielung äußerte ich die Vermutung, dass sich wohl kein Zuhörer der Zwangsläufigkeit dieses Wegs in die Katastrophe entziehen könnte, und ich bescheinigte der DG-Aufnahme einen unmittelbaren, realistischen und natürlichen Klang, der einen treffenden Eindruck von dem großen Theatererlebnis vermittelte. Auch nach 26 Jahren hat sich meine Meinung nicht geändert.
(veröffentlicht 2005)
A LEGENDARY CARMEN
Alan Blyth
Nobody who attended the 1977 Edinburgh Festival is likely to forget the frisson caused by Piero Faggioni’s revelatory staging of Carmen or by the vital conducting of Claudio Abbado or by the highly individual Carmen of Teresa Berganza. They, plus fine supporting singers, performing in the relatively intimate King’s Theatre, just the right size for Bizet’s masterpiece, gave their all. Peter Diamand, then the festival’s director, who had tried to create the conditions for such a production over a long period, was naturally proud of his coup.
It took Diamand a few years to persuade Berganza to undertake the title part – she agreed to sing the challenging role only in a staging that, in her own words, managed to “eradicate the distorted image of Carmen that has always been presented to the public”. She also insisted that the production should show the Spain of the period in which it is set. In her letter to Diamand, reprinted in the programme, she wrote: “Mérimée and Bizet were misled through their own lack of knowledge about this country [Spain], something which later criticism has done nothing to correct.” She wanted and got a de-glamorized and therefore absolutely convincing Carmen, aided by Ezio Frigerio’s atmospheric sets.
After the final evening, Harold Rosenthal – its editor at the time – wrote in Opera magazine that the performance was already legendary, and added that he had never enjoyed the work so much in the theatre. He added: “This was the result not only of some superb singing and acting on the part of the principal singers, but also of the brilliant conducting of Claudio Abbado and the superb playing of the London Symphony Orchestra, which sounded as if it were the finest opera orchestra in the world.”
Immediately afterwards, Deutsche Grammophon recorded the work, with some changes of cast, partly at Edinburgh, the remainder in London. The results have, over the years, been criticized only over the employment of the then comparatively new Oeser Edition of the opera, which Abbado espoused. This controversially restores a few passages that Bizet would probably have omitted, slightly impeding the action at key moments, but they do not detract from the conviction of Abbado’s reading. Of course, he adopted the original dialogue in preference to the corrupt recitatives written by Guiraud after the composer’s untimely death. As a whole Abbado’s interpretation is replete with Mediterranean fire and fleet in matters of execution. Musical values are constantly, meticulously observed.
Berganza, in the letter already quoted, thought that the Carmen of tradition, a gypsy flaunting her wares, was a slight on Spanish womanhood. In the theatre she suggested a certain hauteur, which is also found in her singing of the role. Her interpretation comprises, as I wrote at the time, various essential elements: a rhythmic, dynamic and textual precision, found in few of her rivals’ readings on disc (though certainly in that of her Spanish older coeval, Victoria de los Ángeles), a subtle but never over-emphatic development of Carmen’s character from carefree gypsy to tragic woman, and a constant recollection that Carmen is no mere vamp, while amply conveying in her early solos the character’s overt sexuality. Lightness of touch and self-mockery is properly enhanced throughout by her pointed enunciation of the text.
Domingo benefits from his stage experience working with Abbado (not the case in his recording of Don José under Solti, made a year or so earlier). He presents, as he did in the theatre, a man lost completely in a desperate infatuation. His French accent may not always be wholly authentic, but the intensity of his declamation offers its own rewards, especially in the final two acts, where the stentorian tones of an Otello sometimes become essential.
For various reasons, three different sopranos sang Micaëla at Edinburgh. Ileana Cotrubas was not one of them, but she was – rightly, in my opinion – called on for the recording. She suggests the faithful girl’s vulnerability through her singing alone, in a vibrantly voiced portrayal typical of all her work. Her account of Micaëla’s aria is indeed an eloquent piece of singing.
As Escamillo, Sherrill Milnes, then at the peak of his career, replaced Tom Krause, who sang the toreador at the festival. Milnes’s firm singing projects the virile attractions of the character. Yvonne Kenny, who appeared as the final Micaëla at the festival (she had obviously been covering the role), was a lively Frasquita in the other performances, where she was joined, as in the recording, by Alicia Nafé as Mercédès.
When reviewing the first issue of this set, I concluded that the listener would hardly want to stop anywhere along the route to an inevitable tragedy, and commended the DG recording for forward, truthful, natural sound, thus giving a fair copy of what was heard, so immediately, in the theatre. I see no reason, after 26 years, to alter my opinion.
(published in 2005)